Gemeinsam geht mehr! Visafreiheit für russische Jugendliche

Von Kirill Shamiev (Central European University, Wien)

Das Ergebnis des von Präsident Wladimir Putin im Juni 2020 initiierten Verfassungsreferendums wurde von der Präsidialverwaltung als großer Erfolg verbucht. Doch fast 60 Prozent der Russ:innen unter dreißig Jahren schätzen die Entwicklungen in Russland negativ ein und waren laut einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums mehrheitlich gegen die Verfassungsänderungen.

Jüngere Russ:innen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgewachsen sind, sind im Internet zuhause, sprechen Fremdsprachen und ähneln kulturell gesehen ihren westlichen Altersgenoss:innen. Dennoch werden ihre Freiheiten nicht nur durch den Kreml beschnitten, sondern auch durch die Politik des Westens. Die Visaregelungen sind eine Demütigung: Nicht einmal zu touristischen Zwecken können russische Jugendliche in westliche Länder einreisen, um andere Kulturen hautnah erleben zu können.

Dem Westen bietet sich aber die Chance, den Generationswechsel in Russland zu nutzen, um friedliche Beziehungen in der Gegenwart und bessere Zusammenarbeit mit Russland in der Zukunft zu fördern. Würde man es jungen Russ:innen ermöglichen, den Westen ohne Hindernisse zu erkunden, bevor sie in das Erwachsenenalter eintreten, so könnte dies auch dazu beitragen, dass sich diese Russ:innen stärker mit westlichen Werten und dessen Entwicklung verbunden fühlen. Dies würde ihnen auch erlauben, der negativen medialen Darstellung von Russlands Nachbarn, die durch den Kreml befeuert wird, besser gewappnet entgegenzutreten.

Wir sind uns sehr ähnlich, doch es liegen Gräben zwischen uns

In Russland leben derzeit etwa 40 Millionen Russ:innen im Alter unter fünfundzwanzig Jahren, von denen 15 Millionen zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahre alt sind. Die älteste Kohorte war gerade einmal neunzehn, als die Krise in der Ukraine ausbrach. Die politischen und ökologischen Proteste der letzten fünf Jahre haben gezeigt, wie sich die politische Demografie Russlands verändert hat: Immer mehr junge Schulabsolvent:innen schließen sich sozialen Bewegungen an oder engagieren sich zivilgesellschaftlich. Eine neue Studie von Maria Snegowaja, Denis Wolkow und Stepan Gontscharow über das bürgerschaftliche Engagement der russischen Jugend hat gezeigt, dass jüngere Russ:innen weniger paternalistisch sind, unternehmerisch denken und sich vorwiegend im Internet informieren. Sie haben im Allgemeinen eine relativ positive Sicht auf den Westen und blicken mit großer Offenheit auf andere Länder (https://cepa.org/russian-youth-and-civic-engagement).

In Putins Russland tut sich demnach eine immer größere Kluft zwischen den Generationen auf. Die älteren Generationen sind für den Kreml weiterhin eine der wichtigsten Legitimationsquellen. Die Jugend dagegen hat der Politik weitestgehend den Rücken gekehrt, weil sie für sich keine Aufstiegschancen in den bestehenden politischen Strukturen des Landes sehen.

Junge Russ:innen, die mindestens einmal ins Ausland gereist sind, identifizieren sich stärker mit Europa und haben ein offeneres Weltbild als ihre Altersgenoss:innen, die das Land nie verlassen haben. Das geht aus einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hervor (https://www.fes.de/en/beitraege/youth-studies-russia). Sie schätzen die Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Chancen zur persönlichen Entfaltung in westlichen Ländern als besser ein als in Russland. Wie Jill Dougherty es ausdrückte, ist für junge Russ:innen also »der Westen ein Ort, an dem die Dinge tatsächlich funktionieren« (https://www.wilsoncenter.org/audio/kennanx-episode-12-putin-generation). Aber nur ein Bruchteil von ihnen bekommt auch tatsächlich die Chance, dies mit eigenen Augen zu erkunden. Die USA sowie west- und zentraleuropäische Länder hätten aber durchaus die Möglichkeit, mehr Russ:innen anzulocken. Dafür wäre nötig, dass die Reisebeschränkungen für Russ:innen unter 25 Jahren gelockert werden.

Der eiserne Visavorhang

Wie aus einer Statistik der Welttourismusorganisation zu entnehmen ist, sind Visabeschränkungen, zu denen auch lange und umständliche Verfahren in ausländischen Konsulaten in Russland gehören, einer der Hauptgründe gewesen, die russische Bürger:innen nach 2014 von Reisen ins Ausland abhielten. Des Weiteren zählten dazu aber auch die Befürchtungen, am Zielort der Reise nicht willkommen zu sein und eine grundsätzliche Skepsis gegenüber weiten Reisen (https://mtu.gov.hu/documents/prod/9789284416714.pdf).

Angesichts der beschränkten Möglichkeiten, in die USA oder die EU einzureisen, besuchen viele, insbesondere auch jüngere Russ:innen, lieber türkische Strände oder den russischen Ferienort Sotschi, als eine Reise zu planen, für die ein Visum erforderlich ist. Einen Visumantrag zu stellen ist oft ein langwieriger Prozess: ein Antragsformular muss ausgefüllt werden, Kontoauszüge, Arbeitsbescheinigungen und Nachweise über Reiseunterkünfte sowie gültige Reisetickets und eine Bestätigung über die Begleichung der Gebühr müssen gesammelt und vorgewiesen werden. Alle nötigen Schritte dafür müssen mindestens zwei Wochen vor der Reise erledigt sein.

