Die neue Relevanz pan-turkischer Visionen im Kontext russischer Einflussverluste in Zentraleurasien

Von Tuba Eldem (Fenerbahçe University, Istanbul)

Das neunte Gipfeltreffen der Organisation der Turkstaaten (OTS) fand am 11. November 2022 im usbekischen Samarkand statt, in einer Zeit historischer Umbrüche, in der das »eurasische Schachbrett« angesichts neuer Großmachtkonfrontationen zunehmend an Bedeutung gewinnt. Das historische Gipfeltreffen, das unter dem Motto »Eine neue Ära der Turk-Zivilisation – Auf dem Weg zu gemeinsamer Entwicklung und Wohlstand« stattfand, stellt den jüngsten Versuch der turksprachigen Nationen dar, als geeinte Kraft aufzutreten, während die Position Russlands in Zentralasien schwächer wird und russische Möglichkeiten der Einflussnahme schwinden. Die Erklärung von Samarkand, die von den Staatsoberhäuptern verabschiedet wurde, unterstreicht das Bekenntnis der Mitgliedstaaten und der Staaten mit Beobachterstatus für eine weitere Integration und die gemeinsame Umsetzung der 2021 verabschiedeten »Turkic World Vision 2040«. Damit positioniert sich die OTS potenziell als neuer zentraler geopolitischer Akteur auf dem eurasischen Kontinent

Die Idee eines pan-turkischen Machtzentrums in Zentraleurasien reicht bis in das ausgehende 19. Jahrhundert zurück, als eine Gruppe turksprachiger Intellektueller, die im Osmanischen Reich und den turksprachigen Gebieten des Russischen Reiches lebten, das Ziel einer Vereinigung aller turksprachigen Völker verfolgte. Die Verwirklichung dieser Vision musste für über ein Jahrhundert aufgeschoben werden, nachdem die Sowjetunion fast alle turksprachigen Völker Zentralasiens absorbiert hat. Auch die anfänglichen Kooperationsbemühungen der Türkei nach dem Zerfall der Sowjetunion waren vergebens, vor allem aufgrund der einseitigen Abhängigkeit der zentralasiatischen Staaten von Russland. Genau das hat sich in den letzten Jahren jedoch geändert. Die Sanktionen gegen Russland, die nach der Annexion der Krim verhängt wurden, haben das Interesse der zentralasiatischen Staaten an einer Diversifizierung ihrer Außenbeziehungen, weg von Moskau, verstärkt. Das Image und die Einflussmöglichkeiten der Türkei wurden in Zentralasien vor allem durch die Demonstration von hard power seitens Ankara gestärkt. In diesem Zusammenhang war der Einsatz bewaffneter Drohnen aus türkischer Produktion im Karabach-Krieg 2020 besonders markant, da diese den entscheidenden Vorteil Aserbaidschans gegenüber Armenien darstellten. In der Folge hat die Türkei ihre sicherheitspolitischen Verbindungen zu den Turkstaaten in Zentralasien intensiviert, was nicht nur Waffenverkäufe und strategische Kooperationsabkommen, sondern mittlerweile auch gemeinsame Manöver umfasst. Russlands Krieg in der Ukraine und die Versuche des Kreml, weitere Länder einzuschüchtern, haben die regionale Dynamik zusätzlich zugunsten einer stärkeren Zusammenarbeit unter den Turkstaaten verändert. In den letzten Monaten haben zentralasiatische Staaten wie Kasachstan und Usbekistan ihre Beziehungen zur Türkei auf das Niveau einer erweiterten strategischen Partnerschaft gehoben und ihre multilateralen Beziehungen im Rahmen der OTS intensiviert.

Seit ihrer Gründung als »Kooperationsrat der Turksprachigen Länder« durch den Vertrag von Nachitschewan 2009 entwickelte sich die OTS zu einer Organisation mit klar definierten politischen und wirtschaftlichen Zielen. Gemäß der Erklärung zur »Turkic World Vision-2040«, die im vergangenen Jahr auf dem Istanbuler Gipfel verabschiedet wurde, ist das langfristige Ziel der OTS eine schrittweise Integration ihrer Mitglieder. Demnach beinhaltet die Vision a) eine Stärkung des politischen Zusammenhalts, um bei internationalen Fragen geschlossen zu agieren; b) die Zusammenführung bestimmter sektoraler Politiken und eine Harmonisierung ihrer regulatorischen Rahmenbedingungen; c) eine vollständige Handelsintegration; d) die Schaffung eines einheitlichen Investitionsmarktes; e) den Ausbau der digitalen Konnektivität; f) die Verbesserung der Konnektivität in den Bereichen Transport und Energie; und g) mehr Mobilität und Möglichkeiten für zwischenmenschliche Kontakte. Aktuell besteht die OTS aus den Mitgliedstaaten Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan, Türkei und Usbekistan sowie den Beobachtern Ungarn und Turkmenistan. Auf dem jüngsten Gipfeltreffen in Samarkand erhielt auch die nur von der Türkei anerkannte Türkische Republik Nordzypern einen Beobachterstatus, was einen historischen Akt der Solidarität unter den turksprachigen Nationen darstellte.

