Das Strafvollzugssystem der Russischen Föderation. Bestrafung statt Resozialisierung?

Von Alexander Dubowy (Gesellschaft für Eurasische Studien (EURAS), Wien/), Ilona Luzyanina (Gesellschaft für Eurasische Studien (EURAS), Wien)

Zusammenfassung
Aleksej Nawalnyj verbüßt seine Haftstrafe in einer Besserungsarbeitskolonie mit allgemeinem Strafvollzug. Dies ist der häufigste Typ der Justizvollzugsanstalt in Russland und ist mit westlichen Gefängnissen nicht vergleichbar. Denn das russische Strafvollzugssystem ist komplex und unterscheidet sich grundlegend vom dem im Westen. In der folgenden Analyse wird die Entwicklung der Häftlingszahlen, der Anstieg politisch motivierter Verfahren sowie die verschiedenen Typen von Justizvollzugsanstalten in Russland besprochen.

Entwicklung der Anzahl der Häftlinge in Russland

Während im Jahr 2000 1.060.404 Häftlinge (683 Personen pro 100.000 Einwohner:innen) einsaßen, waren es im Jahr 2020 mit 523.928 Personen (363 Personen pro 100.000 Einwohner:innen) deutlich weniger. Zum 1. März 2021 befinden sich 479.400 Personen (332 Personen pro 100.000 Einwohner:innen) in Justizvollzugsanstalten (https://www.prisonstudies.org/country/russian-federation). Im Vergleich dazu ist die relative Zahl der Häftlinge in den USA in den letzten Jahren konstant bei ungefähr 650 Personen; in Deutschland beträgt sie ungefähr 80.

Der Föderale Strafvollzugsdienst (FSIN) begründet diesen Rückgang mit der weit verbreiteten Anwendung von alternativen Strafen ohne Freiheitsentzug, wie z. B. Hausarrest oder der Registrierung bei strafrechtlichen Exekutivinspektionen (zum 01. März 2021 452.747 Personen), bei der sich die Verurteilten regelmäßig zu melden haben, und der allgemeinen Liberalisierung der Strafvollzugspolitik, insbesondere auch im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts. Die häufigsten Straftaten sind Verbrechen im Zusammenhang mit Drogenhandel, gefolgt von Mord und Totschlag, Diebstahl, Raub sowie Sexualstraftaten (https://fsin.gov.ru/structure/inspector/iao/statistika/Xar-ka%20lic%20sodergahixsya%20v%20IK/).

Strafverfahren werden bei offensichtlichen Straftaten (Auffinden einer Leiche, offensichtlicher Diebstahl, Auffinden von Drogen etc.) eingeleitet. Sind die Verdächtigen bekannt und besteht die Gewissheit, dass ihre Schuld nachgewiesen werden kann, ist die Polizei motiviert, ein Strafverfahren einzuleiten, da ein solches Verfahren die Statistik der aufgeklärten Straftaten verbessert. Sobald ein Verfahren eingeleitet ist, ist es für die Behörden aus bürokratischen Gründen wenig vorteilhaft, dieses ohne Schuldspruch einzustellen. Daher wird in nur 18 Prozent der Fälle, die der Polizei gemeldet werden, von der Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren eingeleitet (Art. 37 Strafprozessordnung RF). Fast 90 Prozent der Fälle, in denen ermittelt wird, werden vor Gericht gebracht. In der EU hingegen erhebt die Staatsanwaltschaft nur in ungefähr 25 Prozent der Fälle Anklage.

Nur selten endet ein Verfahren mit einem Freispruch. Im Jahr 2019 gab es insgesamt 2.256 Freisprüche (0,36 Prozent), 2018 waren es 2.083 (0,3 Prozent), 2017 2.233 (0,3 Prozent), in den Jahren davor war die Zahl der Freisprüche nicht beachtenswert höher. Seither sinkt nicht nur die Zahl der Freisprüche konstant, auch das Vertrauen in die Gerichte geht zurück: Richter:innen seien parteiisch, Behörden legen das Gesetz zu ihren Gunsten aus, die Eliten stellen sich über das Gesetz.

