Der ambivalente Aufstieg einer ukrainischen »unzivilen Gesellschaft« nach dem Euromaidan

Von Andreas Umland (Zentrum für Europäische Sicherheit, Institut für Internationale Beziehungen Prag)

Zusammenfassung
Parteipolitischer Ultranationalismus war bislang in der postsowjetischen Ukraine – insbesondere bei nationalen Wahlen – ungewöhnlich schwach. Die drei wichtigsten rechtsradikalen Parteien »Freiheit« (Swoboda), »Rechter Sektor« (Prawyj Sektor) und »Nationales Corps« sind auch nach dem Euromaidan politisch marginal geblieben. Allerdings hat eine rechtsextreme »unzivile Gesellschaft« – die teils eng mit ultranationalistischen Parteien verbunden ist – im Kontext des anhaltenden Krieges mit Russland an öffentlicher Akzeptanz gewonnen. Die Aktivitäten dieser Nichtregierungsorganisationen und deren gelegentliche Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen verlangen nach sorgsamer Beobachtung durch ukrainische und ausländische Watch-Dog-Organisationen sowie Eindämmung durch die Kiewer Regierung.

Einführung

Der ukrainische Ultranationalismus war während des Großteils der postsowjetischen Geschichte des Landes in puncto landesweiter Parteien und Wahlen ein überraschend schwaches Phänomen. Trotz der enormen sozialen und wirtschaftlichen Spannungen in der ukrainischen Gesellschaft während der letzten 30 Jahre haben rechtsextreme Parteien und deren Bündnisse bei nahezu allen nationalen Wahlen miserabel abgeschnitten. Das ist angesichts der wiederholten Wahlerfolge rechtsradikaler und -populistischer Gruppierungen in etlichen ost- wie westeuropäischen Ländern im selben Zeitraum bemerkenswert.

Aufgrund ihres schwachen Abschneidens bei Wahlen waren extrem rechte, politisch ambitionierte Aktivisten oft genötigt, sich auf Regional- und Lokalpolitik (insbesondere in der Westukraine) zu beschränken. Andere Akteure verblieben aufgrund der mangelnden Unterstützung rechtsradikaler Parteilisten im Rahmen dessen, was in der vergleichenden Politikwissenschaft als »unzivile Gesellschaft« bezeichnet wird. Dieser Begriff bezeichnet eine Kategorie von Nichtregierungsorganisationen, die primär weder gewinn- noch machtorientiert sind und somit als zivilgesellschaftliche Akteure betrachtet werden können. Jedoch sind die Ideen, Ziele, Netzwerke und Aktionen solcher unzivilen Gruppen im- oder explizit antidemokratisch. Sie verbreiten keine bürgerschaftlichen Werte, die auf Gleichstellung, Toleranz und Pluralismus beruhen, sondern exklusive, manichäische und hierarchische Gesellschaftsbilder.

Solche Gruppen mögen zwar, wie auch gewöhnliche zivilgesellschaftliche Organisationen, hilfreich dabei sein, bei ihren Mitgliedern die Entwicklung organisatorischer, intellektueller, rhetorischer, emotionaler sowie anderer Fähigkeiten zu fördern. Doch werden diese Fertigkeiten dazu eingesetzt, autoritäre, xenophobe, homophobe, patriarchalische und andere illiberale Ideen zu propagieren oder gar durchzusetzen. Gelangen die Anführer oder Mitglieder solcher unziviler Organisationen in die hohe Politik, tendieren sie dazu, Demokratie abzubauen und nicht zu fördern.

Der kurze Aufstieg der Freiheitspartei 2012–2014

In der postsowjetischen Geschichte der Ukraine hat es nur einmal eine ultrarechte Partei gegeben, die zeitweise in der Werchowna Rada eine Fraktion stellte, nämlich 2012–2014 die Allukrainische Union »Swoboda« (dt.: »Freiheit«). Vom März bis zum Oktober 2014 war »Swoboda« zudem acht Monate lang mit einigen Ministern in der ersten Regierung nach der Revolution der Würde vertreten. Der relative Erfolg von Swoboda bei den Parlamentswahlen 2012 mit 10,44 Prozent und die kurze Regierungsbeteiligung nach dem Euromaidan kamen beide unter besonderen politischen Umständen zustande.

