Belarus-Analysen

Ausgabe 59 (22.03.2022), S. 6–7

Lukaschenka und Putin: Der gute Bulle und der böse Bulle im Krieg gegen die Ukraine

Von Pavel Slunkin (European Council on Foreign Relations (non-resident Fellow))

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat für Lukaschenka ein klein wenig ein Fenster der Möglichkeiten geöffnet, um ein weiteres Mal die Beziehungen zu den Staaten des Westens aufzutauen. Einen solchen geopolitischen Trick hat er schon mehrfach zustande gebracht. Zuerst nach dem russisch-georgischen Krieg 2008, und dann 2014 nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland. Jedes Mal haben bewaffnete Konflikte, die eine Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen provozierten, es Lukaschenka erlaubt, im Kontrast zu Moskau den europäischen Hauptstädten zu demonstrieren, dass er eine besondere, konstruktive Position einnimmt. Damit soll das Image des belarusischen Regimes in den Augen der Europäer verbessert werden.

Zweifellos haben die innenpolitische Krise in Belarus, der Zwischenfall mit der Ryanair-Maschine, die Erpressungsversuche mit Hilfe von Migrant:innen, die beispiellosen Sanktionspakete und der illegitime internationale Status von Lukaschenka den Raum sehr stark eingeengt, in dem sich ein solcher Schachzug wiederholen ließe. Allerdings zeigen die Verhandlungen zwischen den USA und Venezuela über mögliche Öllieferungen, die gleich nach Verhängung der Sanktionen gegen den russischen Energiesektor aufgenommen wurden, dass das Setzen auf geopolitische Kalkulationen auch dieses Mal hätte aufgehen können.

Lukaschenka hat diese Option aber nicht gewählt. Der wichtigste Grund, warum er das nicht tat, besteht darin, dass seine Abhängigkeit vom Kreml in den letzten zwei Jahren kritische Ausmaße angenommen hat. Nachdem Putin Lukaschenkas Regime 2020 gerettet hatte, war der belarusische Präsident gezwungen, praktisch jeden Wunsch aus Russland zu erfüllen und sich damit für die erwiesene Gnade zu revanchieren. Lukaschenka machte sogar bei grundsätzlichen Fragen Zugeständnisse, bei denen er sich in früheren Jahren hartnäckig und erfolgreich gewehrt hatte. Seit dem August 2020 haben Minsk und Moskau ein Paket von Integrationsabkommen unterzeichnet. In Belarus gibt es jetzt neue russische Militärobjekte und die Krim wurde von Lukaschenka öffentlich als rechtmäßiges Territorium Russlands anerkannt. Der wichtigste Wendepunkt erfolgte jedoch in jener Sekunde, als Lukaschenka Zehntausenden russischen Soldaten erlaubte, sich in aller Seelenruhe auf belarusischem Territorium aufzuhalten und sich auf den bewaffneten Einmarsch in die Ukraine vorzubereiten.

Es ist nach wie vor nicht bekannt, ob Putin seinen Verbündeten über seine expansionistischen Pläne informierte, als man sich auf die Militärmanöver in Belarus im Februar 2022 einigte, oder ob er sie bis zum letzten Augenblick vor Lukaschenka geheim hielt. Aus dem Verhalten der belarusischen Regierung ergibt sich der Eindruck, dass Putin ihn nicht informiert hat, und dass die belarusische Regierung selbst nicht glaubte, dass Moskau sich zu einer groß angelegten militärischen Aggression gegen die Ukraine entschließen könnte. Es schien, als habe die belarusische Führung das Vorgehen Moskau für einen geschickten Bluff gehalten, für einen Versuch, im Dialog mit dem Westen maximale Zugeständnisse für sich herauszuschlagen. Lukaschenka hatte die Erklärungen der USA über die Daten für den potenziellen Beginn einer Invasion stets verlacht und erklärt, dies sei für die amerikanischen Geheimdienste peinlich, die dadurch „ihre Nichtsnutzigkeit gezeigt“ hätten. Außenminister Uladsimir Makej hielt am 16. Februar eigens eine Konferenz ab, auf der er sarkastisch scherzte, sie erfolge aus Anlass der „Invasion“ Russlands.

