Berg-Badachschan und Tadschikistans stille Abkehr vom Westen: Blutiges Ende der »ismailitischen Intervention«?

Von Nurdil Aksenova

Zusammenfassung
Die gewaltsame Niederschlagung der Proteste im Autonomen Gebiet Berg-Badachschan (GBAO) markiert einen grausamen Tiefpunkt der Repressionen gegen die Pamir-Minderheit in Tadschikistan. Der Beitrag unternimmt eine Einbettung der aktuellen Entwicklungen in Berg-Badachschan in die aktuelle globalpolitische Gesamtlage und beleuchtet die Folgen der autoritären Unterdrückung von NGOs, die nach Russland und Belarus nun auch in Tadschikistan ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hat. Während »der Westen« zunehmend Anknüpfungspunkte in Zentralasien verliert verfolgt Präsident Emomali Rachmon weiter eine autoritäre Konsolidierung seines Regimes in einer der letzten Regionen des Landes, die bislang noch nicht unter der vollständigen Kontrolle Duschanbes stand.

Eine lange Geschichte der Repression

Mai 2005, Andijon, Usbekistan: Nach Protesten gegen die usbekische Regierung eröffnen Sicherheitskräfte das Feuer auf Demonstrant:innen, wobei schätzungsweise 400 bis 600 Menschen getötet werden. Die EU erlässt schließlich Sanktionen gegen das damalige Regime von Islam Karimow, setzt das Partnerschaftsabkommen mit Usbekistan aus und verhängt ein Waffenembargo. Kurze Zeit später werden die Sanktionen jedoch wieder gelockert.

16 Jahre später und 800 Kilometer weiter südlich im Dorf Tavdem:

Gulbiddin Ziyobekow, ein Bewohner Berg-Badachschans und »lokaler Anführer« wird während seiner Festnahme im November 2021 erschossen. Etliche Monate zuvor hatte es einen Streit zwischen ihm und dem Bezirksstaatsanwalt gegeben, als dieser eine Frau belästigt haben soll. Tausende Menschen protestieren in GBAO gegen die regelrechte Hinrichtung Ziyobekows. Die Regierung in Duschanbe lässt hierauf das Internet kappen. Die langen Winter im Pamir sind ohnehin gekennzeichnet von gekappten Straßenverbindungen und anhaltenden Stromausfällen. Nun patrouillieren Soldaten aus anderen Landesteilen in den Gassen Chorughs, Ausländer:innen wird der Zugang zur Region verwehrt und Berichte über regelmäßige Razzien dominieren das Leben und das Internet bleibt bis zum Nowruz-Fest im März noch gekappt. Die tadschikische Regierung fordert immer wieder verschiedene informelle lokale Anführer auf, sich den Sicherheitskräften zu stellen. Zu diesen Anführern gehört u. a. Mahmadbokir Mahmadbokirow, der als ehemaliger Warlord seit der Zeit des tadschikischen Bürgerkrieges großen Einfluss auf die pamirische Bevölkerung von GBAO ausgeübt hatte. Andere informelle Anführer aus GBAO sind in lokale Drogengeschäfte verwickelt oder Teile von Netzwerken mit der pamirischen Diaspora in Moskau.

»Sie haben uns gebrochen«, berichtet eine Bewohnerin Chorughs über eine gesicherte Telefonleitung.