Der kurzzeitige Vorstoß von Swoboda in die nationale Politik war vor allem eine Reaktion auf den Aufstieg kremlnaher antiukrainischer politischer Akteure sowie eine Folge von Disziplinlosigkeit und Uneinigkeit im gemäßigten nationalliberalen Parteienlager. Bevor Swoboda 2012 ins Parlament einzog, hatte die moskaufreundliche Außen- und Kulturpolitik etlicher prorussischer Regierungsmitglieder sowie Parlamentsabgeordneter unter Präsident Wiktor Janukowytsch patriotische Teile der Wählerschaft der Ukraine mobilisiert und radikalisiert. Gleichzeitig verletzte eine Anzahl von Abgeordneten, die bei den Parlamentswahlen 2007 über die prowestlichen Parteilisten »Unsere Ukraine – Nationale Selbstverteidigung« und »Julija-Tymoschenko-Block« in die Werchowna Rada eingezogen waren, ihre Mandate, nachdem Janukowytsch 2010 zum Präsidenten gewählt wurde.

Die Mandatswechsler wurden in der Ukraine ironisch als Tuschki gebrandmarkt – ein unübersetzbares russisches Wort, das tote Tierkörper meint und mit dem Begriff »Zombies« übertragen werden kann. Etliche Parlamentarier der Fraktionen Wiktor Juschtschenkos und Julija Tymoschenkos schlugen sich im Sommer 2010 auf die Seite der neuen prorussischen Regierungskoalition, die das Kabinett von Premierminister Mykola Asarow (der heute in Russland lebt) stützte, und wurden damit zu Tuschki. Dies geschah, obwohl diese 2010 überlaufenden Tuschki-Abgeordneten drei Jahre zuvor über geschlossene Listen der beiden »orangen« Wahlbündnisse Juschtschenkos und Tymoschenkos gewählt worden waren. Vor diesem Hintergrund war vor den Parlamentswahlen 2012 eines der Wahlversprechen von Swoboda, dass die Listen- und Direktkandidaten der Freiheitspartei im Falle ihrer Wahl das Vertrauen der Wähler nicht verraten würden – ein Gelöbnis, das alle gewählten Swoboda-Abgeordneten im Anschluss getreu einhielten.

Im März 2014 erhielt Swoboda aufgrund von Differenzen zwischen den beiden wichtigsten nationalliberalen Fraktionen, der Partei »Vaterland« (»Batkiwschtschyna«) unter der Führung von Arsenij Jazenjuk und der »Ukrainischen Demokratischen Allianz für Reformen« (ukr. Abk.: UDAR, russ.: Schlag) von Witalij Klytschko, darüber hinaus einige Ministerposten im ersten Post-Euromaidankabinett. Da UDAR sich nicht an der postrevolutionären Übergangsregierung beteiligen wollte und die »Partei der Regionen« Janukowytschs sich in Auflösung befand, wäre nur ein nationalliberales Einfraktionskabinett möglich gewesen. Vor diesem Hintergrund gestand »Vaterland« der Partei »Swoboda« die Leitung einiger Ministerien sowie den Posten des Generalstaatsanwalts zu. In den folgenden acht Monaten folgte die Freiheitspartei von Oleh Tjahnybok in der Regierung meist dem Kurs, den die Nationalliberalen vorgaben. Im September 2014 etwa stimmte die Swoboda-Fraktion einstimmig für die Ratifizierung des Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der EU – eine bemerkenswerte Entscheidung für eine rechtsradikale Partei, die mit vielen Grundwerten der EU uneins ist.

Das ultranationalistische Potenzial in der Ukraine

In der Ukraine gibt es seit den frühen 1990er Jahren, wie in den meisten europäischen Ländern, ein differenziertes rechtes Parteienspektrum, mit ca. einem Dutzend mehr oder minder radikaler nationalistischer politischer Organisationen, die regelmäßig an landesweiten, regionalen und Kommunalwahlen teilnehmen. Mitunter schlossen diese Gruppen aus wahltaktischen Gründen Bündnisse untereinander oder mit gemäßigteren Gruppierungen. So veranstalteten die drei wichtigsten ultrarechten Parteien »Swoboda«, »Nationales Corps« und »Rechter Sektor« sowie einige kleinere Gruppen im März 2017 einen gemeinsamen Kongress, auf dem sie ein sog. Nationales Manifest verabschiedeten.