Drei Viertel der Angeklagten bekennen sich schuldig und stimmen einem sog. besonderen Verfahren [osobyj porjadok] zu. Nur 4 Prozent leugnen ihre Schuld gänzlich. Nur sie haben eine – wenn auch äußerst geringe – Chance auf einen Freispruch. Dieses Verfahren wird in Russland seit 2002 aktiv angewendet. Dabei geben die Angeklagten in der Hoffnung auf ein mildes Urteil ein umfassendes Geständnis ab und das Urteil wird ohne Beweisverfahren gefällt. Die Gerichte und die Staatsanwaltschaft profitieren dabei vom geringeren Arbeitsaufkommen. So wird nicht nur am Arbeitsaufwand gespart, sondern auch die Aufklärungsrate verbessert. Darüber hinaus kann ein, in einem derartigen Verfahren gefälltes Urteil nicht angefochten werden (Art. 317 Strafprozessordnung RF). Insgesamt werden 71 Prozent der Verfahren auf diese Weise geführt (https://www.fairtrials.org/publication/disappearing-trial-report#selected-country-usage), was zur Folge hat, dass sieben von zehn Bürger:innen im Wesentlichen ausschließlich auf Grundlage eines Geständnisses verurteilt werden, obgleich der Oberste Gerichtshof wiederholt betont hat, ein Schuldbekenntnis könne nicht die »Königin der Beweise« [zariza dokasatelstw] sein.

Die Inanspruchnahme dieses besonderen Verfahrens bedeutet nicht notwendigerweise die Schuld der Angeklagten und ist erst recht nicht als Beweis ihrer Schuld zu werten. Selbstbelastung, Falschaussagen von Zeugen, gefälschte Gutachten, Folter, Erpressung, fehlendes Wissen oder Geld für eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt – vieles lässt die Angeklagten die Hoffnung auf Gerechtigkeit vor Gericht verlieren. Die Ermittler:innen nutzen die deutlich zu lange und harte Zeit in Untersuchungshaft [SISO] als Druckmittel, um die Angeklagten zu zwingen, sich für dieses Sonderverfahren zu entscheiden: So fällt die Haftstrafe kürzer aus und es winkt eine Bewährungsstrafe.

Die Chance auf einen Freispruch im Falle einer Verhandlung ist unter Einbeziehung von Geschworenen um knapp 24 Prozent höher. In der Rechtspraxis erhalten die Geschworenen aber nur eine verschwindend geringe Anzahl von Fällen und dies, obwohl die russische Regierung seit gut 30 Jahren die Notwendigkeit der Ausweitung der Geschworenenbefugnisse betont. Auch wird die Geschworenengerichtsbarkeit von einem Teil der Richterschaft kritisch betrachtet. Nachdem in Moskau die Geschworenen bei Bezirksgerichten durchschnittlich fünf von 13 Angeklagten (38 Prozent) freisprechen, gab die Vorsitzende des Moskauer Stadtgerichts Olga Jegorowa den Ermittlungsbehörden die Schuld: »Sie haben vergessen, wie man Schuld beweist«, so Jegorowa wörtlich.

Das Ziel – Bestrafung statt Resozialisierung?

Das Ziel von Strafvollzugsanstalten in Russland ist die Vollstreckung von Strafen in Form von Freiheitsentzug und die Vorbereitung auf die Entlassung. Die Resozialisierung der Verurteilten ist dabei offiziell die Hauptaufgabe der Strafvollzugsanstalten; dabei wird rund 1/3 der Verurteilten wieder straffällig (http://www.cdep.ru/index.php?id=79&item=5460).

