Neue Perspektiven für die OTS und den Mittelkorridor zwischen Zentralasien und Europa

Von Vusal Guliyev (Boğaziçi University, Istanbul)

Die geopolitischen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine haben die Türkei, Aserbaidschan und die zentralasiatischen Turkstaaten näher zusammenrücken lassen. Die Türkei ist bestrebt, ihren politischen Einfluss in Zentralasien auszubauen und den langwierigen russischen, iranischen und chinesischen Einfluss in der Region zu begrenzen. Ankara versucht im Kontext neuer strategischer Interessen seine diplomatischen Beziehungen mit Zentralasien und dem Südkaukasus durch institutionelle Mechanismen und multinationale Plattformen zu diversifizieren. Die Türkei wirkt dabei als Katalysator für neue langfristige Integrationsprozesse in größerem Umfang.

Die wichtigste Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Organisation der Turkstaaten (OTS), die zuletzt eine ehrgeizige Agenda entwickelt hat und auf Grundlage ethnischer und kultureller Verbindungen die Partnerschaften zwischen den Turkstaaten festigt. Heute leben in den fünf Mitgliedstaaten (Türkei, Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan) über 150 Millionen Menschen, die zusammen ein Bruttoinlandsprodukt von rund einer Billion US-Dollar erwirtschaften. Die Bemühungen der OTS, die wirtschaftliche Integration ihrer Mitglieder voranzutreiben und die multilaterale Zusammenarbeit weiter zu institutionalisieren, haben sich vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine intensiviert.

In dieser Hinsicht verdeutlichte der OTS-Gipfel am 11. November 2022 in Samarkand den Willen und die Bereitschaft der Turkstaaten, durch den Ausbau regionaler Interkonnektivität die wirtschaftliche Zusammenarbeit untereinander zu stärken. Es zeigte sich ein klarer Konsens, die bereits sehr engen Beziehungen durch gemeinsame Investitionen in die Entwicklung geteilter Transport- und Kommunikationsverbindungen weiter zu vertiefen. Die Erklärung von Samarkand definiert eine Reihe von Feldern der zukünftigen wechselseitigen Kooperation, u. a. in den Bereichen Militär und Rüstungsindustrie, Technologien für die Energiewirtschaft und Transportwesen sowie wirtschaftliche und humanitäre Beziehungen. Zu den zentralen praktischen Maßnahmen, die der Gipfel verabschiedet hat, gehört der Turkic Investment Fund.

Seit der Auflösung der Sowjetunion war die Türkei daran interessiert, ihr Profil als externer Akteur im Kaukasus und in Zentralasien zu schärfen. Zwei jüngere Entwicklungen haben der Türkei günstige Gelegenheiten eröffnet, ihre Allianz mit turksprachigen Verbündeten auszubauen. Die erste Entwicklung war die umfangreiche Unterstützung der Türkei für Aserbaidschan während des zweiten Karabach-Krieges 2020. Die militärische Unterstützung seitens Ankara, hauptsächlich durch die Bereitstellung von Berater:innen und Kampfdrohnen, spielte eine zentrale Rolle für den aserbaidschanischen Sieg über die armenischen Streitkräfte und festigte die neue Position der Türkei im Südkaukasus.

Die zweite historische Entwicklung ist Resultat des russischen Einmarsches in die Ukraine im Februar 2022. Der Angriff hat weltweit zu Transport- und Logistikproblemen geführt. Andererseits hat der Krieg die Relevanz neuer transeurasischer Transportrouten verdeutlicht, insbesondere des »Mittelkorridors« über das Kaspische Meer. Trotz der ungewissen geopolitischen und wirtschaftlichen Aussichten eröffnen sich für die Länder entlang dieser Transitroute (vor allem Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan und Türkei) beträchtliche Möglichkeiten, neue Handelspartnerschaften zu schmieden und strategische Beziehungen zu knüpfen, mit denen die dramatischen Auswirkungen des russischen Krieges gegen die Ukraine abgefedert werden können.

Die OTS arbeitet dabei energisch an der Entwicklung möglichst direkter, sicherer und rentabler Handelskorridore, entlang derer Umschlagkapazitäten von Häfen ausgebaut, Eisenbahnnetze verbessert und digitale Lösungen für schnellere Frachtabfertigung umgesetzt werden. Diese Entwicklungen, getragen von einem weitreichenden Konsens und der politischen Kooperation aller Beteiligten, stehen für die die Wirkmächtigkeit geteilter makroökonomischer Interessen der Transitstaaten entlang des Mittelkorridors.

Innerhalb der OTS abgeschlossene Verträge stellen das regulatorische Rahmenwerk für den Ausbau des Mittelkorridors dar. So konnten sich die Verkehrsminister der OTS-Mitgliedstaaten bereits 2013 auf ein »Gemeinsames Kooperationsprotokoll« einigen. Außerdem wurde damals die Etablierung eines Koordinationsrates beschlossen, der praktische Lösungen erarbeiten soll, falls in den Bereichen Transport und Logistik Probleme zwischen den involvierten Ländern aufkommen.