Die radikale Rechte der Ukraine verfügte in der Vergangenheit und verfügt auch heute über eine Anzahl prominenter und weithin bekannter Führungsfiguren wie Jurij Schuchewytsch, Dmytro Kortschinskyj, Oleh Tjahnybok, Dmytro Jarosch, Andrij Bilezkyj oder Ruslan Koschulinskyj. Neben dem relativen Erfolg von Swoboda bei den Parlamentswahlen 2012 erzielte die ukrainische extreme Rechte gelegentlich bei Regional- und Kommunalwahlen – insbesondere in der Westukraine – sowie bei Parlamentswahlen in Direktwahlkreisen Einzelerfolge. Bei den meisten landesweiten Abstimmungen nach Verhältniswahlrecht stimmte allerdings lediglich ein kleiner oder sehr kleiner Teil der Wählerschaft für ultranationalistische Gruppen.

Die aus marginalen Grüppchen nach dem Euro-Maidan entstandenen Parteien Rechter Sektor und Nationales Corps haben seit 2014 immer wieder deutlich gemacht, dass sie nach politischer Macht streben. Der ehemalige Anführer des Rechten Sektors, Dmytro Jarosch, und der derzeitige Anführer des Nationalen Corps, Andrij Bilezkyj, waren von 2014 bis 2019 Abgeordnete der 8. Werchowna Rada. Sie kommen beide aus der Ostukraine und zogen mit Direktmandaten ins Parlament ein – Jarosch aus einem Wahlkreis in seiner Heimatregion Dnipropetrowsk und Bilezkyj aus dem Kiewer Stadtbezirk Obolon. Der Rechte Sektor war Ende 2013 aus einer losen Verbindung unterschiedlicher nationalistischer Kleingruppen hervorgegangen, die sich auf dem Euromaidan um Jaroschs bis dahin kaum bekannte Wehrsportgruppe »Dreizack Stepan Banderas« scharten. Im April 2014 gründete der Rechte Sektor das sog. Freiwillige Ukrainische Corps (ukr. Abk.: DUK) – eine kleine paramilitärische Einheit, die am Donbas-Krieg teilnahm und bis heute ein irreguläres Bataillon ist.

Die politische Partei Nationales Corps ging aus den neonazistischen Jugendgruppen »Patriot der Ukraine« und »Sozial-Nationale Versammlung« unter der Führung von Andrij Bilezkyj hervor. Im Sommer 2014 bildeten die Anführer dieser beiden Gruppen den Kern des semiregulären Freiwilligenbataillons »Asow«, das inzwischen ein reguläres Regiment der Nationalgarde beim Innenministerium der Ukraine ist. Mitglieder, Veteranen und Sympathisanten von »Asow« gründeten am 14. Oktober 2016 die Partei Nationales Corps mit Bilezkyj als Vorsitzendem.

Sowohl der Rechte Sektor als auch das Nationale Corps ziehen ihren heutigen Ruhm aus der medienwirksamen Beteiligung ihrer Anführer an der Verteidigung der Ukraine gegen Russland. Während die marginalen Vorläufergruppen der beiden Parteien vielen Ukrainern kaum bekannt waren, wurden Jarosch, Bilezkyj und einige andere radikale nationalistische Politiker ab 2014 zu nationalen Kriegshelden. Jarosch wurde sogar im Krieg verwundet. Durch die Beteiligung von Ultranationalisten am Krieg, oft mit eigenen Freiwilligenbataillonen, hat sich deren öffentliches Profil, soziale Stellung, politische Legitimität und allgemeine Popularität in der Ukraine merklich erhöht.