Obwohl der Gesetzgeber vorsieht, dass die Häftlinge ihre Strafe in der Nähe ihres Wohnortes verbüßen sollen, um die Resozialisierung zu erleichtern, verbringen sie die Strafe oftmals weit entfernt von ihrem Zuhause und ihren Angehörigen. Auf diese Weise wird das Besuchsrecht de facto eingeschränkt. So verbüßte Michail Chodorkowskij seine Haftstrafe in einer Besserungskolonie mit allgemeinem Strafvollzug in Krasnokamensk in der Region Transbaikalien im Fernen Osten, obgleich er sich dem Gesetze nach in einer Moskauer Kolonie aufzuhalten gehabt hätte.

Bis heute gibt es kein einheitliches staatliches Resozialisierungsprogramm oder auch nur eine klare Vorstellung von staatlichen Resozialisierungsmaßnahmen. Die Resozialisierung wird von NGO-Akteuren (wie z. B. Rus sidjaschtaschaja) übernommen, die nicht nur wenig bis keine staatliche Unterstützung erfahren, sondern zu allem Überdruss mit unzähligen bürokratischen Hürden konfrontiert werden. So wurde beispielsweise Rus sidjaschtschaja 2018 aufgrund einer finanziellen Zuwendung der EU zum Aufbau juristischer Beratungszentren in den russischen Regionen vom Justizministerium der Russischen Föderation in das Register der gemeinnützigen Organisationen aufgenommen, welche die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen.

Anstieg politisch motivierter Verfahren

Ungeachtet punktueller positiver Entwicklungen ist in Russland das Vertrauen in die Gerichte bzw. in die Staatsanwaltschaft seit Jahren gering. Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums vom August 2020 halten nur 31 Prozent der Befragten die Gerichte bzw. die Staatsanwaltschaft für voll vertrauenswürdig; 54 bzw. 51 Prozent halten dagegen die Gerichte bzw. die Staatsanwaltschaft für mindestens nicht voll vertrauenswürdig; 16 bzw. 17 Prozent enthielten sich einer Beurteilung (https://www.levada.ru/2020/09/21/doverie-institutam/). Letzteres ist nach Ansicht des Lewada-Zentrums ein Ausdruck des indirekten Misstrauens bzw. des Ausweichens vor einer offen negativen Beurteilung. Insbesondere die nur zu offensichtlich politisch motivierten Prozesse gegen Michail Chodorkowskij, die Punkband Pussy Riot und jüngst gegen Aleksej Nawalnyj tragen national wie international massiv zum Misstrauen bei. Nicht ohne Grund wird der Begriff basmannaja justizija [Basmannyj-Justiz] synonym für politische Justiz verwendet. Gemeint ist damit das Moskauer Basmannyj-Bezirksgericht, vor dem zahlreiche politisch motivierte Prozesse abgehandelt wurden (https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/47954/justizsystem).