Die zahlreichen »Visa-Agenturen«, die sich vor den Visa-Zentren tummeln und vorgeben, diesen Prozess zu »erleichtern«, stellen lediglich eine Reaktion des russischen Marktes auf die deprimierende Lage im Hinblick auf die Freizügigkeit in Europa dar. Um sich Aufwand zu ersparen, bezahlen Russ:innen diese Agenturen bereitwillig dafür, ihren Antrag auszufüllen, die nötigen Dokumente beizufügen und den ganzen Stapel im Visazentrum abzuliefern, um dies nicht selbst tun zu müssen. »Ihr seid nicht europäisch genug, um frei einzureisen« ist das Signal, das den Russ:innen aus den USA und den Ländern des Schengen-Raums entgegentönt. Die sechsundzwanzig europäischen Länder des Schengen-Raums haben untereinander bekanntermaßen die Grenzkontrollen abgeschafft, fordern aber für die Einreise von Außenstehenden ein Visum. Junge Russ:innen unterscheiden sich kulturell allerdings sehr wenig von ihren Gleichaltrigen im Westen.

Das EU-Institut für Sicherheitsstudien EUISS prognostizierte, dass eine Visaliberalisierung zu einer positiveren Haltung gegenüber der EU führen würde. Das EUISS führt dies auf die Erlebnisse zurück, die mit Gleichaltrigen aus der EU geteilt werden würden, aber auch auf ein wachsendes Misstrauen gegenüber staatlich kontrollierten Medien in Russland und eine positive Wahrnehmung des europäischen Lebensstandards (https://www.jstor.org/stable/pdf/resrep21146.10.pdf?refreqid=excelsior%3A5914ccee033dcb21eaadfeee1398df19). Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten müssen einerseits den feindseligen Handlungen des Kremls entschlossen entgegentreten. Gleichzeitig sollte aber auch ein positives Bild des Westens unter den russischen Bürger:innen gefördert werden, betonte kürzlich Victoria Nuland, die ehemalige stellvertretende US-Außenministerin für europäische und eurasische Angelegenheiten (https://www.foreignaffairs.com/articles/russian-federation/2020-06-09/pinning-down-putin) kürzlich. Sie schlug vor, dass die US-Regierung und die europäischen Länder visafreies Reisen für Russ:innen im Alter zwischen sechzehn und zweiundzwanzig Jahren erlauben und Praktika in amerikanischen und europäischen Firmen für diese Zielgruppe ausschreiben könnten. Die obere Altersgrenze müsste jedoch eher höher sein, um Russ:innen die Immatrikulation für Master-Studiengänge an amerikanischen und europäischen Universitäten zu ermöglichen. Idealerweise sollte die Altersgrenze mit der Zeit angehoben werden.

Eine weitere Entwicklung lässt sich prognostizieren: Nach der COVID-19-Pandemie werden westliche Regierungen ein großes Interesse daran haben, ihre von der Katastrophe schwer getroffenen Tourismusbranchen neues Leben einzuhauchen. Russland ist weltweit die viertgrößte Quelle von Touristen (https://mtu.gov.hu/documents/prod/9789284416714.pdf). Der Zustrom von jungen russischen Tourist:innen könnte somit andere Maßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft ergänzen. Es ist allerdings recht unwahrscheinlich, dass russische Jugendliche die teuren westeuropäischen Hauptstädte besuchen. Hostels, Clubs, Bars und Museen in Prag, Budapest, Warschau oder Tallinn könnten jedoch zu beliebten Reisezielen für junge Menschen aus russischen Großstädten avancieren. Überraschenderweise ist der Kreml der EU und den USA einen Schritt im Wettbewerb um Touristen voraus. Die seit Jahresbeginn eingeführten elektronischen Visa (https://www.traveldailymedia.com/russia-introduces-new-e-visa-for-citizens-of-52-countries/) erlauben es Bürger:innen aus zweiundfünfzig Ländern, einschließlich der Mitgliedsstaaten des Schengen-Raums, Visa bis spätestens vier Tage vor der Einreise online zu beantragen. Dabei müssen keine Nachweise über Unterkünfte und Tickets vorgelegt werden. Eine ähnliche Liberalisierung der Visabestimmungen für junge Russ:innen, die die EU und die USA besuchen wollen, könnte ebenso einen Beitrag dazu leisten, die westlichen Volkswirtschaften anzukurbeln.

Die derzeitigen Visabeschränkungen zwischen der EU und Russland stehen an einem Scheideweg (https://eu-russia-csf.org/wp-content/uploads/2020/10/BackgroundNoteEURussiaVisaFacilitationLiberalisationFINAL.pdf). Eine Liberalisierung der Visabestimmungen für Russ:innen, die zuerst Jugendliche ins Auge fassen sollte, könnte ein hervorragendes Mittel sein, um diesen den oft gescholtenen Westen näherzubringen. So wäre auch gleichzeitig ein probates Mittel gegen propagandistische Narrative des Kremls gefunden. Auch die von der Pandemie stark in Mitleidenschaft gezogene Tourismusindustrie beider Seiten würde davon profitieren. Insbesondere die Erfahrungen, die Russ:innen in der Jugend gesammelt haben, werden später ihre Weltsicht im Erwachsenenleben prägen. Gerade weil der Kreml die Türen ins Ausland immer weiter schließt, sollte der Westen diese für russische Jugendliche öffnen.

Dieser Text erschien am 09. Dezember 2020 auf der Webseite des Kennan Instituts und ist im englischen Original abrufbar unter: https://www.wilsoncenter.org/blog-post/bowling-together-young-russians-and-visa-free-regime

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