Pünktlich zum Nowruz-Fest, im März 2022, geht Berg-Badachschan wieder online, die Regierung verspricht eine Untersuchung des Todes von Ziyobekow. Zwischen März und Mai 2022 kehrt eine angespannte Ruhe in die Region ein: Im Staatsfernsehen laufen bereits seit Monaten Dokumentationen über kriminelle Gruppen im Pamir und die Präsenz von Sicherheitskräften bleibt insbesondere in Chorugh hoch. Duschanbe rechtfertigte das Vorgehen in GBAO schließlich mit einem Narrativ von angeblich »kriminellen Gruppierungen«, die versucht hätten die staatliche Ordnung Tadschikistans anzugreifen. Zur Untermauerung dieses Narratives werden auch offensichtlich erzwungene »Geständnisse« von verhafteten pamirischen Anführer: innen im Staatsfernsehen ausgestrahlt: Die Inhaftierten gestehen vor laufenden Kameras entweder ihre Involvierung in den lokalen Drogenhandel oder dass sie von westlichen Staaten instruiert worden seien, in Tadschikistan Unruhe zu stiften. Viele Pamiris fühlen sich von der eigenen Regierung stigmatisiert, andere beklagen den Tod oder die Festnahme von eigenen Familienmitgliedern und Bekannten. Nachdem auch die versprochene Aufklärung der Regierung zu Ziyobekows Tod und den Ereignissen im November 2021 ausbleibt, entflammen im Mai 2022 in Chorugh neue Proteste.

Tausende Demonstrant:innen gehen erneut auf die Straße woraufhin Duschanbe das Internet erneut kappen lässt. Die Lokalbehörden reagieren mit Gewalt, Sicherheitskräfte schießen auf Demonstrierende. Eine Kolonne schweres Militärgerät rollt entlang des Pamir Highways von Duschanbe in Richtung Pamir. In Womar (Distrikt Ruschan) versuchen Bewohner:innen, bestehend teilweise aus lokalen Jugendlichen, die Schützenpanzer aufzuhalten. Was genau am 18. Mai 2022 in Womar passiert bleibt unklar, GBAO ist zu dem Zeitpunkt quasi von der Außenwelt abgeschnitten. Offenbar kommt es zu einem Massaker in dem kleinen Ort, in sozialen Medien kursieren Bilder von Leichen, die auf der Ortsstraße liegen. Einige Pamiris vergleichen die Ereignisse in Womar mit dem Massaker von Butscha in der Ukraine. Nachdem das tadschikische Militär schließlich Chorugh erreicht kommt es zu einer massiven Verhaftungswelle in der Stadt. Berichte über verschwundene Personen häufen sich und am 22. Mai wird schließlich der oben genannte lokale Anführer Mahmadbokirow von Sicherheitskräften erschossen.

Hat Rachmon das Interesse an einer demokratischen Reputation verloren?

Die Zeit zwischen November 2021 und Mai 2022 stellt eine schwere Zäsur für den Pamir und für ganz Tadschikistan dar. Nie war es nach dem tadschikischen Bürgerkrieg in den 1990er Jahren zu einem derartig brutalen Vorgehen von Sicherheitskräften gegen die Zivilbevölkerung gekommen. Trotz aller staatlichen Repressionen gegen oppositionelle bzw. islamische und islamistische Gruppierungen war Präsident Rachmon die längste Zeit seiner bisher 28-jährigen Präsidentschaft bemüht, dem Westen einen »demokratischen Weg« zu inszenieren. Noch 2012 behauptete Rachmon sein Ziel sei eine graduelle Demokratisierung Tadschikistan. Mit dem wachsenden Einfluss Chinas in Zentralasien und einer raschen Ablösung der westlichen Staaten als wichtigstem Geber durch die Volksrepublik seit dem Beginn der Belt and Road Initiative 2013 hat Rachmon im Laufe der 2010er Jahren schnell das Interesse an einen demokratischen Wandel verloren. Fraglich erscheint wie sehr ebenjener Wandel je ernsthaft angestrebt war, vielleicht sollte präzisierend eingeschoben werden: Rachmon hat im Laufe der 2010er Jahre das Interesse an einer demokratischen Reputation offensichtlich verloren. Verkörperte der Westen lange das Sinnbild für Wohlstand und liberale Demokratie, hat der Strom an nie dagewesenen Summen von konzessionsloser Entwicklungshilfe aus China dem einstigen Referenzpunkt den Rang abgelaufen.