Paradoxerweise hat die deutlich gewachsene nationale wie internationale Sichtbarkeit und gesellschaftliche Akzeptanz radikaler Nationalisten in der Ukraine seit 2014 allerdings kaum Erfolge an der Wahlurne nach sich gezogen, zumindest nicht bei landesweiten Wahlen. Im Gegenteil: Der Wählerzuspruch für Swoboda sank bei den Parlamentswahlen vom Oktober 2014 gegenüber 2012 von 10,44 Prozent auf 4,7 Prozent. Fünf weitere Jahre später sank er bei den jüngsten Wahlen zur Werchowna Rada noch einmal auf 2,15 Prozent.

Letzteres Ergebnis war für die Ultranationalisten umso frustrierender, als Swoboda bei den Parlamentswahlen im Juli 2019 in einer offiziellen Listenvereinigung mit dem Rechten Sektor, Bilezkyjs Nationalem Corps und Jaroschs sog. Staatsinitiative angetreten war. Damit waren die vier wichtigsten rechtsradikalen Kräfte in einem Block zusammengefasst und keine Konkurrenten untereinander, wie es im Oktober 2014 zwischen Swoboda und dem Rechten Sektor der Fall gewesen war. Der vereinigte Ultranationalistenblock scheiterte im Juli 2019 nichtsdestoweniger überraschend klar an der Fünf-Prozent-Hürde und konnte nur ein Direktmandat erringen.

Die Präsidentschaftskandidaten der Rechten waren in den vergangenen zehn Jahren mit Ergebnissen von konstant weniger als 2 Prozent noch erfolgloser als ihre Parteilisten. Unmittelbar nach dem Euromaidan erhielten im Mai 2014 Tjahnybok 1,16 Prozent und Jarosch 0,7 Prozent, während Koschulinskyj als gemeinsamer Kandidat der meisten rechtsradikalen Gruppen im März 2019 immerhin 1,62 Prozent erreichte. Er schnitt damit fünf Jahre nach der Revolution der Würde ähnlich miserabel ab, wie es Tjahnybok als Kandidat von Swoboda gut drei Jahre vor Beginn des Euromaidans mit 1,43 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen 2010 ergangen war.

Die stabil geringe Wählerunterstützung für Rechtsradikale in den beiden unterschiedlichen historischen Phasen der Ukraine vor und nach dem Euromaidan ist bemerkenswert. Nicht nur hat sich die Wählerdemographie der Ukraine durch die russische Annexion der Krim und Okkupation des östlichen Donezbeckens im Frühjahr/Sommer 2014 zugunsten der Ethnonationalisten entwickelt, da sie in diesen Teilen der Ukraine kaum Unterstützung hatten und haben. Die niedrigen Wahlergebnisse der Rechten sind umso beachtlicher, als sich die ukrainische Gesellschaft seit 2014 aufgrund des anhaltenden heißen Konfliktes im Donbas und des allgemeinen Hybridkrieges des Kremls gegen die Ukraine in einem permanenten geopolitischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und psychischen Stresszustand befindet.

Diese Umstände hätten an und für sich einen günstigen Hintergrund für ethnozentrische Propaganda und den Aufstieg ultranationalistischer Gruppen liefern müssen. Allerdings konnte bis Ende 2019 in der politischen Landschaft der Ukraine kaum etwas beobachtet werden, was auch nur annähernd an die hohen Wahlergebnisse oder jahrelange Regierungsbeteiligung verschiedener Rechtspopulisten und Ultranationalisten in etlichen anderen europäischen Ländern erinnern würde. Vielmehr stellt sich die Ukraine nach fünf Jahren Krieg als ein Land dar, dass 2019 mit Wolodymyr Selenskyj nicht nur einen jüdischstämmigen Präsidenten wählte, sondern für ca. drei Monate gleichzeitig auch einen jüdischstämmigen Premierminister hatte – Wolodymyr Hroisman, der von April 2016 bis August 2019 die ukrainische Regierung führte.