Die Zahl der in der Russischen Föderation aus politischen und religiösen Gründen verfolgten Menschen nimmt seit Jahren zu. Dies geht aus einem unter Mitwirkung des russischen Menschenrechtszentrums Memorial erstellten Bericht The Kremlin’s Political Prisoners der US-Kanzlei Perseus Strategies (https://www.perseus-strategies.com/wp-content/uploads/2019/04/The-Kremlins-Political-Prisoners-May-2019.pdf) hervor. Die Zahl der politischen Gefangenen in Russland (einschließlich der 2014 annektierten Halbinsel Krim) beträgt derzeit 351 Personen (https://memohrc.org/ru/content/programma-podderzhka-politzaklyuchyonnyh-i-drugih-zhertv-politicheskih-repressiy), im Jahr 2015 waren es nur 46. Hinzu kommen 405 Personen, die einer politischen Verfolgung ausgesetzt sind, ohne dabei in Haft zu sein. Die Zahl der politischen Häftlinge spiegelt jedoch nur Fälle wider, die sorgfältig geprüft und untersucht wurden; die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher liegen. Wie die Kanzlei in ihrem Bericht feststellt, wurden die meisten für die Inanspruchnahme von verfassungsrechtlich sowie durch das Völkerrecht garantierter Rechte (Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit etc.) zur Verantwortung gezogen. Dies wird durch die Aufnahme neuer Straftatbestände und Erweiterung administrativer Strafen ermöglicht. So wurden seit 2012 z. B. u. a. die folgenden Tatbestände in das Strafgesetzbuch und das Ordnungswidrigkeitsgesetzbuch (Ordnungswidrigkeiten sind geringfügige, von Verwaltungsbehörden, und nicht von Gerichten zu ahndende Gesetzesverstöße, für die das Gesetz als Ahndung eine Geldbuße und nicht Geld- oder Freiheitsstrafen vorsieht) aufgenommen: massenhafte gleichzeitige Anwesenheit in der Öffentlichkeit, die eine Verletzung der öffentlichen Ordnung darstellt (Art. 20.2.2 Ordnungswidrigkeitsgesetzbuch der RF), Beleidigung der religiösen Gefühle von Gläubigen (Art. 148 Strafgesetzbuch der RF), Werbung für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen vor Minderjährigen (Art. 6.21 Ordnungswidrigkeitsgesetzbuch der RF), öffentliche Schändung der Symbole des militärischen Ruhms Russlands (Art. 354.1 Strafgesetzbuch der RF), Zerstörung oder Beschädigung von Soldatengräbern sowie von Denkmälern, Stelen, Obelisken, anderen Gedenkbauten oder Objekten, die an diejenigen erinnern, die bei der Verteidigung des Vaterlandes gefallen sind, oder die den Tagen des militärischen Ruhms Russlands gewidmet sind (Art. 243.4 Strafgesetzbuch der RF), Ausbildung von Personen für Massenunruhen (Art. 212 Strafgesetzbuch der RF). Das russische Strafgesetzbuch enthält zudem nur vage rechtliche Definitionen, etwa für Extremismus (Art. 1 Föderalgesetz vom 25. Juli 2020 Nr. 114-FZ »Über die Bekämpfung der extremistischen Tätigkeit«), Separatismus (Art. 280.1 Strafgesetzbuch der RF), Verleumdung (Art. 128.1 Strafgesetzlich der RF), Beleidigung religiöser Gefühle (Art. 148 Strafgesetzbuch der RF), Terrorismus und Massenunruhen (Art. 205 Strafgesetzbuch der RF), die den Behörden einen sehr weiten Interpretationsspielraum einräumen.

Häftlingstransfer in Russland – Das Etappierungssystem

Der Föderale Strafvollzugsdienst (FSIN) hält alle Informationen über die Verlegung von Häftlingen und deren späteren Haftort geheim, weswegen weder die Häftlinge noch deren nahe Verwandte oder Anwälte vor Beginn der Etappierung über das endgültige Ziel informiert werden. Den Strafgefangenen wird faktisch die Möglichkeit genommen, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Gemäß Art. 17 Strafvollzugsgesetz RF muss der Föderale Strafvollzugsdienst innerhalb von zehn Tagen nach Ankunft des Häftlings am Strafvollzugsort eine Benachrichtigung an die Angehörigen schicken.

Während der Überführung befinden sich die Häftlinge in überfüllten Spezialwaggons und Gefangenentransportern, den sogenannten Stolypin-Waggons (benannt nach dem ehemaligen Regierungschef und Innenminister Russlands (1906–1911) Pjotr Stolypin) genannt, teils unter grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen. Die nationalen Standards für den Transport sind in internen Vorschriften durch einen gemeinsamen Erlass des Justizministeriums und des Innenministeriums festgelegt (http://www.supcourt.ru/files/14038/). Demnach können in Großzellen von Spezialwaggons nicht mehr als zwölf Personen samt Gepäck und in Kleinzellen nicht mehr als fünf Personen samt Gepäck untergebracht werden. Beträgt die Reisezeit weniger als vier Stunden, so sind in Großzellen bis zu 16 Personen und in Kleinzellen bis zu sechs Personen erlaubt. Großzellen haben die Größe von 3,5 Quadratmetern und sind mit nur sechs Betten ausgestattet. Der Zugang zur Toilette ist eingeschränkt. Während der Wartezeit auf dem Zufahrtsgleis haben die Strafgefangenen gar keinen Zugang zur Toilette. Bettwäsche und Matratzen werden nur selten zur Verfügung gestellt.