Der schrittweise westliche Rückzug aus Tadschikistan

Zwischen dem Massaker von Andijon und den Ereignissen im Pamir 2021/22 hat sich der globalpolitische Kontext erheblich verändert. Der Westen verurteilte zwar das Massaker von Andijon und beschloss Sanktionen, diese wurden jedoch nach einigen Jahren wieder aufgehoben, da man Usbekistan (wie auch andere zentralasiatische Republiken) als verlässlichen Partner für den NATO-Einsatz in Afghanistan brauchte. Die westliche Politik gegenüber Usbekistan steht symbolhaft für den Kurs der EU und USA in Zentralasien. Ob die Niederschlagung von Ölarbeiteraufständen in Kasachstan, staatliche Gewalt gegen Demonstrierende während Revolutionen in Kirgistan oder Inhaftierungen von islamischen und islamistischen Oppositionellen in Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan – einzelne Akte staatlicher Repression wurden vom Westen immer wieder verurteilt. Eine grundsätzliche Hinterfragung der autoritären Systeme Zentralasiens blieb aus, wurden Demokratie und Menschenrechte lange den größeren Interessen in Zentralasien untergeordnet: Frieden und Stabilität in Afghanistans nördlichen Anrainerstaaten. Über die 2010er Jahre sank die ohnehin geringe Präsenz des Westens in Zentralasien weiter. Nach den westlichen Sanktionen wegen des Massakers in Andijon mussten die USA auf Anweisung der usbekischen Regierung 2005 ihren Luftwaffenstützpunkt Karshi-Khanabad aufgeben. 2014 veranlasste die kirgisische Regierung auf russischen Druck hin die Schließung des US-Luftwaffenstützpunktes Manas (Bischkek), ein Jahr später gab die Bundeswehr den strategischen Lufttransportstützpunkt Termez in Südusbekistan auf. Nachdem ab Mitte der 2010er deutlich wurde, dass der Westen und speziell Deutschland nicht mehr mit den Summen der Entwicklungshilfe aus China mithalten können, wurde eine schrittweise Reduzierung der Entwicklungszusammenarbeit mit Zentralasien eingeleitet. So hatte sich die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Tadschikistan mit diversen Projekten engagiert und beispielsweise im Pamir bis 2017 gemeinsam mit dem ismailitischen Aga Khan Development Network (AKDN) die touristische Infrastruktur entwickelt. 2020 hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) den nahezu vollständigen Rückzug aller Projekte aus Zentralasien angekündigt, lediglich mit Usbekistan wolle man weiter entwicklungspolitisch zusammenarbeiten. 2019 wurde zudem das Büro des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Duschanbe geschlossen. Seitdem Zentralasien fester Bestandteil der neuen entwicklungspolitischen Einflusssphäre Chinas ist, verbleibt die Kooperation zur Sicherung der afghanischen Grenze als einer der letzten nennenswerten Aspekte der Beziehungen zwischen Tadschikistan und dem Westen.

Autoritäres Misstrauen gegenüber NGOs

Während China mittlerweile das wichtigste Geberland und der wichtigste Investor in Tadschikistan ist, bleiben Belarus und Russland für Rachmon wichtige Referenzpunkte hinsichtlich eines autoritären Misstrauens gegenüber allen Formen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko sah hinter den Protesten in seinem Land im Jahr 2020 westliche NGOs als Drahtzieher, welche angeblich seine Herrschaft untergraben wollten. Nach der brutalen Niederschlagung der Proteste in Minsk machte Lukaschenko keinen Hehl aus seiner Verachtung für NGOs:

»Wir werden all den Abschaum massakrieren, den ihr, der Westen, finanziert habt«, so der Diktator Ende 2021. Auch Putin hegt eine offene Obsession mit westlichen NGOs. Über die 2010er Jahre wurden russische Anti-NGO Gesetze implementiert und dann schrittweise weiter verschärft: Seit 2012 können NGOs, die mutmaßlich aus dem Ausland finanziert werden, als »foreign agent« deklariert werden. Seit Juni 2022 kann das Gesetz sogar auf Einzelpersonen »unter ausländischem Einfluss« angewandt werden, ohne dass eine tatsächliche Finanzierung aus dem Ausland im Raum steht oder irgendwie nachgewiesen werden müsste. 2015 wurde schließlich auch in Tadschikistan in einem Akt »autoritärer rechtlicher Harmonisierung« das Gesetz »Über öffentliche Zusammenschlüsse « in einer Weise angepasst, die dem Staat weitreichende Befugnisse zur Kontrolle der finanziellen Aktivitäten von NGOs einräumt. Seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine wurde einer Reihe von NGOs in Russland die Lizenz entzogen, neben bspw. Memorial und Human Rights Watch auch der ismailitischen Aga Khan Foundation. Der Stiftungsvorsitzende, Karim Aga Khan IV. ist der religiöser Führer der schiitischen Nizari-Ismailiten in Berg-Badachschan. Die Aga Khan Foundation ist ein wichtiger Akteur im tadschikischen Pamirgebirge, da sie in GBAO zahlreiche öffentliche Güter wie Infrastruktur für Gesundheit und Bildung bereitstellt. Wer durch die Gebietshauptstadt Chorugh spaziert, dem fallen die zahlreichen AKDN-Büros auf, ein bis zu seiner kürzlichen Zwangsverstaatlichung vom AKDN unterhaltener Stadtpark, der so auch in Mitteleuropa stehen könnte, sanierte Schulen und Spielplätze sowie seit 2018 auch der großangelegte Campus der University of Central Asia. Doch wie kam es zu der mächtigen Präsenz der Aga Khan Foundation in Chorugh und GBAO?

Von der Moskauer Versorgung zur ismailitischen Intervention

Im Pamirgebirge lebt die ethno-konfessionell nicht homogene Gruppe der Pamiris. Die meisten von ihnen sprechen verschiedene ostiranische Pamirsprachen sowie Tadschikisch als Zweitsprache, auf den Hochebenen leben außerdem Kirgisen. Im äußersten westlichen Bezirk von GBAO, Darvoz, sind die Bewohner:innen noch Sunnit:innen, während ab Wandsch bis in die Hochebenen Murghabs der ismailitische Glaube dominiert. Als die pamirische Regionalpartei »Lal-i-Badachschan« während des tadschikischen Bürgerkrieges am 9.12.1991 die Unabhängigkeit GBAOs erklärte, errichtete die tadschikische Zentralregierung eine 10 Monate andauernde Blockade der Region. Die Region, welche bereits zum Ende der Sowjetunion zu 85 % von Nahrungsmittelimporten aus anderen Teilen der UdSSR abhängig war, durchlebte während des transformations- und kriegsbedingten Nahrungsmittelengpasses eine schwere Hungerkrise. Um die Ursprünge der Abhängigkeit GBAOs von Lebensmittelimporten nachvollziehen zu können muss ein Blick in die Geschichte geworfen werden.

