Der russisch-ukrainische Krieg und die Zukunft Europas

Von Petro Burkovskyi (Stiftung Demokratische Initiativen, Kyjiw)

Beim russisch-ukrainischen Krieg, der 2014 begann, handelt es sich um einen europäischen Krieg. Dies ist kein Krieg zwischen der ukrainischen und der russischen Regierung um die Kontrolle über ein bestimmtes Gebiet, wie es die europäische Presse und Diplomatie in den vergangenen acht Jahren oft darstellen wollte. Kyjiw und Moskau haben völlig unterschiedliche Ziele.

Die Ukraine kämpft um ihr Überleben und das Recht, sowohl der Europäischen Union als auch der NATO beizutreten. Russland kämpft für das Recht, die Grenzen dieser beiden Organisationen und den Umfang der nationalen Souveränität der meisten ihrer Mitgliedstaaten festzulegen.

Zum aktuellen Zeitpunkt bleibt der zukünftige Verlauf des Krieges ungewiss. Sicher ist nur, dass dies der letzte Krieg für die Ukraine, Russland und Europa in ihrem gegenwärtigen Zustand ist.

Ich denke, dass es keinen Sinn mehr macht Ziele und Handlungen der russischen Führung im Rahmen der Logik der »Eskalation – Deeskalation« zu betrachten, wenn es nach den Kämpfen an der Zeit ist, die Ergebnisse zusammenzufassen, Verluste zu erfassen, und Erfolge zu konsolidieren.

Tatsächlich benutzt Wladimir Putin Gewalt und Krieg, um seine Fehler und Fehleinschätzungen zu verbergen. Der Kreml erlitt eine Niederlage durch die ukrainische Revolution der Würde 2014 und versuchte, durch »hybride Interventionen« auf der Krim, im Donbas, in Charkiw und in Odesa einen Bürgerkrieg in der Ukraine zu provozieren. Der Ukraine gelang es jedoch zu überleben und ihren Weg weiter Richtung Europa fortzusetzen.

Durch die Invasion am 24. Februar 2022 versuchte Putin, das Scheitern seiner Politik der letzten acht Jahre zu verbergen. Und jetzt, nach einer militärischen Katastrophe in der Ukraine, wird Europa vom Kreml offen mit Raketenangriffen, einem plötzlichen Stopp der Öl- und Gaslieferungen und schließlich dem Einsatz von Atomwaffen bedroht.

War Putins Kalkül von Anfang an falsch? Schließlich sah sich die Ukraine 2014 der russischen Bedrohung allein gegenüber. Von den USA, die am meisten von der nuklearen Abrüstung der Ukraine in den Jahren 1991–1994 profitierten, wurde die erwartete Unterstützung nicht geleistet. Später, im Jahr 2016, räumte Präsident Obama aufrichtig ein, dass die Politik seiner Regierung auf der »Tatsache« basierte, dass die Ukraine für Russland »wichtiger« sei als für den Westen/Amerika. Mit anderen Worten haben die USA Russlands »Recht« auf die Kontrolle über die Ukraine anerkannt. So ist es nicht verwunderlich, dass die gleiche Meinung von wichtigen europäischen Staaten geteilt wurde, genauer gesagt von den Eliten, die damals an der Macht waren.

Ich persönlich hatte die Gelegenheit, mich davon im Mai 2014 bei einem Gespräch mit der stellvertretenden Leiterin der Abteilung Außenpolitik im Kanzleramt von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu überzeugen. Die direkte Frage, ob Deutschland Waffen an die Ukraine liefern würde, um sich vor einer russischen Aggression zu schützen, wurde verneint und erklärt, dass Russland die Ukraine nicht angreifen werde.

Der Kreml mag gehofft haben, dass der Schock und die Unberechenbarkeit des Krieges Europa zwingen würden, seine Aggressionspolitik zu ignorieren und die Ukraine ihm zu überlassen. Die Berichte ukrainischer Diplomaten über Gespräche mit europäischen Politikern in den ersten Kriegsstunden beweisen, dass diese Hoffnungen nicht ganz falsch waren und offensichtlich nicht nur ein Produkt der Einbildung, sondern auch eine Folge von Putins Kommunikation mit führenden europäischen Politikern waren. Es ist durchaus möglich, dass dies der »Preis« war, den europäische Eliten bereit waren zu zahlen, damit die russische Aggression die Außengrenzen der NATO nicht überschreitet und eine Lücke für das Narrativ von Russlands »Zugehörigkeit zu Europa« offen lässt.