Zu den vorrangigen Aufgaben der OTS gehören die Erleichterung von Handel und Austausch, der Ausbau von Transportwegen für den Export und die Schaffung von Energietrassen aus Zentralasien über das Kaspische Meer. Die Strategie der OTS für die Jahre 2022 bis 2026, die auf dem Gipfel in Samarkand verabschiedet wurde, stellt eine verbesserte Konnektivität im Transportwesen und die Zusammenarbeit bei Zollfragen in den Vordergrund. Dadurch sollen Hindernisse beseitigt werden, die einem effizienten und reibungslosen Transport über den »Trans-Caspian Transport Corridor« (auch »Mittelkorridor« genannt), bisher im Weg standen. Die Notwendigkeit dafür ergibt sich vor allem aus der Tatsache, dass die Festlandroute über die »Neue Eurasische Landbrücke« (auch als Nördlicher Korridor bezeichnet), die über russisches und belarussisches Territorium führt, jetzt mit umfangreichen Sanktionen belegt und dadurch fast gänzlich unterbrochen ist. Als unmittelbares Resultat ist die Attraktivität des Mittelkorridors, der Russland und den Iran umgeht, gewachsen. Die Sanktionen gegen Russland und Iran haben die Anstrengungen der Turkstaaten beschleunigt, die technischen und strukturellen Herausforderungen zu überwinden, die eine effiziente Nutzung des Korridors bisher behinderten. In dem Zusammenhang haben die Mitgliedstaaten der OTS Abkommen unterzeichnet, die u. a. kombinierten internationalen Güterverkehr, die weitere Digitalisierung der Transport- und Transitverfahren und die Schaffung eines Transitkorridors mit vereinfachten Zollvorschriften vorsehen.

Der Mittelkorridor ist zudem für die Energiekonnektivität wichtig, da drei der fünf Mitgliedstaaten (Kasachstan, Usbekistan, Aserbaidschan) und der Beobachter Turkmenistan über beträchtliche Vorkommen an fossilen Bodenschätzen verfügen und intensiv versuchen, ihre Energiepartnerschaften zu diversifizieren. So hat Kasachstan, angesichts der vom Kreml als Druckmittel eingesetzten Pipelinerouten über russisches Territorium, jüngst ein Abkommen mit Aserbaidschan geschlossen, Öl in Richtung der Pipeline Baku–Tbilissi–Ceyhan (BTC), und damit von Russland weg, zu lenken. Die Türkei wiederum positioniert sich als potenzieller Verteilerknotenpunkt zur Weiterleitung von Energieressourcen aus Russland und dem Kaukasus nach Europa. Es ist also davon auszugehen, dass eine zukünftige Intensivierung der Energiezusammenarbeit entlang des Mittelkorridors das geopolitische Gewicht der OTS erheblich vergrößern wird. Ein positiver Schritt in diese Richtung ist zuletzt beim zweiten Treffen der OTS-Energieminister unternommen worden, das am 28. September 2022 in Almaty stattfand. Auf dem Treffen haben die OTS-Mitgliedstaaten ein Programm zur Energiezusammenarbeit für die Jahre 2023 bis 2027 sowie einen Aktionsplan zur Entwicklung der Konnektivität und Förderung erneuerbarer und alternativer Energiequellen unterzeichnet. Die Umsetzung des Programms in den kommenden fünf Jahren obliegt dem Koordinationskomitee der OTS für Energiefragen.

Ein weiteres zentrales Ergebnis des Gipfels von Samarkand ist die Etablierung eines Turkic Investment Fund, der den Mitgliedern und Beobachtern der OTS für den Ausbau der Konnektivität in den Bereichen Transport und Energie die notwendigen Mittel bereitstellen soll. Dadurch sollen sich die Mitglied- und Beobachterstaaten, in Übereinstimmung mit der ersten Fünfjahresstrategie der OTS, leichter in regionale und globale Liefer- und Wertschöpfungsketten integrieren können. Angesichts der reichlichen Vorkommen an natürlichen Ressourcen und Energieträgern, sowie einer modernen Infrastruktur und logistischen Verbindungen zwischen dem Territorium der OTS, der Europäischen Union und China, wird die Außenpolitik der OTS-Mitglieder auch zukünftig darauf ausgerichtet sein, Investitionen anzuziehen, um die eigene Position als neuem Energie- und Logistikdrehkreuz zu konsolidieren. Die EU hätte gute Gründe, eine Zusammenarbeit mit der OTS in Betracht zu ziehen: um Frieden und Wohlstand im Südkaukasus und in Zentralasien zu fördern; für besseren Zugang zu zentraleurasischen Märkten; zur Steigerung der Resilienz europäischer Lieferketten und zur weiteren Diversifizierung der europäischen Energieversorgung. Ein Ausbau der Beziehungen mit den turksprachigen Ländern würde den zentralasiatischen Staaten außerdem neue Möglichkeiten eröffnen, den russischen, chinesischen und iranischen Einfluss in der Region auszubalancieren.

Aus dem Englischen von Hartmut Schröder

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Analyse

Nicht frei von Konflikten – Die Entwicklung der türkisch-zentralasiatischen Beziehungen von 1992 bis heute

Von Fahri Türk
Die türkische Zentralasienpolitik der letzten 17 Jahre war diversen Schwankungen unterworfen, die vor allem durch die Prioritätensetzung der verschiedenen türkischen Regierungen bedingt waren. Dies hat bis heute Auswirkungen nicht nur auf die politischen, sondern auch auf die kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen des Landes zu den zentralasiatischen Staaten. Während aber die Wirtschafs- und Kulturbeziehungen vor allem zu Turkmenistan, aber auch Kasachstan, sich in Phasen politischen Desinteresses weiter entwickelten, ist das Verhältnis zu Usbekistan in jeder Hinsicht problematisch.
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