Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit: Wirtschaftliche Fragen abseits politischer Blockbildung

Von Haiyun Ma (Frostburg State University)

Das 22. Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), das dieses Jahr am 15. und 16. September in Samarkand (Usbekistan) stattfand, markierte einen Wendepunkt: Während die Organisation bisher von einer gemeinsamen chinesisch-russischen Dominanz geprägt war, hat China nun eine stärkere Führungsrolle übernommen. Wie der usbekische Präsident Schawkat Mirsijojew in einem Artikel für die chinesische staatliche Zeitung Global Times schrieb, fiel das Gipfeltreffen in eine Zeit historischer Umbrüche, in der die Gefahren internationaler Entkopplung, Blockbildung und geopolitischer Konfrontation größer werden.

Vor dem Hintergrund von globalen Konflikten und politischen Zerwürfnissen steht die Tatsache, dass der Gipfel in der historischen Stadt Samarkand abgehalten wurde, für den Versuch, wieder an ältere Formen von Austausch und Kooperation anzuknüpfen. Der usbekische Präsident Schawkat Mirsijojew brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass der Gipfel von Samarkand, nicht nur innerhalb der SOZ, als Ausgangspunkt für ein grundlegend neues Format der internationalen Interaktion dienen könne.

Mirsijojews Rede von einem »historischen Umbruch« dient als Erinnerung an regionale Machtdynamiken und die Entstehung neuer politischer Zusammenschlüsse seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Als Nachfolger der Sowjetunion trug die Russische Föderation durch die Initiierung einer Vielzahl von Zusammenschlüssen wie der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) maßgeblich zur Reorganisation der geopolitischen Verhältnisse in Zentralasien und dem weiteren postsowjetischen Raum bei. Allerdings haben diese Zusammenschlüsse weder Frieden noch Wohlstand gebracht, während Konflikte die Beziehungen zwischen zahlreichen aktuellen und ehemaligen GUS-Mitgliedern bestimmen: Russland ist in die Ukraine einmarschiert, Aserbaidschan und Armenien führen Krieg um umstrittenes Territorium und zwischen Tadschikistan und Kirgistan flammen immer wieder Grenzkonflikte auf. Die von Mythen umrankte EAWU existiert hauptsächlich auf dem Papier und die OVKS hat zuletzt im Jahr 2012 mit Usbekistan ein Mitglied verloren, während sich die Organisation weder unter ihren sechs verbliebenen Mitgliedsstaaten noch darüber hinaus je großer Beliebtheit erfreut hat. So hat Armenien die OVKS zwar wiederholt gebeten, im Konflikt mit Aserbaidschan zu intervenieren, doch nur beschwichtigende Antworten erhalten, die diplomatische Verhandlungen und eine friedliche Lösung mit Aserbaidschan anmahnen. In diesen Antworten spiegeln sich womöglich Sorgen vor einem Konflikt mit der Türkei und der Organisation der Turkstaaten, die im Südkaukasus und in Zentralasien zunehmend an Einfluss gewinnen.

Die von Russland dominierten eurasischen Zusammenschlüsse durchlaufen seitdem eine schrittweise Schwächung bis hin zu ersten Anzeichen von Desintegration. Die russische Invasion der Ukraine und daraufhin gegen Russland verhängte Sanktionen haben diese Prozesse weiter beschleunigt und zur Komplizierung regionaler Machtdynamiken beigetragen. Drei von fünf zentralasiatischen Staaten enthielten sich bei der Abstimmung der UN-Vollversammlung über die Annahme einer Resolution zur Verurteilung des russischen Überfalls auf die Ukraine, während Usbekistan und Turkmenistan einfach fernblieben, unmissverständliche Formen einer indirekten Kritik am russischen Neoimperialismus, der auch Zentralasien betrifft. Russlands Krieg in der Ukraine und vom Kreml unternommene Versuche zur Einschüchterung weiterer Länder haben die zentralasiatischen Staaten veranlasst, ihre historischen Verbindungen mit der Türkei zu erneuern als auch die Zusammenarbeit mit China und der SOZ zu intensivieren.