In der frühen Sowjetunion der 1920er Jahre stellte die sowjetisch-afghanische Grenze eine ideologische Bruchzone dar. Verschiedene ehemalige religiöse und politische Führer aus Zentralasien zogen sich auf die afghanische Seite vom Pandsch-Fluss zurück und versuchten von dort Einfluss auf die von den Sowjets beherrschte Bevölkerung auf der anderen Flussseite zu nehmen. Die sowjetische Regierung war daher an einer möglichst effektiven Grenzsicherung interessiert und war gerade im Pamir auf die Ortskenntnisse und die Kooperation der lokalen Bewohner:innen dieses schwer zugänglichen Gebiets angewiesen. Noch war der Pamir Highway nicht fertiggestellt und das Grenzgebiet nur schwer zu kontrollieren. Die Loyalität der Pamiris für die Sicherung der Grenze zu gewinnen war schwierig, da diese auf beiden Seiten des Grenzflusses Verwandtschaft hatten. Schließlich gelang der neuen Sowjetmacht die Einbindung der Region in den jungen Staat durch ein Versorgungsversprechen: Fortan wäre die Sicherstellung der Versorgung des Pamirs Aufgabe der sowjetischen Behörden. Durch den Bau des Pamir Highways 1932 gelangen zum ersten Mal massenhaft Waren in das schroffe und abgelegene Gebirge. Gleichzeitig brachte das landwirtschaftlich wenig nutzbare Pamirgebirge die sowjetischen Agrarkonzepte an seine Grenzen: Während in der Region anfangs noch ein Netzwerk von Kolchosen und Sowchosen aufgebaut wurde, sank ihre Zahl über die Jahrzehnte kontinuierlich. Im Bezirk Murghab war die örtliche Kolchose auf Futterimporte aus Südkirgistan angewiesen, damit diese ihre vorgegebenen Sollziele erreichen konnte. Weite Teile des Pamirs wurden zu einer Art »Agrarsimulation«: Während halbherzig noch einige wenige Kolchosen in Betrieb blieben waren die Zeiten der Subsistenzlandwirtschaft endgültig vorbei. In einem Staat, dessen Selbstbild flächendeckend gleichwertige Lebensbedingungen und die Abwesenheit von Arbeitsmigration war, genossen die Pamiris einen teils hohen Lebensstandard, der jedoch völlig entkoppelt war von den ökonomischen Potenzialen ihrer naturräumlichen Realität. Berg-Badachschan war als Autonome Oblast auch zu Sowjetzeiten bereits nur mit einer Genehmigung passierbar, sogar die Bewohner:innen der Region benötigten selbst ein Visum, um z. B. nach einem Aufenthalt in Duschanbe wiedereinzureisen. Offiziell begründet wurde das strenge Zutrittsregime mit der Grenzlage des Gebiets. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass die sowjetische Führung den vergleichsweise hohen Lebensstandard in GBAO vor der breiteren Bevölkerung der Tadschikischen SSR möglichst verborgen halten wollte. Das Gebiet stand ab den 1960er Jahren unter »Moskowskoje Obespetschenije«, der Moskauer Versorgung. Die Anthropologin Madeleine Reeves beschrieb die »Moskowskoje Obespetschenije« nicht nur als eine Form der materiellen Versorgung, sondern auch als eine Art »ästhetische und kulturelle Verbindung« zu Moskau. Entsprechend ist die Reputation Moskaus und Russlands allgemein im Pamir bis zuletzt durchaus gut gewesen und viele Pamiris sprechen für die interethnische Kommunikation lieber Russisch als die Landessprache Tadschikisch. Ein wiederkehrendes Gesprächsthema im Feld ist das pamirische Selbstbild, laut dem man deutlich besser auf ein Leben in Moskau vorbereitet sei, als »die ungebildeten Menschen in Duschanbe oder Kulob.« Viele Bewohner:innen von GBAO sprechen Putin eine pro-pamirische Haltung zu, weshalb er Rachmon regelmäßig davon abhalte, rabiat gegen die Bevölkerung der Region vorzugehen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, der mit der Pamir-Blockade am Anfang des tadschikischen Bürgerkriegs einherging, brachte GBAO unsanft in die postsowjetische Realität der Marktwirtschaft. Der Beginn der Hungersnot markierte das Ende der Ära, in der die Region Jahrzehnte lang extern versorgt wurde.

