Deutschlands Selbstbild – ein Kollateralschaden des Krieges?

Von Andreas Heinemann-Grüder (Universität Bonn und Bonn International Centre for Conflict Studies)

Das Weltbild der deutschen Politik der letzten gut fünfzig Jahre bricht mit Putins Krieg gegen die Ukraine zusammen. Zwar muteten die Rechtfertigungen von partnerschaftlichen Sonderbeziehungen zu Russland in den letzten Jahren immer bizarrer an – um sich von eigenen Glaubenssätzen und Wunschvorstellungen zu verabschieden, bedurfte es jedoch erst der Eindeutigkeit des Krieges. Als die Partei Die Grünen im Juni 2021 einen Antrag im Bundestag für einen Kurswechsel in der deutschen Russlandpolitik einbrachte, wurde die Vorlage bei direkter Abstimmung mit der Mehrheit von CDU/CSU, SPD, AfD und Die Linke gegen das Votum von Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der FDP zurückgewiesen. Putins Regime sollte auf keinen Fall durch Kritik brüskiert werden, weil dies ja zu Krieg führen und die Geschäfte schädigen könne. Über die Beschwichtigungspolitik herrschte, inklusive der Grünen, die der Ukraine bis zum Krieg auch keine Waffen zur Selbstverteidigung liefern wollten, parteiübergreifend Konsens. Das Selbstverständnis deutscher Politik bis zum Krieg lässt sich in drei Formeln zusammenfassen: »Nie wieder Krieg mit Russland, auch wenn dessen Opfer allein stehen«, »Werte sind schön, Wirtschaftsinteressen sind wichtiger« und »Im Kriegsfall – ohne mich«.

Im Mai 2021, also vor einem Jahr, schrieben Nikolay Mitrokhin und ich in der Zeitschrift Osteuropa: »Die Politik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Russland bedarf einer grundsätzlichen Neuausrichtung, die von einer klaren Definition der eigenen Prioritäten, der Gewissheit über die eigenen Werte und einem illusionslosen Verständnis des autoritären Charakters des politischen Systems Russlands ausgeht. Das russische Regime ist Rivale im neuen Systemwettbewerb, ein Sicherheitsrisiko und eine Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Deutsche Russlandpolitik muss die Widerstandsfähigkeit gegen antidemokratische Einflussnahme in Deutschland und der EU stärken, die Sicherheit im östlichen Europa schützen, für die Freiheit der Wahl des politischen Systems und des außen- und sicherheitspolitischen Bündnisses der Nachbarstaaten eintreten und jenen tatkräftig beistehen, die Opfer von Repression werden.« Der Appell blieb ohne jede Resonanz.

Die deutsche Ostpolitik hatte sich immer von einem vermeintlichen Realismus leiten lassen, nämlich der Möglichkeit eines Ausgleichs zwischen Systemen unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Die deutsche Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion und später Russland gründete auf dem Glauben an die eigene »Zivilmacht«, auf Geschäftsinteressen, die mit »Wandel durch Handel« verbrämt wurden, auf der Bevorzugung Russlands gegenüber den übrigen Opfern des Nazismus und einem Ressentiment gegenüber den USA unter den Linken, den Sozialdemokraten, Teilen der CDU und bei der extremen Rechten. Russland stand, ungeachtet der Radikalisierung seiner Autokratie, für die Möglichkeit einer Konvergenz der Systeme. Letztlich leitete die deutsche Russlandpolitik jedoch fast nur noch ein Stockholm-Syndrom. Würde man Putin nicht durch Militärmanöver, Waffenlieferungen an die Ukraine oder Sanktionen provozieren, so würde er sich schon entspannen und zähmen lassen.

Deutschlands Selbstbild gründete auf dem Rollenverständnis als Brückenbauer zwischen den widerborstigen, leider russlandkritischen, Osteuropäern und dem Kreml, zwischen den bellizistischen USA und einem traumatisierten Russland. Deutsche Politik empfahl sich als Mediator zwischen den emotionsgeladenen Akteuren, so als ob Deutschland jenseits der Konflikte stünde, gleichsam von einer höheren Friedenswarte. Über den Beitrag, den Deutschland damit zur Ermöglichung des Putinismus geleistet hat, werden sich Historiker noch ebenso streiten wie über die Warnsignale, die aufgrund der Verfangenheit in Wunschdenken übersehen wurden. Die früheren Entspannungspolitiker fühlen sich derzeit desavouiert, sie sind mit Amnesie, Selbstabsolution und der Abwehr von Anwürfen aus der Ukraine befasst. Die zögerlichen, stets nur auf äußeren Druck erfolgenden, Waffenlieferungen an die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 haben das »Gschmäckle« von Ablasshandel.