Im Juni 2022 kamen die Außen- und Verkehrsminister der Türkei, Aserbaidschans und Kasachstans auf türkischen Vorschlag hin darüber überein, die kommerzielle Wettbewerbsfähigkeit des Mittelkorridors gegenüber den anderen Handelsrouten zu stärken. Dafür wurde in Baku ein Protokoll zur Etablierung einer zwischenstaatlichen Arbeitsgruppe unterzeichnet. Bei dem trilateralen Ministertreffen wurde neben den zentralen Punkten der Agenda vor allem die Bedeutung unterstrichen, die der Verwirklichung des Sangesur-Korridors beikommt.

Der Sangesur-Korridor ist Teil der trilateralen Bestimmungen, auf die sich Armenien, Aserbaidschan und Russland 2020 geeinigt hatten, um den zweiten Karabach-Krieg zu beenden. Die geplante Route soll das aserbaidschanische Kernland ohne Umwege über die südarmenische Provinz Sjunik mit der Autonomen Republik Nachitschewan und schließlich der Osttürkei verbinden. Die Umsetzung des Sangesur-Korridors würde Ankara besseren Zugang zum weiteren Kaspischen Raum geben und schließlich eine direkte Route nach Zentralasien erschließen.

Im Mai 2022 haben sich Delegationen der nationalen Eisenbahnbetreiber aus Aserbaidschan, der Türkei, Kasachstan und Georgien in Ankara auf eine engere Koordination und mehr Kommunikation für gemeinsame Transporte über den Mittelkorrdior verständigt. Der auf dem Treffen initiierte »Aktionsplan 2022« sieht mit Hinblick auf den Handel zwischen Europa und Asien eine Erhöhung der Kapazitäten für den Frachttransit über den Mittelkorridor vor.

Am 25. November 2022 wurde die Roadmap zur Weiterentwicklung des Mittelkorridors für die Jahre 2022–2027 vorgestellt, ausgearbeitet in enger Kooperation zwischen verschiedenen Ministerien der Türkei, Aserbaidschans, Kasachstans und Georgiens. Der Plan sieht eine stetige Verbesserung und Harmonisierung der technologischen Standards und operativen Kapazitäten des Mittelkorridors vor.

Die Besuche des kürzlich wiedergewählten Präsidenten Kasachstans, Kassym-Dschomart Tokajew, in Ankara (Mai 2022) und Baku (August 2022) haben zur weiteren Festigung der freundschaftlichen Beziehungen mit der Türkei und Aserbaidschan beigetragen. Die Treffen waren geprägt vom wechselseitigen Interesse an einer Stärkung der jeweiligen Partnerschaft in den Bereichen Transit und Verkehr. Im Rahmen der bestehenden strategischen Partnerschaften wurde eine Reihe bilateraler Abkommen unterzeichnet. Die zunehmende Kooperation Kasachstans mit der Türkei und Aserbaidschan fällt dabei nicht zufällig in eine Phase sich verkomplizierender Beziehungen mit dem Kreml. Astana sucht sowohl im Rahmen der OTS als auch im trilateralen Format nach neuen Möglichkeiten der Kooperation mit Aserbaidschan und der Türkei, um die aktuellen geopolitischen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen.

Im Kontext des verheerenden Angriffskrieges gegen die Ukraine verliert der Kreml rapide an Einfluss in Zentralasien und dem Südkaukasus, was die Zusammenarbeit der führenden staatlichen Akteure in diesen Regionen weiter begünstigt. Während die postsowjetischen Turkstaaten auf Distanz zu Moskau gehen erfüllt Ankara das anhaltende Interesse der zentralasiatischen Länder an konstruktiven internationalen Partnerschaften. Die OTS wird ihre Position in Zentralasien also weiter festigen und im Rahmen ihrer Agenda die Staaten der Region dabei unterstützen, ihre zentrale Stellung als direkte Verbindung zwischen China und Europa für sich gewinnbringend zu behaupten. Neben der institutionellen Ebene der OTS als solcher wird auch die Relevanz der informellen Konstellationen im trilateralen Format zunehmen, in deren Rahmen die Turkstaaten ihr Vorgehen auf internationaler Ebene effizient koordinieren können.

Trotz neuer Möglichkeiten und vielfältiger Vorteile wirft die regionale Geopolitik Fragen für die Zukunft der Kooperation zwischen der Türkei, dem Südkaukasus und Zentralasien auf. Die nach wie vor engen Bindungen der zentralasiatischen Staaten zu Russland und der massive wirtschaftliche Einfluss Chinas in der Region werden die weitere Integration der Turkstaaten maßgeblich mitbeeinflussen.

Aus dem Englischen von Hartmut Schröder

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Analyse

Nicht frei von Konflikten – Die Entwicklung der türkisch-zentralasiatischen Beziehungen von 1992 bis heute

Von Fahri Türk
Die türkische Zentralasienpolitik der letzten 17 Jahre war diversen Schwankungen unterworfen, die vor allem durch die Prioritätensetzung der verschiedenen türkischen Regierungen bedingt waren. Dies hat bis heute Auswirkungen nicht nur auf die politischen, sondern auch auf die kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen des Landes zu den zentralasiatischen Staaten. Während aber die Wirtschafs- und Kulturbeziehungen vor allem zu Turkmenistan, aber auch Kasachstan, sich in Phasen politischen Desinteresses weiter entwickelten, ist das Verhältnis zu Usbekistan in jeder Hinsicht problematisch.
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