Frieden und Sicherheit für die Ukraine und Europa entstehen nicht am Reißbrett des Westens

Von Cindy Wittke (Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg)

Liebe westeuropäische Intellektuelle: Ihr habt keine Ahnung von Russland“ lautet die Überschrift eines Artikels von Szczepan Twardoch in der Neuen Zürcher Zeitung. Im Untertitel folgt sogleich die nächste Provokation: „Niemand im Westen kann verstehen, was es heißt, im russischen Machtbereich leben zu müssen.“ Twardoch hält den „Westplainern“ einen Spiegel entgegen. Das reflektierte Bild ist nicht schmeichelhaft. Manche mögen sagen, es sei zu sehr verzerrt. Sich abzuwenden wäre aber falsch. Twardochs Anliegen ist nicht das einer Einzelstimme.

Wenn die Ukraine auf der Agenda ist, muss die Ukraine am Tisch sitzen

Was haben diese Einlassungen mit Deutschland und dem Krieg zu tun? – Viel, denn alle Diskussionen um Strategien für Freiheit, Frieden und Sicherheit für Deutschland sowie den europäischen Kontinent sind seit dem 24. Februar 2022 eng mit dem Verlauf des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und parallel stattfindender Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien verknüpft. Debatten im „Westen“, wie diese zu einem Friedensabkommen für die Ukraine führen können, wirken dabei wie ein Brennglas für das Ringen nicht nur um die staatliche Souveränität der Ukraine, sondern auch eine ‚intellektuelle Selbstbestimmung‘ der Ukrainer*innen. Diskussionen über diese Verhandlungen ist zuweilen die Tendenz eigen, die Subjektivität der Ukraine – als Staat und Verhandlungspartei – in den Hintergrund zu verschieben. Sie weicht Perspektiven und Argumentationen mit einem – unbestreitbar berechtigten – Fokus auf internationalisierten Konfliktregulierung zwischen dem Westen und Russland. Die Ukraine wird dabei zum Ort und Objekt von Verhandlungs- und Sicherheitsstrategien und dem vielzitierten „End Game“.

Die Ukraine als Objekt, statt als Subjekt von Verhandlungen zu betrachten ist kein unbekanntes Muster der deutschen und internationalen Sicherheitspolitik. Es geht mit der gefährlichen Tendenz einher, Russlands „Nahes Ausland“ im westlichen politischen und auch wissenschaftlichen Diskurs letztlich zur „Pufferzone“ zu machen. Dieses Muster war auch im Zuge der Annexion der Krim und des bewaffneten Konflikts in der östlichen Ukraine in den zurückliegenden acht Jahren zu beobachten, und nicht zuletzt im Rahmen der Verhandlungen angesichts der Konzentration russischer Truppen an der russisch-ukrainischen und belarussisch-ukrainischen Grenze im vergangenen Winter. Daran ändert auch wenig, dass noch im Dezember 2021 ein sicherheitspolitischer Sprecher im Weißen Haus hinsichtlich internationaler Verhandlungen zwischen Russland, den USA und den NATO-Partnern betonte: „if Ukraine is on the agenda, then Ukraine is at the table“.

Wer stabile Brücken bauen will, muss auch den Abgrund vermessen

Es ist eine begrüßenswerte Entwicklung, dass zunehmend ukrainische Wissenschaftler*innen und auch Vertreter*innen von Medien und Zivilgesellschaft zu Wort kommen, wenn es um den Krieg gegen die Ukraine geht. Dabei geht es nicht etwa um eine Quote oder darum, dass nur Ukrainer*innen über die Ukraine, den Krieg oder einen Frieden qualifiziert sprechen könnten. Es geht vielmehr um immanent wichtige Fragen von Partizipation sowie um Wissenshierarchien und -austausch. Ukrainischen Expert*innen, von denen einige geflüchtet sind und andere sich noch im Land aufhalten, sowie ihre Netzwerke sind eine wichtige Ressource, wenn es darum geht, realistische Szenarien für Friedensverhandlungen und Abkommen und auch für Transitional Justice zu entwickeln.