Die zunehmende gesellschaftliche Verankerung der Ultrarechten

Nichtsdestotrotz bleiben eine aufmerksame Beobachtung und ggf. entschiedene Zurückdrängung rechtsradikaler Aktivitäten wichtige Aufgaben für ukrainische und internationale Watch-Dog-Organisationen. Das ultranationalistische Milieu der Ukraine mag zwar an der Wahlurne erfolglos sein und bleiben. Doch hat dessen zahlenmäßige Stärke seit dem Euromaidan eher zu- als abgenommen. Die Rechte insgesamt ist organisatorisch besser aufgestellt und taktisch raffinierter geworden.

Die Rechtsradikalen bleiben weitgehend von der nationalen ukrainischen Politik ausgeschlossen und haben nach den letzten Parlamentswahlen selbst ihre zuvor schon nur geringe Repräsentanz in der Werchowna Rada fast vollständig eingebüßt. Doch haben sich in den vergangenen Jahren viele ultranationalistische Aktivisten unterschiedlichen Projekten in der ukrainischen »unzivilen Gesellschaft« zugewandt, und zwar in einer großen Bandbreite von Bereichen – angefangen von geschichtspolitischen Fragen über Korruptionsbekämpfung bis hin zum Umweltschutz. Mitunter haben es ultrarechte Gruppen geschafft, staatliche Protektion und Unterstützung für ihre Aktivitäten zu erhalten, etwa im Rahmen bestimmter Veteranen- und Bildungsprogramme.

Auch vor 2014 waren Teile der nationalliberalen politischen Elite der Ukraine bereit, mit Rechtsradikalen zusammenzuarbeiten. Allerdings waren diese Allianzen meist situationsbedingt und weniger strategischer oder ideeller Natur. Je länger der bewaffnete Konflikt mit Russland andauert, desto stärker vermögen es heute selbst Randgruppen wie die inzwischen weithin bekannte Neonazi-Gruppe S14 (oder C14), in die ukrainische Gesellschaft und in öffentliche Angelegenheiten integriert zu werden. Die Distanz zwischen dem Mainstream und extremistischer Politik, zwischen ziviler und unziviler Gesellschaft, gemäßigten und radikalen nationalistischen Gruppen, schrumpft nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch kulturell und mental. Die offizielle politische Rhetorik der Ukraine, der Diskurs in den Medien, die Kulturpolitik sowie die Debatte über erinnerungspolitische Fragen sind zwischen 2014 und 2019 mit jedem Jahr militanter und patriotischer geworden. Dadurch haben auch extrem rechte historische und heutige Vorstellungen, Führungsfiguren und Organisationen in der ukrainischen Gesellschaft an sozialer Akzeptanz, wenn nicht Sympathie gewonnen.

In westlichen Demokratien liegt die wichtigste politische Trennlinie heute zwischen den Anhängern und den Gegnern von kulturellerem oder sozialem Liberalismus. In der Ukraine hingegen drehen sich die wichtigsten politischen Fragen um die Haltung der jeweiligen Person oder Gruppe zur nationalen Unabhängigkeit der Ukraine, zum Krieg mit Russland, zum korrupten oligarchischen System und zur Westorientierung, wobei letztere eher als geopolitische Ausrichtung denn als normative Bindung verstanden wird. Da die ukrainischen Ultranationalisten zu großen Teilen ähnliche Antworten auf diese Fragen geben wie viele ukrainische Nationalliberale, werden erstere von letzteren immer mehr akzeptiert.

So war zum Beispiel im Januar 2019 der Anführer der erwähnten neonazistischen Gruppe S14, Jewhen Karas, ein Mitglied der ukrainischen Delegation beim Ökumenischen Patriarchat Konstantinopel in Istanbul. Anlass war die Verleihung der Autokephalie an die Ukrainische Orthodoxe Kirche durch das inoffizielle Oberhaupt der Ostchristentums Bartholomäus I. Die Anwesenheit von Karas bei der offiziellen Zeremonie sorgte unter ukrainischen und ausländischen Menschenrechtsaktivisten für Aufsehen. Der peinliche Zwischenfall wurde in der ukrainischen Gesellschaft jedoch zu keinem großen Thema. Aufmerksamkeit erregte vielmehr die Teilnahme eines ukrainischen Geschäftsmanns mit kriminellem Hintergrund, der ebenfalls bei der Kirchenzeremonie in Istanbul zugegen war.