Im Oktober 1992 erreichten Mitarbeiter:innen der Aga Khan Foundation schließlich Chorugh, was den Beginn der »ismailitischen Intervention« einläutete. Die Stiftung übernahm über die Jahre zahlreiche Bereiche der staatlichen Daseinsfürsorge und transformierte die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen. Heute, nach drei Jahrzehnten Stiftungsengagement, ist die ismailitische Organisation ein wichtiger Akteur in der Region. Bartosz Stanislawski argumentiert dafür, dass die Aga Khan Foundation einige Parallelen zu einem echten Nationalstaat aufweist, nachdem sie derartig viele Aspekte einer politischen Regierung übernommen hat. Neben der Bereitstellung materieller Hilfe hat die Aga Khan Foundation in GBAO auch Vorstellungen von Zivilgesellschaft und Staat beeinflusst. Die Gemeinschaft der Pamiris wurde durch die Aga Khan Foundation mit anderen Ismailit:innen auf der Welt u. a. im Vereinigten Königreich, Kanada oder Pakistan verbunden, aber auch intern neu strukturiert. So förderte die Stiftung auf der lokalen Ebene Community-Building-Prozesse und schuf so neue zivilgesellschaftliche Strukturen im Pamir. Dementsprechend bleibt auch die Ästhetik des Widerstands bei den jüngsten Unruhen bemerkenswert. Zwischen den beiden Konflikten im November 2021 und Mai 2022 forderten Demonstrierende mit Transparenten ein Ende der Stigmatisierung der Pamiris als kriminelle Gruppe, eine unabhängige Untersuchung der Ereignisse und ein Ende der Repressionen. In Anbetracht dessen, dass dieser Widerstand einen Steinwurf von Afghanistan entfernt in einer der entlegensten Gebiete Zentralasiens stattfindet, sind das bemerkenswert konstruktive Forderungen, die prowestlichen Protesten in anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion nahekommen. Die anschließende Eskalation der Proteste fand im Westen wenig mediale Beachtung. Teilweise wurden sogar Pressemitteilungen des tadschikischen Innenministeriums übernommen, die dann – wie im Falle von NTV – ein erheblich verzerrtes Bild der Lage vor Ort wiedergaben:

Nun sind bei einem Militäreinsatz im Osten des Landes (Tadschikistan) neun Menschen getötet und 24 verletzt worden. Wie das Innenministerium mitteilt, wurden acht Mitglieder einer »illegalen bewaffneten Gruppe« getötet und elf weitere verletzt. (…). Mehr als 70 Mitglieder einer »terroristischen Gruppe« wurden demnach festgenommen. Rund 200 Mitglieder der Gruppe sollen zuvor eine Straße zwischen der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe und Chorugh, der Hauptstadt der Autonomen Region Gorno-Badachschan, unweit der Grenze zu Afghanistan blockiert haben. (https://www.n-tv.de/der_tag/Tote-bei-Militaereinsatz-in-Ex-Sowjetrepublik-Tadschikistan-article23343188.html)

Hier handelt es sich vermutlich um genau das Narrativ, welches die tadschikische Regierung in der Welt verbreiten möchte: Kriminelle Gruppen an der afghanischen Grenze stiften Chaos und stellen ein Sicherheitsrisiko dar.

Doch was sind die Motive für das rabiate Vorgehen der Sicherheitskräfte im Pamir?