Die konsequente Gegenfrage ist nun natürlich, ob Gleiches nicht auch für russische Wissenschaftler*innen und Jurist*innen gelten sollte. Bereits seit der Annexion der Krim und dem Ausbruch des Kriegs im Donbas 2014 war zum Beispiel der Austausch mit russischen Rechts- und Politikwissenschaftler*innen schwierig; vor allem, wenn auch differenzierte Stimmen zu Wort kommen sollten. So durfte die illegale Annexion der Krim in Russland nicht als solche öffentlich benannt werden. Seither wird immer wieder darüber diskutiert, ob und wie zum Beispiel Völkerrechtler*innen inzwischen weitgehend der Kreml-Linie folgen, Differenzierungen und Varianten aus Argumentationslinien und Debatten verschwinden, und der russischen Ansatz zum Völkerrecht gar revisionistisch geworden ist. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat nun jegliche Formen des offiziellen (und auch informellen) direkten Austausch nochmals erschwert. Wie spricht man über die Beendigung eines Angriffskriegs, der in Russland nicht einmal „Krieg“ genannt werden darf? Welche wissenschaftlichen Gesprächspartner*innen ließen sich noch finden angesichts der Tatsache, dass die Rektor*innen der führenden staatlich finanzierten russischen Universitäten eine gemeinsame Stellungnahme unterschrieben haben, die Präsident Putin und sein Vorgehen unterstützt? Konferenzreisen ins Ausland und finanzielle und Status-Anreize für internationale Publikationen im werden im Bewertungssystem der russischen Universitäten heruntergefahren.

Wer aufgrund der aktuellen Lage zum Beispiel russische Jurist*innen nicht für einen direkten Dialog gewinnen kann oder auch will, muss ihre Beiträge – sofern möglich – neben den offiziellen Stellungnahmen staatlicher Institutionen und Medien aufmerksam lesen und in Kontext setzen, u.U. gemeinsam mit russischen Wissenschaftler*innen, die Russland bereits verlassen haben oder im Begriff sind, dies zu tun. Denn gerade die Auseinandersetzung mit der Expertise der Expert*innen der Verhandlungsparteien offenbart die realen Schwierigkeiten und die Herausforderungen für einen darauf abgestimmten Pragmatismus. Wer Brücken zwischen den Konflikt-Parteien bauen will, sollte frühzeitig beginnen, das Ausmaß des entstandenen Abgrunds zwischen den Interessen und Positionen – auch der Expert*innen – genau zu vermessen.

Russland – (k)ein Rätsel, Mysterium oder Enigma

Es sei aber gewarnt, nicht in überholte Muster zu verfallen: der Kreml ist nicht voller Raumtheoretiker und ‚Schmittianer‘ und auch nicht voller beleidigter Geopolitiker mit einer „Russian Angst“-Neurose vor der Erweiterung der NATO. Der russische Staat unter der aktuellen Führung produziert und assimiliert Konzepte und Ideen, die seiner tatsächlichen oder angestrebten Stellung und Zielen innerhalb der regionalen und globalen Ordnung entsprechen. Rechtliche und politische Konzepte in Bezug auf Raum, Souveränität, territoriale Grenzen und Staatsbürgerschaft sind dabei zentrale Themen. Weltbilder und Theorien werden eklektisch verbunden und bilden immer weitere Schichten von politischer Agenda, Pseudo-Ideologie, „Whataboutism“, Populismus und Propaganda und verbinden sich zu einem geschlossenen und kohärenten machtpragmatischen System, das seine Handlungs- und Aggressionsbereitschaft spätestens seit dem russisch-georgischen Krieg 2008 wiederholt unter Beweis gestellt hat.

Einstein sagte einmal, es sei härter, ein Vorurteil zu spalten als ein Atom; die Verhandlungsposition Russlands wird noch schwerer zu knacken sein. Dies gilt vor allem, wenn man sich warnend vor Augen führt, dass die „Entnazifizierung“ der Ukraine nun im öffentlichen Diskurs lanciert einen hässlichen Zwilling bekommen hat, die Idee der „Entukrainisierung“ der Ukraine. Der RIA-Novosti-Artikel, der diese Idee darlegt, trägt den vielsagenden Titel: Что Россия должна сделать с Украиной (Was Russland mit der Ukraine tun sollte).

Wer immer also am finalen Verhandlungstisch Platz nimmt, muss sich der Verantwortung bewusst sein, die die Formulierung dieses Friedensabkommens für die Ukraine, Europa und letztlich global mit sich bringt. Ja, Verhandlungen müssen weitergeführt werden, aber es bedarf aller Expertise; denn Russland kommt auch hier sicher gut ‚gerüstet‘ an den Verhandlungstisch und sich der „off ramps“, die der „Westen“ nun so geflissentlich strategisch bauen will, sicher selbst bestens bewusst.