Weder S14 noch Swoboda oder der Rechte Sektor stellen allerdings heute die größte ultranationalistische innere Gefahr für die junge Demokratie in der Ukraine dar. Eher könnte die facettenreiche »Asow-Bewegung« mit ihrem regulären Regiment bei der ukrainischen Nationalgarde, ihren Verbindungen in die Führung des Innenministeriums, ihrer Partei Nationales Corps, ihrer unbewaffneten Bürgerwehr »Nationale Gefolgschaften« (Nazionalni drushyny) und diversen anderen Ablegern, eine langfristig größte Bedrohung seitens des ukrainischen Rechtsextremismus darstellen. Die Asow-Bewegung hat es im Gegensatz zu früheren ukrainischen ultrarechten Organisationen vermocht, eine multidimensionale und betont moderne soziale Bewegung zu schaffen, die besonders für junge Menschen attraktiv und nicht, wie im Falle Swobodas, regional beschränkt ist.

Die ältere Freiheitspartei ist zwar an der Wahlurne und als Organisation immer noch stärker als das Nationale Corps. Sie ist heute allerdings nur noch in Galizien eine relevante politische Kraft. Der Rechte Sektor hat seit Ende 2014 seine Dynamik aus der Zeit während und nach dem Euromaidan eingebüßt. Nach dem Austritt seines Gründungsvaters und prominentesten Anführers Dmytro Jarosch Ende 2015 ist der Rechte Sektor zu einer Randerscheinung mit nur geringer Organisationsstärke und Wählerunterstützung geworden. Jarosch wiederum hat es nach seinem Weggang vom Rechten Sektor bislang nicht geschafft, aus seiner 2016 gegründeten sog. Staatsinitiative eine bedeutsame Organisation zu machen.

»Asow« hingegen hat – als eine Bewegung, die ursprünglich aus dem weitgehend russischsprachigen Charkiw stammt – eine gleichmäßigere Verbreitung im Land und war noch nicht von größeren Abspaltungen betroffen gewesen. Vor allem fungiert die Asow-Bewegung als eine dynamische unzivile Assoziation, die ihre Unterstützung unter Jugendlichen im Inland und ihre Kontakte unter Rechtsextremisten im Ausland intensiv ausbaut. Sie ist ein sichtbarer Teil internationaler Netzwerke rechter Aktivisten geworden und unterhält Verbindungen zu diversen, meist rassistischen Randgruppen im Ausland, unter anderem in den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und der Russischen Föderation.

Schlussfolgerungen

Das auch 2019 weiterhin ungewöhnlich schwache Abschneiden ukrainischer Rechtsradikaler an den Wahlurnen ist ermutigend. Die geringe gesellschaftliche Unterstützung für parteipolitisch organisierten Ultranationalismus in der Ukraine ist erstaunlich, wenn man dieses Phänomen mit jüngeren Wahlerfolgen rechter Populisten und Extremisten in anderen europäischen Ländern vergleicht. Trotz des aktiven bewaffneten Konfliktes im Osten der Ukraine und der weiten Verbreitung von Schusswaffen seit 2014, haben es die ukrainischen Rechtsextremisten bisher weitgehend unterlassen, in innerukrainischen politischen Auseinandersetzung die ihnen zur Verfügung stehenden Waffen einzusetzen.

Allerdings gibt es mindestens vier Tendenzen in der Entwicklung des ultranationalistischen Milieus der Ukraine seit 2014, die Anlässe zu Sorge bereiten. Zum einen wächst aufgrund Russlands Krieges gegen die Ukraine die Toleranz und teils sogar eine Sympathie der ukrainischen Elite wie Gesellschaft in Bezug auf historische wie zeitgenössische radikale nationalistische Organisationen, Aktionen und Personen. Zweitens haben seit 2014 bestimmte ultrarechte Organisationen über die Gründung von paramilitärischen Freiwilligenverbänden Zugang zu Schusswaffen und ja zum Teil gar zu schweren Waffen erlangt. Einige rechtsextreme Parteien kontrollieren immer noch ir- oder semireguläre militärische Gruppen wie das Freiwillige Ukrainische Corps des Rechten Sektors oder die sog. Ukrainische Freiwilligenarmee von Jaroschs Staatsinitiative, wobei die Begriffe »Corps« und »Armee« für diese kleinen bewaffneten Einheiten hyperbolisch sind. Drittens sind ultrarechte Organisationen zunehmend in der außerparlamentarischen Opposition, unzivilen Gesellschaft, Kulturlandschaft, Kommunalpolitik und inoffiziellen internationalen Beziehungen der Ukraine präsent.

