Belarus-Analysen

Ausgabe 60 (20.05.2022), S. 12–13

Das Rätsel Belarus und die Krise in der Region

Von Katsiaryna Shmatsina (Belarussisches Institut für Strategische Studien BISS, Minsk)

Die Beteiligung von Belarus an Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine bekräftigt nur das Offensichtliche, nämlich Aljaksandr Lukaschenkas Status als Vasall Moskaus. Als Lukaschenkas Regime die Proteste von 2020 überlebte, indem es sich auf die politische und wirtschaftliche Hilfe des Kreml stützte, waren die tatsächlichen Kosten für diese Unterstützung noch nicht klar. Jetzt aber sehen wir, wie die russischen Streitkräfte die belarusische Infrastruktur nutzen, wie jüngst ein Referendum abgehalten wurde, durch das unter anderem der neutrale Status von Belarus aufgehoben wird, und wie mitunter Stellungnahmen über eine mögliche Stationierung russischer Atomwaffen auf dem Gebiet von Belarus abgegeben werden. In einer Situation, in der Russland seine militärische Stärke demonstriert und seine Truppen in Belarus stationiert hat, erscheint es undenkbar, dass Lukaschenka zu irgendeiner Forderung Wladimir Putins »Nein« sagen könnte.

2021 hatte der Kreml einen Artikel veröffentlicht, der Wladimir Putin zugeschrieben wird, und der von einer »historischen Einheit der Russen und Ukrainer« spricht (Kremlin.ru; 21. Juli 2021). Der Inhalt erklärt sich anhand der Überschrift von selbst. Auch Belarus wird dort erwähnt und unverfroren als integraler Bestandteil der »slawischen« Einheit beschrieben. Ein jüngst bei Ria Nowosti erschienener Propagandabeitrag spricht von einer notwendigen »Umerziehung« und »Bestrafung« für Ukrainer, und von einem Verbot der ukrainischen Kultur und Identität (Ria.ru, 1. April 2022). Es ist wichtig zu verstehen, dass die Ideologen des Kreml, die den blutigen Angriffskrieg rechtfertigen, für Belarus die gleiche Vision haben und das Land zugunsten der »Russischen Welt« seiner nationalen Identität berauben wollen.

Wenn es um die Idee von ukrainisch-russischen Friedensgesprächen geht, meldet sich Lukaschenko mit der Forderung, an den Gesprächen beteiligt zu werden. Einige Beobachter fragen, ob Lukaschenka damit seinen Wunsch signalisiert, seine Beziehungen zum Westen wieder in ein Gleichgewicht zu bringen, und ob er ein Opfer von Russlands Revanchismus ist. Hier sollte es wenig Mitgefühl für Lukaschenkas Schicksal geben, da er dafür verantwortlich ist, dass das Land in eine derart schlimme Lage geriet: Er hat sein politisches Überleben mit der Souveränität des Landes erkauft. Ein Platz am Verhandlungstisch würde lediglich dazu dienen, den Diktator zu legitimieren und ihm helfen, sich aus der Isolation nach 2020 herauszumanövrieren.

Wenn wir seit den 1990er Jahren eines über das Regime in Belarus gelernt haben, dann, dass das Regime es versteht, zwischen Ost und West hin und her zu lavieren. Einige haben gar ironisch angemerkt, dass Lukaschenka mit dieser Strategie Putin überleben könnte, weil dieser den Krieg gegen die Ukraine verlieren oder einem Machtkampf im Innern zum Opfer fallen könnte. Lukaschenka hingegen könnte seine Herrschaft aufrechterhalten, praktisch lebenslang an der Macht bleiben, wenn er nur die Sanktionen übersteht und es dann wieder schafft, sich dem Westen gegenüber als Garant der Stabilität zu verkaufen.

Während der belarusische Außenminister Uladsimir Makej sich an Brüssel mit dem Vorschlag wendet, ein weiteres Mal einen Neustart der Beziehungen zu unternehmen, gehen die Repressionen im Lande selbst weiter. Den »Partisanen«, die Eisenbahntransporte sabotiert haben, um die Verlegung russischer Streitkräfte in Belarus zu verlangsamen, wurde in die Knie geschossen, um ihnen zusätzliche Qualen zu bereiten, obwohl sie der Polizei gegenüber keinen Widerstand geleistet hatten. Politische Gefangene befinden sich unter schwereren Bedingungen als andere Häftlinge, und es gibt mehr Menschen, die zu politisch motivierten Gefängnisstrafen verurteilt werden, und zwar zu bis zu 15 Jahren.

Diese Krise in der Region bereichert die komplexe Situation in Belarus um eine weitere Ebene. Neben dem geopolitischen Appetit des Kreml haben die Belarus:innen einen Feind im Innern, nämlich das Regime. So sehr es 2020 und 2021 Hoffnungen gegeben hatte, so sehr ist auch die Aussicht auf einen demokratischen Wandel geschwunden. Wir sehen uns Stillstand und fortgesetzten Repressionen gegenüber.

Es gibt keine einfache Lösung für die belarusische Krise. Sanktionen allein werden nicht zu einer Demokratisierung führen. Belarus, das gegenwärtig ein Satellitenstaat Russlands ist, befindet sich in einer Stagnation, bis sich ein neues Fenster der Möglichkeiten öffnet. Ungeachtet der langjährigen Bestrebungen der Menschen in Ostdeutschland oder der Tschechoslowakei fiel die Berliner Mauer und obsiegte die Samtene Revolution, als externe Faktoren, etwa Verschiebungen in den Beziehungen zwischen den Großmächten, sich zu ihren Gunsten entwickelten. Die Aussichten für Belarus sind düster, da die Belarus:innen mit dem Feind im Innern wie auch mit dem äußeren Feind zu kämpfen haben. Gegenwärtig gibt es eher die Hoffnung, dass die Ukraine obsiegt. Und für den Mut der Ukrainer:innen fehlen einem die Worte.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Stand: 15.04.2022

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