Doch 2022 ist alles anders.

Der Krieg verlief aus drei Gründen nicht nach Putins Wünschen. Die Ukraine stand der russischen Aggression im historischen Vergleich in der besten Positionen gegenüber. Erstens verfügte das Land bereits über reguläre Streitkräfte, die in Kämpfen mit dem Feind erprobt waren und über Reservisten von hoher Qualität. Zweitens befand sich die Ukraine erstmals im Kreis von Verbündeten, von denen es dank diplomatischer Arbeit mehrere Dutzend gibt. Die westlichen Nachbarn nehmen Millionen von ukrainischen Flüchtlingen auf, und die G7-Länder leisten wirtschaftliche Unterstützung. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und NATO-Staaten liefern Waffen. Gemeinsam verhängen sie Wirtschaftssanktionen und isolieren Russland langsam von der zivilisierten Welt. Drittens vereinte sich die ukrainische Gesellschaft in der Stunde der größten Gefahr und war sich des Preises bewusst, der für die Freiheit zu zahlen war.

So werden vor unseren Augen auf Kosten der großen und irreversiblen Verluste der Ukraine europäische Illusionen über Russlands »europäische Zugehörigkeit« zerstört. Das ist der größte Verlust für den Kreml, denn diese Illusionen wurden seit Jahrzehnten gehegt.

Jetzt verwandelt sich dieser Kulturschock allmählich, aber unaufhaltsam in Widerstand gegen die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Grundlagen des offenen und verdeckten russischen Einflusses und der Präsenz in Europa.

Da der Krieg für uns Ukrainer nicht in Tagen gemessen wird, sondern in durch den Krieg zerstörtem Leben, ist es für uns schwer zu hören, wie europäische, insbesondere deutsche, österreichische und ungarische Politiker den Krieg in Euro, Prozentsätzen des BIP, Barrel Öl und Kubikmetern Gas messen. Vor dieser Invasion konnten jedoch die meisten anderen europäischen Politiker, beim Versuch den Weg zum Kreml zu ebnen, mit ihnen konkurrieren. Die gesamte Europäische Union ist dafür verantwortlich, dass bei Wladimir Putin den Eindruck entstand, dass das »goldene Zeitalter« des russischen Zarenreiches der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückkehrt, als Russland ein wichtiger Teil des »europäischen Konzerts« der Großmächte war und sogar über ein Vetorecht verfügte.

Diese Ära endete für das Russische Reich mit der Katastrophe des Krimkriegs. Die Chimäre von Putins Imperium zerschellt am Widerstand der Verteidiger von Mariupol, Kyjiw, Charkiw, Sumy, Wosnesensk, Mykolayiv und Hunderten anderer ukrainischer Städte und Dörfer, in denen der Widerstand gegen die Invasoren andauert. Das Narrativ von »Russland in Europa« wurde angesichts der Gräber in Butscha zu einem Urteil über alle Politiker und Wissenschaftler, die es so hartnäckig vertreten und verteidigt hatten.

Besonders kränkend ist, dass die Politiker jener Staaten, mit denen die Ukraine vom Spätmittelalter bis heute eng kulturell und wirtschaftlich verbunden ist, an diesen Illusionen festhalten. Im November 2021, als die Stiftung Demokratische Initiativen zusammen mit dem Institute for Central European Strategy eine Umfrage zur Wahrnehmung der Staaten Mitteleuropas durch die ukrainische Bevölkerung durchführte (https://dif.org.ua/en/article/ukraine-as-part-central-europe-what-ukrainians-think-about-it), belegten Deutschland und Österreich die vorderen Plätze. Der Respekt vor der deutschen Ordnung, der guten Organisation der Wirtschaft und des lokalen Lebens und die Dankbarkeit gegenüber den einfachen Deutschen, die jetzt ukrainische Flüchtlinge im Moment der größten Not aufgenommen haben, werden bestehen bleiben und gestärkt werden. Niemand in Kyjiw wird jedoch den Verrat vergessen, den deutsche, österreichische und ungarische Politiker an ihren eigenen »christlichen«, »konservativen« und »sozialdemokratischen« Werten begangen haben, um dem Kreml zu gefallen.