Viertens führt die allgemein wachsende Duldsamkeit der ukrainischen Gesellschaft gegenüber rechtsradikalen Kriegsveteranen zu einer schwächeren Abgrenzung des Staates von ultranationalistischen Gruppen. So hat es wiederholt Fälle einer Zusammenarbeit zwischen bestimmten Regierungsinstitutionen wie dem Sicherheitsdienst oder dem Veteranenministerium der Ukraine einerseits und Teilen der rechtsradikalen Szene andererseits gegeben. Die Ukraine bleibt zwar mit Blick auf die Wahlergebnisse ultrarechter Parteien eine positive Ausnahme. Die steigende öffentliche Präsenz unziviler Gruppen im ukrainischen Alltag und zunehmende gesellschaftliche Unterstützung für den historischen wie auch heutigen ukrainischen Ultranationalismus sind allerdings neue Aufmerksamkeit erfordernde Merkmale der Ukraine nach dem Euromaidan.

Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

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  • Anti-Equality Monitoring: Ukraine’s Ministry of Veterans Affairs Embraced the Far Right – With Consequences to the U.S., in: Bellingcat, 11. November 2019. www.bellingcat.com/news/uk-and-europe/2019/11/11/ukraines-ministry-of-veterans-affairs-embraced-the-far-right-with-consequences-to-the-u-s/.
  • Chambers, Simone; Jeffrey Kopstein: Bad Civil Society, in: Political Theory, 29.2001, Nr. 6, S. 837–865.
  • Griffin, Roger: From Slime Mould to Rhizome. An Introduction to the Groupuscular Right, in: Patterns of Prejudice, 37.2003, Nr. 1, S. 27–50.
  • Kuzmenko, Oleksiy: ‘Defend the White Race’. American Extremists Being Co-Opted by Ukraine’s Far-Right, in: Bellingcat, 15. Februar 2019. www.bellingcat.com/news/uk-and-europe/2019/02/15/defend-the-white-race-american-extremists-being-co-opted-by-ukraines-far-right/ .
  • Likhachev, Viacheslav: The ‘Right Sector’ and Others. The Behavior and Role of Radical Nationalists in the Ukrainian Political Crisis of Late 2013 – Early 2014, in: Communist and Post-Communist Studies, 48.2015, Nr. 2, S. 257–271.
  • Mierzejewski-Voznyak, Melanie: The Radical Right in Post-Soviet Ukraine, in: Jens Rydgren (Hg.): The Oxford Handbook of the Radical Right, Oxford: Oxford University Press 2018, S. 608–629.
  • Rechtsextremismus in der Ukraine. Gruppierungen und ihre Aktivitäten im Überblick. Berlin: Rosa Luxemburg Stiftung 2019.
  • Shekhovtsov, Anton: From Electoral Success to Revolutionary Failure. The Ukrainian Svoboda Party, in: Eurozine, 5 März 2014. http://www.eurozine.com/articles/2014-03-05-shekhovtsov-en.html/.
  • Shekhovtsov, Anton; Andreas Umland: Ukraine’s Radical Right, in: Journal of Democracy, 25.2014, Nr. 3, S. 58–63.
  • Umland, Andreas: Der Begriff der »unzivilen Gesellschaft« als Instrument der historischen und aktuellen Rechtsextremismusforschung, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 21.2008, Nr. 4, S. 63–67.
  • Umland, Andreas: Irregular Militias and Radical Nationalism in Post-Euromaidan Ukraine. The Prehistory and Emergence of the ‘Azov’ Battalion in 2014, in: Terrorism and Political Violence, 31.2019, Nr. 1, S. 105–131.

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