Die Gefängniswagen werden an reguläre Personenzüge angehängt, und die Häftlinge je nach Verfügbarkeit von Zügen oft auf langen Routen an ihren Bestimmungsort gebracht. Aus diesem Grund kann die Reise bis zu einem Monat oder länger dauern. An Zwischenstationen werden die Häftlinge in Transitbereichen in Untersuchungshaftanstalten [SISO] untergebracht, wo sie manchmal wochenlang bleiben, bis sie wieder eskortiert werden. Auf jeder Etappe des Transports findet in den Transitgefängnissen eine oftmals erniedrigende körperliche Untersuchung statt.

Arten von Justizvollzugsanstalten

In Russland unterscheidet man grundsätzlich zwischen acht Arten von Justizvollzugsanstalten: Untersuchungshaftanstalten [sledstwennyj isoljator (SISO)], Besserungsarbeitskolonien mit allgemeinem Strafvollzug [kolonija obschtschego reshima], Besserungsarbeitskolonien mit strengen Haftbedingungen [kolonija strogogo reshima], Ansiedlungsstrafkolonien [kolonija-poselenie], Erziehungskolonien [wospitatelnaja kolonija], Medizinische Justizvollzugsanstalten [letschebno-isprawitelnye utschreshdenija / letschebno-profilaktitscheskie utschreshdenija], Spezialkolonien [kolonija osobogo reshima] sowie Gefängnisse [tjurma] (Art. 74 Strafvollzugsgesetz RF).

Die häufigsten Justizvollzugsanstalten sind die sogenannten Besserungsarbeitskolonien mit allgemeinem Strafvollzug, gefolgt von Besserungsarbeitskolonien mit strengen Haftbedingungen. Diese beiden Arten der Justizvollzugsanstalt, von denen es in Russland insgesamt 670 gibt, beherbergen ca. 80 Prozent aller Häftlinge – zum 01. März 2021 372.524 Personen (https://fsin.gov.ru/structure/inspector/iao/statistika/Kratkaya%20har-ka%20UIS/).

Der Unterschied zwischen Besserungsarbeitskolonien mit allgemeinem Strafvollzug und Besserungsarbeitskolonien mit strengen Haftbedingungen ist nicht allzu groß. Im Wesentlichen besteht der Unterschied in der Anzahl der Besuche und Postpakete pro Jahr sowie der Höhe der Geldsummen, die die Insassen empfangen bzw. ausgeben dürfen.

Ersttäter, die ein schweres Verbrechen oder fahrlässige und vorsätzliche Verbrechen von geringer oder mittlerer Schwere begangen haben, verbüßen ihre Strafe in einer Strafkolonie mit allgemeinem Strafvollzug (Art. 120, 121 Strafvollzugsgesetz RF), es sei denn, das Gericht schickt sie in eine Ansiedlungskolonie. In Besserungsarbeitskolonien mit strengen Haftbedingungen werden Männer untergebracht, die zum ersten Mal wegen besonders schwerer Verbrechen verurteilt werden. Außerdem werden dort männliche Rückfalltäter untergebracht, die zuvor eine Haftstrafe verbüßt haben (Art. 122, 123 Strafvollzugsgesetz RF). Nicht unwesentlich ist, dass über die konkrete Ausgestaltung der Haftbedingungen nicht das Gericht, sondern die Leitung der jeweiligen Haftanstalt entscheidet. Dies bietet Raum für Korruption; so können bessere Haftbedingungen, eine höhere Anzahl von Besuchen, Postpaketen etc. erzielt werden.

Frauen können nur zur Haft in Erziehungskolonien, medizinischen Justizvollzugsanstalten und Besserungsarbeitskolonien mit allgemeinem Strafvollzug oder in einer Ansiedlungsstrafkolonie verurteilt werden. Stand 1. März 2021 sind 39.199 Frauen in Haft, darunter 29.835 in Besserungsarbeitskolonien, medizinischen Justizvollzugsanstalten, Ansiedlungsstrafkolonien und 9.364 in Untersuchungshaftanstalten. Den Frauenstrafkolonien sind 13 Kinderheime [dom rebjonka] angeschlossen, in denen 330 Kinder leben.