Berlin hat seine führende Rolle in Europa verloren und nicht nur in den Augen der Ukrainer. Somit stehen der EU schwierige Zeiten bevor. Es ist uns wichtig, nicht die Schwäche Deutschlands auszunutzen, sondern die Wege und Ziele aufzuzeigen, die Europa vereinen und Berlin eine Chance geben würden, sich für die Fehler der vergangenen 20 Jahre zu rehabilitieren.

Die Ukrainer haben das Recht, Europa ein Projekt zur Vereinigung von NATO- und EU-Mechanismen vorzuschlagen. Die neue Staatenunion wird nur jene Länder umfassen, die sich bereit erklären, die Last der Verteidigung zu teilen und die Errungenschaften der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung zu teilen.

Es ist sowohl schwierig als auch einfach. Es ist einfach, weil das Ziel bekannt ist: Nach den Schocks des Zweiten Weltkriegs schufen die Europäer Allianzen für einen gemeinsamen Markt und für Atomenergie, ein kollektives Sicherheitssystem, eine gemeinsame Währung und einen freien Raum für den Austausch von Menschen, Kapital und Wissen. Es ist schwierig, weil die neue russische Aggression bewiesen hat, dass die wirtschaftliche Entwicklung untrennbar mit Fragen der kollektiven Sicherheit verbunden ist und dass die Demokratie nicht durch Kompromisse mit autoritären und totalitären Regimen verteidigt werden kann.

Während der zwei Kriegsmonate hat der Kreml angesichts starker westlicher Entscheidungen seine fehlende Bereitschaft und Unentschlossenheit gezeigt. Niemand in Russland glaubte, dass die Hälfte der Zentralbankreserven eingefroren und die Versorgung mit hochentwickelter Elektronik ganz eingestellt würde, wodurch nicht nur die zivile Luftfahrt, sondern auch viele Schlüsselunternehmen im militärisch-industriellen Komplex lahmgelegt wurden.

Russische Truppen werden sich schnell aus der Ukraine zurückziehen, wenn die NATO die Einführung einer Flugverbotszone über der Ukraine ankündigt und beschließt, die Ukraine zusammen mit Schweden und Finnland in ihre Reihen aufzunehmen. Der Kreml wird seine Aggression stoppen müssen, um eine Niederlage durch die NATO auf dem Schlachtfeld in der Ukraine zu vermeiden. Dies garantiert nicht die Befreiung aller besetzten ukrainischen Gebiete, aber es gibt uns die Chance, den verheerenden Krieg zu beenden und Europa die Chance, eine Konfrontation mit Putin nach einem für ihn geeigneten Szenario zu vermeiden.

Ein zukünftiges Nachkriegseuropa ist ohne einen Gerichtsprozess gegen russische Kriegsverbrecher kaum vorstellbar. Und dieses Gericht ist ohne allgemeine nukleare Abrüstung schwer vorstellbar. Warum brauchen wir Waffen für Angriff und Verteidigung, wenn die modernen Staaten durch tierische Angst gebunden sind und nicht in der Lage sind, das Gute vor dem Bösen zu schützen? Bedeutet nicht Putins Straflosigkeit, geschützt durch die Angst vor totaler Zerstörung, dass diese Zerstörung bereits vor unseren Augen stattfindet? Und dass es »nach Butscha« keine Schutzmaßnahmen gegen den nuklearen Winter gibt, außer der Entschlossenheit und dem Mut der Ukrainer, die den Kreml-Diktator herausfordern? Ich möchte hoffen, dass der Mut der Ukrainer im Bündnis mit den europäischen Nationen den Kontinent vor einer Katastrophe bewahren wird.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Lina Pleines

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Kommentar

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