Der Krieg zerstört endgültig die Illusionen deutscher Politik. Aus der vermeintlich »schwierigen Partnerschaft« mit Putins Russland ist eine Auseinandersetzung geworden, die nicht auf Missverständnissen, Kommunikationsfehlern oder mangelnder Berücksichtigung legitimer Sicherheitsinteressen Russlands beruht, sondern auf einem Systemantagonismus, nämlich der Unversöhnlichkeit von Imperialismus und Völkerrecht, von Diktatur und Demokratie, von liberalen und faschistoiden Werten. Mit einem Regime, dass periodisch mit dem Einsatz von Atomwaffen droht, um den Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ungestört führen zu können, gibt es keinen »kalten Krieg«, sondern einen Antagonismus auf Leben und Tod. Putin ist eine Gefahr für den Weltfrieden. Mit Putins Regime wird es deshalb bestenfalls Waffenstillstände, aber keinen Frieden in Europa mehr geben. Das russische Regime ist strukturell nicht friedensfähig, von daher wird es Frieden in Europa erst dem Ende des Putinschen Regimes geben. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung wird wiederum ihre Loyalität gegenüber ihrem Führer Putin erst infolge einer Niederlage und der folgenden Katharsis aufgeben.

Die russisch-kontrollierte Welt und das übrige Europa werden dauerhaft gespalten sein. Der Krieg verändert Europa – wirtschaftlich durch die Abkopplung von der Erpressbarkeit durch russische Energielieferungen, politisch durch die Bekräftigung der Wertegemeinschaft Europas angesichts der russischen Gefahr und sicherheitspolitisch durch die bleibende Abhängigkeit von den Sicherheitsgarantien der USA (anstelle »strategischer Autonomie« der EU). Ohne die NATO gibt es keine Sicherheit in Europa. Das Endspiel für das Geschäftsmodell des russischen Petro-Staates hat begonnen. Wie auch immer der Ukrainekrieg endet, Russland wird geschwächt aus ihm hervorgehen, damit wird auch der künftige Einfluss Russlands im postsowjetischen Raum (und darüber hinaus) durch China, die Türkei, den Iran, die USA und die EU geschmälert.

Deutschland büßt nicht nur sein Rollenbild als Brückenbauer zwischen Ost und West ein, sondern auch seine Führungsmacht innerhalb der EU. Der desaströse Mangel an strategischer Vorausschau, die Beschwichtigungspolitik gegenüber Putin und das Zögern und Zaudern nach dem 24. Februar haben Deutschlands »soft power« nachhaltigen Schaden zugefügt. An die Stelle der vermeintlichen Äquidistanz und Gleichgewichtspolitik gegenüber den Großmächten tritt das, was man im Englischen »bandwaggoning« nennt. Deutschland mutiert nach der Ära Merkel vom Krisenmanager, d. h. diplomatischen Verwalter des Status quo in den Beziehungen zu Russland und innerhalb der EU, zum Mitläufer. Deutschland bestimmt mit der gegenwärtigen Koalitionsregierung nicht mehr die Agenda, weshalb die gegenwärtige Regierung nur ein Zwischenspiel sein mag.

Die vorläufigen Lehren aus dem Krieg? Autokratien wie das Putinsche Regime bewegen sich von begrenzten zu absoluten, nicht verhandelbaren Zielen. Appeasement schwächt demokratische Gesellschaften, Demokratie muss deshalb wehrhaft sein, nach außen wie nach innen. Die Wirtschaft lässt sich nicht von der Politik trennen, die Assoziierungspolitik der EU und Nordstream I und NordStream II waren von daher schon immer politisch. Ein Diktator wie Putin ist kein homo economicus, der die Politik der wirtschaftlichen Nutzenmaximierung unterordnet, für ihn ist Politik Krieg. Die Kriegsgefahr wird deshalb nicht durch Pazifismus gemindert. Ein diktatorischer Gegner wie Russland preist vielmehr rosarote Linien als Schwäche ein, versteht aber die Sprache roter Linien, wenn sie deutlich markiert sind. Die deutsche Bevölkerung muss auf das Ausmaß der Gefahr, die von Putins Regime ausgeht, auf Einschnitte und entschiedene Maßnahmen vorbereiten werden.

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