Wissensaustausch als Chance für Frieden und Sicherheit in Deutschland und Europa

‚Zeitenwende heißt Zeitenwende‘ – im dritten Monat des russischen Kriegs gegen die Ukraine lässt sich das Ausmaß dieser ‚tektonischen Verschiebung‘ in der europäischen Geschichte und ihre Herausforderungen für die Zukunft zunehmend erahnen.

Doch in Deutschland und Westeuropa gibt es Forschung und Expertise zu Russland und zum östlichen Europa. Der Westen ist nicht gar so ahnungslos und wird sich wohl oder übel aus selbst verschuldeten Unmündigkeiten befreien müssen. Die Forschung zum östlichen Europa steht in den kommenden Jahren vor der enormen Herausforderung, wie sie zum Beispiel weiter über Russland, Belarus und auch je nach Lage des Konflikts über die Ukraine forschen und Wissen produzieren kann. Eine solche Forschung muss auch auf entsprechenden Sprach- und vertieften Regionalkenntnissen beruhen, da wichtige Informationen nur in den jeweiligen Landessprachen zugänglich sind und die Handlungen der Akteur*innen nur vor dem Hintergrund ihrer Weltbilder, ihrer ideologischen Visionen sowie ihres Wissens verstanden werden können.

In den vergangenen drei Jahrzehnten, seit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion, wurde regionalbezogene Expertise zum östlichen Europa vor allem in den Sozialwissenschaften wie auch in den Rechtswissenschaften sukzessive eher ab- als ausgebaut; das galt vor allem für die universitäre Forschung und Lehre. Insbesondere seit 2014 findet jedoch ein Ausbau der außeruniversitären regionalbezogenen Forschung statt. Letztlich geht es aber nicht allein darum, ob und welche Expertise zu Russland sowie zum – wie auch immer historisch, politisch oder kulturell definierten – östlichen Europa in Westeuropa vorhanden ist. Es geht auch darum, wie Expertise und Wissensproduktion aus dem östlichen Europa Eingang finden können in die Debatten um Frieden und Sicherheit auf dem europäischen Kontinent. Das gilt nicht nur für Prozesse auf der politischen Bühne, sondern auch für akademische Analyse, Expertise und Politikberatung.

Universitäten und außeruniversitäre Institutionen in Deutschland nehmen derzeit geflüchtete Wissenschaftler*innen aus der Ukraine und auch bedrohten Wissenschaftler*innen aus Russland und Belarus auf. Wenn diese nun am Forschungsstandort Deutschland ihre Arbeit in Europa fortsetzen, bietet ihr Aufenthalt auch neue Dimensionen des Wissenstransfers und des transnationalen Austauschs und eröffnet Perspektiven für eine neue deutsche Sicherheitsstrategie sowie eine neue Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa – damit der europäische Kontinent nicht zum russischen Machtbereich wird. Dennoch gibt keine Friedens- und Sicherheitsordnung ohne die Einbeziehung Russlands; eines Russlands, das allerdings gerade dabei ist, seinen Machtbereich unter enormem Risiko und auf unvorstellbar brutale Art zu erweitern.

Eine längere Version ihres Beitrags wurde in deutscher und englischer Fassung auf dem Verfassungsblog im Rahmen der Debatte „Sicherheitsstrategie nach der Zeitenwende: Institutionen, Recht, Politik“ veröffentlicht. Die Autorin bedankt sich beim Verfassungsblog und den Organisatorinnen der Debatte für die Genehmigung den Beitrag hier in gekürzter und aktualisierter Form zu veröffentlichen.

Wittke, Cindy: Frieden und Sicherheit für die Ukraine und Europa entstehen nicht am Reißbrett des Westens, VerfBlog, 2022/4/13, DOI: 10.17176/20220413-182418-0.

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Kommentar

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Von Mattia Nelles
Heute kämpfen die Ukrainer geeint, wie fast noch nie in ihrer Geschichte, für ihre Freiheit und ihr Recht auf Selbstbestimmung, und damit für Werte, die die Grundlagen unserer europäischen Ordnung bilden. Deswegen gilt es umso mehr, dass wir die Ukraine bei ihrem Kampf um Freiheit unterstützen.
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