Die Ansiedlungsstrafkolonie ist der Typ von Justizvollzugsanstalt mit den mildesten Haftbedingungen. Häftlinge, die wegen vorsätzlicher Straftaten von geringer und mittlerer Schwere sowie wegen fahrlässig begangener Straftaten verurteilt wurden, werden in einer von insgesamt 106 Ansiedlungsstrafkolonien untergebracht (Art. 128, 129 Strafvollzugsgesetz RF). Strafgefangene können wegen guter Führung aus einer Besserungsarbeitskolonie mit allgemeinem Strafvollzug oder einer Besserungsarbeitskolonie mit strengen Haftbedingungen in eine Ansiedlungsstrafkolonie verlegt werden. Insgesamt befinden sich derzeit 29.347 Personen in Ansiedlungsstrafkolonien. Dort können sich die Häftlinge frei bewegen und mit Erlaubnis der Einrichtungsleitung auch außerhalb der Kolonie unterwegs sein und unter bestimmten Voraussetzungen außerhalb der Haftanstalt einer Arbeit nachgehen. In der Regel leben die Insassen in eigens für sie eingerichteten Schlafsälen; das Zusammenleben mit den Familien kann sowohl innerhalb als auch außerhalb der Ansiedlungsstrafkolonie erlaubt werden.

Die 209 Untersuchungshaftanstalten dienen in erster Linie der Unterbringung von Verdächtigen und Beschuldigten. Sie beherbergen Sträflinge, die mit Verwaltungsaufgaben und Haushaltsführung in der Haftanstalt betraut sind. Zudem dienen sie als Zwischenstation während der Verlegung für Sträflinge, die auf die Überführung warten. Derzeit befinden sich 104.639 Personen in Untersuchungshaftanstalten.

Die strengsten Haftbedingungen bestehen in den Spezialkolonien (Art. 124, 125 Strafvollzugsgesetz RF) und den Gefängnissen (Art. 130, 131 Strafvollzugsgesetz RF). Diese sind nur für besonders schwere Verbrechen (z. B. Terrorismus, Entführungen von Flugzeugen und Zügen, Geiselnahme, Organisation illegaler bewaffneter Gruppen) vorgesehen. Derzeit befinden sich rund 3.000 Häftlinge in diesen beiden Arten der Justizvollzugsanstalten.

In den 18 Erziehungskolonien verbüßen Jugendliche bis zur Vollendung des 19. Lebensjahres Strafen. In solchen Kolonien können auch isolierte Bereiche eingerichtet werden, die als Strafkolonien mit allgemeinem Strafvollzug funktionieren, in denen Insassen untergebracht sind, die zum Zeitpunkt der Verbüßung ihrer Strafe das Alter von 18 Jahren erreicht haben.

Informell werden die Justizvollzugsanstalten in zwei Arten unterteilt: Rote und Schwarze Strafkolonien. In den sogenannten Schwarzen Strafkolonien lässt die Anstaltsleitung ein gewisses Maß an Selbstverwaltung zu. Der Einfluss von Berufskriminellen (wory w sakone) ist in solchen Strafkolonien sehr hoch; so können die Insassen Verbotenes (Handys, Drogen etc.) illegal erwerben. Die Roten Strafkolonien unterliegen hingegen gänzlich der Kontrolle durch die Anstaltsleitung, weswegen dort das Regime deutlich härter ist.

Die zentrale Besonderheit des russischen Strafvollzugs besteht darin, dass die Häftlinge von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht in zellenartigen Einrichtungen untergebracht sind, sondern in schlafsaalartigen Gemeinschaftsunterkünften mit Stockbetten leben. Die Häftlinge werden in Gruppen eingeteilt, die gemeinsam leben. In diesen Gemeinschaftsunterkünften können sich die Häftlinge frei bewegen und miteinander kommunizieren (https://www.dekoder.org/de/article/senzow-gefaengnis-alltag-labytnangi).

