Eine neue Normalität

Von Heiko Pleines (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

Die Kontrolle über die Krim hat die Ukraine mit der russischen Annexion der Halbinsel auf absehbare Zeit verloren. Dasselbe muss nun wohl auch für die Separatistengebiete im Osten des Landes konstatiert werden. Obwohl der vereinbarte Waffenstillstand täglich gebrochen wird und die OSZE-Beobachtermission im Kampfgebiet zunehmend bedroht wird, rechnet niemand mit größeren Militäraktionen, die die Waffenstillstandslinie nachhaltig verschieben könnten.

Die in den Minsker Vereinbarungen vorgesehene dauerhafte Lösung des Konfliktes ist ebenfalls unrealistisch. In der Ukraine ist die Verfassungsreform, die den Separatisten Autonomie gewähren soll, politisch nicht durchsetzbar. Die Separatisten wiederum sind nicht bereit, freie und faire Wahlen in ihrem Gebiet zu riskieren, da sie sich des Ergebnisses nicht sicher sein können.

Gleichzeitig haben sich die beiden »Volksrepubliken« in der Ostukraine mit massiver russischer Hilfe konsolidiert und sind entgegen einiger früherer Prognosen weder von einem organisatorischen Kollaps noch von Massenprotesten der verbliebenen Bevölkerung bedroht. Regelmäßige russische Hilfskonvois – bisher 50 mit insgesamt über 60.000 Tonnen Hilfsgütern – über die unkontrollierte russische Grenze in die Separatistengebiete stellen die Versorgung sicher. Die Volksrepubliken besitzen mittlerweile auch die Organe und Regeln von Staaten und sind somit zu de facto-Staaten geworden – ähnlich wie vorher bereits mit russischer Unterstützung Transnistrien, Abchasien und Südossetien.

Die Ukraine muss sich deshalb auf eine neue Normalität einstellen. Dabei geht es nicht nur darum, dass die Krim und Teile des Donbass nicht mehr unter ukrainischer Kontrolle sind und die wirtschaftlichen Verflechtungen mit diesen Gebieten und auch mit Russland zu einem großen Teil abgerissen sind. Es bedeutet auch, dass die Ukraine über 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge langfristig integrieren muss. Die Kämpfe an der Waffenstillstandslinie in der Ostukraine belasten außerdem die innere Sicherheit. Waffen gelangen unkontrolliert ins ganze Land, die Gewaltkriminalität hat zugenommen und traumatisierte Teilnehmer und Opfer der Kämpfe, darunter viele Kinder, benötigen eine psychologische Betreuung, die in der Ukraine noch nicht existiert.

Auf der Seite der politischen Eliten der Ukraine gilt trotz der ursprünglich großen Hoffnungen in junge Reformer und eine erstarkende Zivilgesellschaft allerdings immer noch die alte Realität. Da moralisch integre Lichtgestalten wie Mahatma Gandhi oder Nelson Mandela nur in historischen Ausnahmefällen politische Macht erhalten, sind in der Ukraine weiterhin Politiker an der Macht, die zu den alten Eliten gehören und denen die eigene Machtsicherung, die eigene Schokoladenfabrik und der eigene Fernsehsender wichtiger sind, als eine moralische Erneuerung der Politik. Sie nehmen die oben aufgezählten Probleme mehrheitlich als Ausrede für den Verzicht auf unangenehme Reformen und nicht als Warnsignal, dass durchgreifende Reformen dringender denn je benötigt werden.

Wenn der Euromaidan einen Demokratisierungsschub darstellt, dann müssen in der Ukraine in dieser Situation demokratische Prinzipien greifen. Demokratien gehen ja gerade nicht davon aus, dass die Besten an die Macht kommen. Dann wäre der wohlwollende Diktator die optimale Lösung. Stattdessen basieren Demokratien auf der Einsicht, dass Macht jeden korrumpieren kann und die Machthaber deswegen ständig kontrolliert werden müssen, sowohl durch gegenseitige Kontrolle im Rahmen der Gewaltenteilung als auch durch die Bevölkerung im Rahmen von Wahlen und freier Medienberichterstattung. Diese Kontrolle zwingt die Machthaber – so die demokratische Idee – im Interesse des eigenen Machterhalts die Interessen der Bevölkerung und damit des ganzen Landes zu berücksichtigen.

Ein Teil dieser Idee funktioniert auch in der Ukraine. Die Bevölkerung ist mit der Politik unzufrieden, und sowohl Wahlprognosen als auch freie Medien geben dieser Unzufriedenheit sichtbar Ausdruck. Die Politiker reagieren aber nicht auf diese Signale. Offensichtlich fehlt der Druck, der für durchgreifende Verhaltensänderungen erforderlich wäre.

Damit scheint sich die Geschichte der Orangen Revolution zu wiederholen. Die politischen Eliten schaffen es innerhalb nur eines Jahres, breite Reformbegeisterung und einen Vertrauensvorschuss in Frustration zu verwandeln. Ein solcher Fehler wiegt im Wiederholungsfall immer schwerer. Wenn ein Land wie die Ukraine am Abgrund steht, ist er unverzeihlich. Dies markiert das historische Versagen des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko.

Wenn die Ukraine trotzdem ihre Krise bewältigen will, braucht sie einen funktionierenden Rechtsstaat, der die alten Eliten diszipliniert, und eine neue glaubwürdige, demokratische Bewegung, die sich überzeugend zur Wahl stellt. Es verlangt viel Optimismus, vor allem auf Seiten der ukrainischen Bevölkerung, an diesen langen und schweren Weg zu glauben.

Es geht aber nicht nur um demokratische Prinzipien in der Ukraine, sondern auch um Prinzipien des internationalen Rechts. Genau wie in der Ukraine die Dominanz der alten inkompetenten und korrupten politischen Eliten zunehmend pragmatisch bis resignierend akzeptiert wird, so scheint die EU zunehmend bereit zu sein, die russische Annexion der Krim und die russische Unterstützung für die Separatisten in der Ostukraine als neue Normalität zu verstehen.

Wenn die Verletzung von Regeln keine nachhaltigen Konsequenzen hat, dann kann weder bei den Reformbemühungen in der Ukraine noch beim internationalen Auftreten Russlands mit einer Verbesserung gerechnet werden. Diejenigen, die für eine Einhaltung der Regeln stehen, werden dann als schwach angesehen und mit Arroganz bestraft – sei es die ukrainische Bevölkerung im Falle der Demokratisierung des Landes oder die EU im Falle der Sicherung der territorialen Integrität von Staaten. Beides sollte nicht Teil einer neuen Normalität werden.

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