Sieht Duschanbe in GBAO eine echte Gefahr für die Stabilität Tadschikistans? Der tadschikische Bürgerkrieg endete 1997 mit einem Abkommen zwischen der tadschikischen Regierung unter Emomali Rachmon und der Vereinigten Tadschikischen Opposition (VTO) unter der Führung von Said Abdulloh Nuri. Das Abkommen räumte der Opposition eine dauerhafte Regierungsbeteiligung ein. Die wichtigsten Gruppen der VTO waren die Islamische Wiedergeburtspartei (IRPT), die Demokratische Partei sowie Lal-i-Badachschan (die Unabhängigkeitspartei GBAOs). Rachmon hat seine Macht seitdem weiter konsolidiert und entgegen des Abkommens die Opposition schrittweise aus der Regierung verdrängt, bevor die IRPT 2015 ganz verboten wurde. Hinsichtlich der möglichen Motive Rachmons, die Situation im Pamir derartig eskalieren zu lassen, fallen insbesondere die informellen Anführer bzw. ehemaligen Warlords wie Mahmadbokir Mahmadbokirow auf. Der Einfluss dieser informellen Anführer erstreckt sich über von Wechselseitigkeiten wie Loyalität und Verwandtschaft geprägte Netzwerke, die jederzeit mobilisiert werden können. Lange schien es so, als würden sich die Zentralregierung und die entsprechenden informellen Anführer, frei nach dem Motto »leben und leben lassen«, aus dem Weg gehen. Das offensive Vorgehen der Regierung gegen die Pamiris lässt darauf schließen, dass diese Zeiten endgültig vorbei sind und sich Duschanbe eine vollständige Kapitulation bzw. Liquidierung dieser Personen wünscht. Hierfür gibt es offenbar auch Rückendeckung aus Moskau, aus dessen Diaspora in den letzten Monaten vermehrt Pamiris nach Tadschikistan abgeschoben bzw. ausgeliefert wurden.

Im Bereich der Spekulationen liegt die mögliche Rolle von Drogengeschäften. GBAO liegt auf einer der wichtigsten Drogenrouten von Afghanistan nach Russland und Europa und es wurde lange vermutet, dass die Regierung in Duschanbe durch informelle Abkommen mit entsprechenden Warlords an den Geschäften beteiligt ist. Möglicherweise ist der Drogenfluss durch die Region nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan derart stark geworden, dass die tadschikische Regierung einen zu großen Machtgewinn der lokalen Anführer fürchtet, wenn diese weiterhin ungestört ihren Geschäften nachgehen könnten. Eine weitere Erklärung könnte in einer möglichen Amtsmüdigkeit Rachmons liegen. Rachmons Sohn Rustam, der aktuell dem Senat vorsitzt und Bürgermeister von Duschanbe ist, gilt als wahrscheinlicher Nachfolger. Mit der Zerschlagung der lokalen Machtstrukturen in GBAO hat die tadschikische Regierung die letzte Region des Landes unterworfen, die zuvor noch nicht unter ausschließlicher zentralstaatlicher Kontrolle stand. Das harte Vorgehen im Pamir könnte also auch eine Art Präventivschlag sein, um möglichen Instabilitäten während eines bevorstehenden Machtwechsels im Präsidentenamt vorzubeugen. Nachdem Russland 2014 die Krim annektiert hat mehrten sich Stimmen, die Putin ein Manöver zur Ablenkung von innenpolitischen sowie wirtschaftlichen Problemen Russlands unterstellten. Als stark remissenabhängiger Staat durchlebt Tadschikistan bereits seit der Corona-Pandemie massive Steigerungen von Lebensmittelpreisen und eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage. Der russische Angriffskrieg und die indirekten Folgen westlicher Sanktionen gegen Russland haben die sozioökonomische Situation im Land weiter verschärft. Die Eskalation in GBAO im November 2021 sowie Mai 2022, aber auch die jüngsten Angriffe Tadschikistans auf kirgisisches Territorium im Ferghana-Tal nähern den Verdacht, dass Rachmon wie Putin 2014 einen »Rally-around-the-Flag«-Effekt hervorrufen möchte, bei dem sich große Teile der Bevölkerung angesichts von inneren wie äußeren Bedrohungen hinter die staatliche Führung stellen.