Es spielt übrigens schon gar keine Rolle mehr, ob Lukaschenka im Voraus von den Plänen wusste oder nicht. Wladimir Putin hätte wohl kaum die strategische Ausrichtung seines Überfalls geändert, selbst wenn Lukaschenka ihn gebeten hätte, die russischen Streitkräfte direkt nach Beendigung der Manöver am 20. Februar aus Belarus abzuziehen. Die Meinung des selbsternannten Präsidenten ist für den Kreml wohl nur von zweitrangiger Bedeutung. Und auch Lukaschenka selbst ist wohl bewusst, wie sein aktueller Platz im Dialog mit Moskau aussieht: Angesichts all der für ihn belastenden Faktoren würde er wohl kaum eine solche heftige Zuspitzung in den Beziehungen wagen. Ihm ist wie keinem anderen klar, wozu die russische Führung in der Lage, wenn sie entschlossen ist, ihre Ziele zu erreichen.

Daher blieb Lukaschenka nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und so zu tun, als hätte er die Lage unter Kontrolle. Er hat die Aggression Russlands rundum unterstützt und eingestanden, dass Belarus den Besatzern mit Schlägen auf das Territorium der Ukraine und mit der Versorgung verletzter russischer Soldaten hilft. US-amerikanischen Geheimdienstinformationen zufolge sind bis zum 3. März über 70 Granaten von belarusischem Gebiet in Richtung Ukraine abgefeuert worden. Die Staats- und Regierungschefs der EU schreiben auch Lukaschenka eine Verantwortung für den Krieg zu und bezeichnen ihn als Mit-Aggressor. Eine rote Linie hat er allerdings bislang noch nicht überschritten.

Ungeachtet der vielen Gerüchte über einen baldigen Einmarsch belarusischer Streitkräfte, ist dieser Schritt ausgeblieben. Mitunter konnte es scheinen, dass eine solche Entwicklung der Ereignisse schlichtweg unausweichlich ist. Am 11. März stand Lukaschenka bei seinem Chef auf dem Teppich, während gleichzeitig der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow mitteilte, der ukrainische Nachrichtendienst verfüge über Informationen, dass Russland eine false flag operation vorbereitet, um den Einsatz belarusischer Streitkräfte zu rechtfertigen. Lukaschenka kehrte jedoch nach Minsk zurück, ohne dass die belarusischen Truppen sich von ihren Stellungen fortbewegt hätten.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich nur schwerlich mit Sicherheit sagen, warum Belarus nicht dem Beispiel der russischen Armee folgte. Russland kann an der Front keine großen Erfolge verzeichnen, und offensichtlich würden Moskau frische Kräfte für einen massiven Vormarsch auf Kyjiw nicht schaden. Das bedeutet: Entweder hofft Wladimir Putin, dass seine Armee für einen erfolgreichen Abschluss der Militäroperation ausreicht. Oder Lukaschenka hat Putin überredet, das vorläufig nicht zu tun, weil er sich bewusst ist, in welchen Abgrund das die Wirtschaft von Belarus stürzen würde. Die schwache belarusische Wirtschaft ächzt ohnehin schon unter den harten Sanktionen des Westens und die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf einen echten Einmarsch belarusischer Streitkräfte könnte sie schlichtweg vernichten. Und im Unterschied zu 2020/21 gibt es jetzt niemanden mehr, der das kompensieren könnte, weil der Generalsponsor des belarusischen Staatshaushalts, nämlich Russland, sich umfassenden Schlägen gegen seine Wirtschaft gegenübersieht.

Lukaschenka wird also, solange sich eine solche Möglichkeit bietet, erneut versuchen, sich als Friedensstifter hinzustellen. Zur gleichen Zeit helfen die ihm ergebenen Streitkräfte Russland dabei, seine Waffen gegen friedliche Bürger:innen der Ukraine zu richten.

Stand: 16. März 2022

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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