Laut Mirsijojew hat es die von China angeführte SOZ vermocht, Länder mit unterschiedlichen kulturellen und zivilisatorischen Codes, außenpolitischen Richtlinien und nationalen Entwicklungsmodellen zusammenzubringen, weshalb die Organisation für ihn als Vorbild erfolgreicher regionaler Zusammenarbeit den »Geist von Samarkand« verkörpert, einer seit der Antike für ihre wirtschaftlichen und kulturellen Austauschbeziehungen bekannten Stadt, die exemplarisch für internationale Vernetzung und Kooperation steht. Auch der chinesische Präsident Xi Jinping hat mit dem Verweis auf den »Geist von Samarkand« während seiner Ansprache an das Gipfeltreffen eine rhetorische Verknüpfung zwischen antiker Seidenstraße und SOZ vorgenommen. »Samarkand«, so Xi Jinping, sei »bekannt als die Perle der Seidenstraße, erlebte den Glanz der antiken Seidenstraße, einer Route, die den Transport von Gütern, die Verbreitung von Wissenschaft und Technologie, die Interaktion von Ideen und die Integration verschiedener Kulturen auf dem eurasischen Kontinent entscheidend vorangebracht hat. Für uns, die Mitgliedsstaaten der SOZ, ist die antike Seidenstraße in unserem Streben nach Frieden und Entwicklung in der Tat bis heute eine historische Inspirationsquelle.« Ein Meinungsbeitrag der Redaktion von Global Times vergleicht den »Geist von Samarkand« mit dem »Geist von Shanghai«, der demnach eine Reihe von neuen Konzepten, Modellen und Normen umfasse, auf deren Grundlage in einer Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges ein gleichberechtigtes Zusammenleben, multilaterale Mechanismen der Zusammenarbeit und eine Weiterentwicklung der globalen Ordnung gedacht werden können.

Aus Sicht des chinesischen Präsidenten entwickelt sich die SOZ zu einer konstruktiven Kraft im eurasischen Raum, die Stabilität, Entwicklung, Respekt und Gerechtigkeit fördert – ganz im Gegensatz zum russischen Überfall auf die Ukraine und der dadurch ausgelösten Instabilität. Sowohl Mirsijojew als auch Xi haben versucht, die SOZ in ihren Ansprachen als eine offene, inklusive, blockfreie und multilaterale Institution darzustellen, die als elementarer politischer und wirtschaftlicher Bestandteil einer globalisierten Welt nicht zu einem bloßen geopolitischen Werkzeug eurasischer Großmächte gemacht werden könne. Tatsächlich ist die SOZ nur schwer mit den meisten anderen regionalen Organisationen oder Formaten wie den zuvor genannten Zusammenschlüssen unter russischer Führung, der Europäischen Union, der Organisation der Turkstaaten, der Organisation für Islamische Zusammenarbeit oder dem Quadrilateralen Sicherheitsdialog (QUAD) vergleichbar, da diese an und durch geographische, ethnische, religiöse oder ideologische Faktoren gebunden sind. In dieser Alleinstellung der SOZ liegt auch die Erklärung dafür, warum sogar rivalisierende Länder, wie Aserbaidschan und Armenien, Indien und Pakistan, China und Indien, Iran und Saudi-Arabien, in der Rolle als Vollmitglieder oder Dialogpartner zusammen an den Gipfeltreffen der Organisation teilnehmen.

Der blockfreie Charakter der SOZ begünstigt die Intensivierung innereurasischer Handelsbeziehungen und den Ausbau transkontinentaler Konnektivität. Mit dem Bau von Eisenbahnen, Straßen und anderen Transportsystemen trägt China zur Vernetzung des Kontinentes in ost-westlicher Richtung bei, u. a. durch den Eisenbahnkorridor von China über Kasachstan und Turkmenistan in den Iran. Eine weitere Zugstrecke ist zwischen dem Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang, Kirgistan und Usbekistan geplant. Mit dem Russland–Aserbaidschan–Iran–Indien-Korridor (International North-South Transport Corridor, INSTC) oder dem chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridors (China–Pakistan Economic Corridor, CPEC) sind Mitglieder und Partner der SOZ auch am Ausbau der Nord-Süd-Konnektivität beteiligt. Die SOZ steht dabei für eine Vision, nach der wechselseitige Vernetzung in Form von Handelsbeziehungen nicht nur den geopolitischen Wettbewerb zwischen Großmächten entschärft, sondern auch zur Sicherheit der Region an sich beiträgt. Hierfür beispielhaft ist das Projekt einer geplanten Zugverbindung zwischen Termez, Masar-e Scharif, Kabul und Peschawar, das nicht nur von den direkt involvierten Staaten Usbekistan, Afghanistan und Pakistan vorangetrieben wird, sondern auch vom Zuspruch weiterer Mitglieder und Partner der SOZ lebt.

Bei der SOZ, die sich als blockfreie Organisation vor allem auf wirtschaftliche Fragen konzentriert, lässt sich die Frage nach der Effizienz nicht in derselben Weise stellen wie bei konventionelleren Zusammenschlüssen. An den Maßstäben anderer regionaler Organisationen oder Formate wie der EU oder QUAD gemessen erscheint die SOZ mehr wie ein »Teehaus« (chaykhana), wo in multilateraler Runde zumeist bilaterale Formen der Kooperation entstehen. Allerdings sind es genau dieser wirtschafts- und handelsfokussierte, blockfreie Charakter und die vermeintliche politische »Ineffizienz« der SOZ, die einen Beitritt für viele Länder attraktiv machen, die sich davon ökonomische als auch prestigebezogene Zugewinne versprechen.

Aus dem Englischen von Armin Wolking

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