Das Verhältnis zwischen der Aga Khan Foundation und Russland sowie Tadschikistan ist in den vergangenen Jahren von Schwankungen geprägt. Über die 2010er Jahre versuchte der Aga Khan gute Beziehungen zu Präsident Rachmon und zur russischen Regierung zu wahren. Noch 2017 bezeichnete der russische Außenminister Sergej Lawrow den Aga Khan als »guten Freund«. Mit dem Verbot der Aga Khan Foundation in Russland wird auch die Stiftungstätigkeit im Pamir schwieriger. Im Juni drohte das Bildungsministerium in Duschanbe der University of Central Asia die Lizenz zu entziehen. Bei Razzien in Chorugh wurden über den Sommer Listen von Personen erstellt, die für NGOs arbeiten, insbesondere die Aga Khan Foundation. Die aus dem Pamir stammende Journalistin Ulfathonim Mamadschoewa äußerte während eines live im Staatsfernsehen gesendeten erzwungenen Geständnisses, sie hätte die Kundgebungen in Chorugh organisiert und zudem Tausende Dollar von einer gemeinnützigen Medienentwicklungsorganisation aus Kalifornien erhalten. Zudem wurden Bilder im Fernsehen gezeigt, wie sie sich in Duschanbe mit einem Mitarbeiter der US-Botschaft trifft. Es spricht also einiges dafür, dass Rachmon im Westen mittlerweile eine destruktive Kraft sieht, welche seine Macht gefährdet. Zynischerweise wurde die Niederschlagung der Proteste im Pamir im Mai 2022 als »Spezial-Antiterror-Operation« bezeichnet.

Fazit

Die Niederschlagung der Proteste in GBAO markiert einen Tiefpunkt der staatlichen Repression gegen die pamirische Minderheit, nachdem die eigentliche Opposition im Land schon die Jahre zuvor systematisch ausgeschaltet wurde. Präsident Rachmon hat im Verlauf der 2010er Jahre eine ähnliche Aversion gegenüber NGOs entwickelt, wie sie sich zuvor in Russland und Belarus durch eine entsprechende Gesetzgebung zur Unterdrückung der organisierten Zivilgesellschaft manifestiert hat. Während Moskaus Image unter der Bevölkerung im Pamir lange Zeit durchaus positiv war und Russland als Schutzmacht für den Pamir betrachtet wurde, ist es nun Putin selbst, der die humanitären Tätigkeiten der Aga Khan Foundation und anderer für Ismailiten engagierte NGOs untergräbt. Die Aga Khan Foundation hat die ehemals sowjetische Daseinsfürsorge in GBAO übernommen und die lokale Zivilgesellschaft nach den Vorstellungen des Aga Khan gestärkt und transformiert. Die zunehmenden Repressalien Rachmons gegen die Region sowie die staatlichen Angriffe auf die Strukturen der AKDN fallen in eine Zeit, in welcher der Westen sein Engagement in Zentralasien zurückfährt und Russland mitten in Europa einen Angriffskrieg führt. Die westlich geprägte Aga Khan Foundation ist dabei nur ein weiteres Opfer seit dem Rückgang des westlichen Einflusses und dem Erstarken Chinas in Zentralasien. GBAO stehen möglicherweise schwere Zeiten bevor. Präsident Rachmon wird seinen Kurs unbeirrt fortsetzen und weiter jegliche Form von Opposition und möglicher Abweichung von seiner innenpolitischen Linie auslöschen. Sein Sohn Rustam wird diesen Kurs aller Wahrscheinlichkeit nach weiterführen.

Tadschikistan und das Autonome Gebiet Berg-Badachschan

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Lesetipps / Bibliographie

  • Lemon, Edward und Oleg Antonov. “Authoritarian legal harmonization in the post-Soviet space.” Democratization, vol. 27, no. 7, 2020, pp. 1221–1239.
  • Mostowlansky, T. (2017). Azan on the moon: Entangling modernity along Tajikistan’s Pamir Highway. University of Pittsburgh Press.
  • Reeves, Madeleine. 2014. Border Work: Spatial Lives of the State in Rural Central Asia. Ithaca: Cornell University Press.
  • Stanislawski, B. H. (2008). Para-States, quasi-states, and black spots: Perhaps not states, but not “ungoverned territories,” either. International Studies Review, 10[2], 366–396.

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