Das System der Gemeinschaftsunterkünfte der Besserungsarbeitskolonien in Verbindung mit dem Personalmangel wirkt sich auch auf die Organisation der Selbstverwaltung unter den Insassen aus. So bestehen beispielsweise formale Verwaltungspositionen, die von Insassen bekleidet werden. Diese agieren dann ähnlich wie Verwaltungsangestellte und genießen gegenüber einfachen Insassen bestimmte Privilegien.

Des Weiteren besteht eine von den Justizbeamt:innen unabhängige Selbstverwaltung von unten. Das bedeutet, dass einige Insassen, zumeist Berufskriminelle, beginnen, den anderen ihre eigenen Vorstellungen und Regeln aufzuzwingen. Die Justizbeamt:innen lassen das traditionell zu und greifen dabei nur in seltenen Fällen ein.

Die Informationsbeschaffung und Kontrolle durch die Justizwache erfolgt aufgrund des großen Personalmangels direkt über einzelne Häftlinge, die als Augen und Ohren der Beamt:innen agieren. Die Kontrolle gründet dabei auf einem Netz von Spitzeln und sehr harten Strafen selbst für geringfügige Vergehen bzw. auf Privilegien für die Spitzel. Auf diese Weise gelingt es auch einer sehr geringen Zahl von Beamt:innen, eine große Anzahl von Insassen zu kontrollieren, denn jede/r beobachtet jede/n.

Strafkolonie Nr. 2 in Pokrow

Aleksej Nawalnyj wird seine Haftstrafe in der Strafkolonie Nr. 2 in Pokrow in der Region Wladimir verbringen. Die Justizvollzugsanstalt Nr.2 zählt zu den Roten Strafkolonien mit einem besonders strengen Regime. Seit 2019 ist Aleksandr Muchanow für die Kolonie verantwortlich. Gerüchten zufolge konnte er die regelmäßigen Misshandlungen der Gefangenen unterbinden. Allerdings bedeutet dies nicht, dass der Alltag einfacher geworden ist. Anstelle physischer Strafen tritt die beinahe allgegenwärtige psychologische Kontrolle. Alles ist darauf ausgerichtet, dem Einzelnen seine völlige Abhängigkeit von der Anstaltsverwaltung vor Augen zu führen. Laut Menschenrechtsaktivist:innen und ehemaligen Häftlingen spielen Insassen, die mit der Verwaltung zusammenarbeiten, eine wichtige Rolle. Sie kontrollieren die Einhaltung der Anstaltsregeln. So haben Häftlinge bspw. stundenlang auf den Boden zu starren, spezielle Aufgaben zu erledigen oder eine bestimmte Wortwahl zu meiden (https://www.dekoder.org/de/article/straflager-folter-strukturen-augenzeuge).

Aleksej Nawalnyj wurde im sogenannten Sektor mit erhöhten Kontrollmaßnahmen A [Sektor usilennogo kontrolja A] mit fünf weiteren Häftlingen untergebracht. Aufgrund seiner Einstufung als fluchtgefährdet wird Nawalnyj nachts zur Kontrolle einmal pro Stunde geweckt. Von den regelmäßigen Kontakten mit den Rechtsanwält:innen abgesehen dürfen nur wenige Besuche oder Postsendungen empfangen werden. Für das Verfassen von Briefen an nahe Angehörige sind lediglich 15 Minuten pro Woche vorgesehen. Denn den Häftlingen soll das Gefühl vermittelt werden, sie stünden stets unter Zeitdruck. Auf Instagram (der Beitrag stammt wahrscheinlich von Nawalnyjs Team auf der inhaltlichen Grundlage seiner Briefe bzw. der Gespräche mit seinen Anwält:innen) schildert Nawalnyj in einem kurzen Beitrag vom 15. März die ersten Eindrücke von der Strafkolonie und bezeichnet dabei die Strafanstalt als unser freundliches Konzentrationslager.

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