Belarus-Analysen

Ausgabe 59 (22.03.2022), S. 7–9

Was der Krieg in der Ukraine für die belarusische Zivilgesellschaft bedeuten könnte

Von Natalia Rabava (SYMPA, Minsk)

Die belarusische Zivilgesellschaft hat im Zuge der Repressionen nach der politischen Krise von 2020/21 stark gelitten. Im Laufe des Jahres 2021 verlor ein beträchtlicher Teil der zivilgesellschaftlichen Organisationen ihre Registrierung in Belarus (mit Stand vom 15.03.2022 waren 378 betroffen), deren Mitarbeiter und Aktivisten waren zum Teil gezwungen, das Land zu verlassen, die Organisationen verloren ihre Büros und Infrastruktur. Zum Teil verloren die Organisationen ihre Bindung zu den Zielgruppen und Stakeholdern. Gleichzeitig beschlossen die meisten Organisationen, ihre Arbeit fortzuführen, und zwar ungeachtet der Änderungen im Strafgesetzbuch, die im Dezember 2021 vorgenommen wurden und die Tätigkeit von nicht registrierten oder aufgelösten Organisationen kriminalisieren.

In dieser Situation haben viele Organisationen der Zivilgesellschaft die Möglichkeit genutzt, im Ausland eine Organisation zu gründen. Einige Organisationen hatten schon vor den Ereignissen von 2020/21 über solche „Tochterorganisationen“ verfügt, um dadurch die internationale Arbeit zu erleichtern. Im Zusammenhang mit ihrer Arbeit im Ausland stießen die Organisationen auf eine Reihe von Schwierigkeiten, unter anderem wegen anderer Standards bei der Rechenschaftslegung und der Transparenz, höherer Steuern und wegen Schwierigkeiten bei der Legalisierung von Mitarbeiter:innen und Aktivist:innen. Diejenigen, die entschieden hatten, ihre Arbeit in Belarus fortzusetzen, haben ebenfalls viele Probleme, die allerdings anderer Art sind: Hier spielen Fragen der Sicherheit und die Verfolgung durch die Behörden eine Rolle. Zudem ist schwer zu erkennen, wie die neuen „Spielregeln“ aussehen. Es ist nicht möglich, auf legalem Wege Finanzmittel zu erhalten und Projekte umzusetzen. Auch haben die Menschen Angst.

In dieser für die Zivilgesellschaft schwierigen Situation bedeutet der Krieg in der Ukraine eine zusätzliche und mächtige Quelle für Schocks. Zu den bestehenden Problemen für Organisationen, die im Ausland registriert sind, kommen folgende hinzu:

  • Die Frage des physischen Überlebens oder einer Flucht für jene Aktivist:innen und Organisationen, die zuvor aus Belarus in die Ukraine geflohen waren.
  • Die Sperrung oder Konfiszierung von Konten belarusischer natürlicher oder juristischer Personen in der Ukraine (per Beschluss der Nationalbank der Ukraine, der Residenten aus den Aggressorstaaten betrifft, zu denen ja auch Belarus gehört).
  • Sanktionen gegen Belarus:innen, u.a. Visa- und Finanzsanktionen (Banken im Ausland eröffnen keine Konten mehr für Belarus:innen und deren Organisationen, auch nichtkommerziellen; der Zahlungsabwickler „Paysera” schließt Konten von Belarus:innen, die keinen Aufenthaltstitel für eines der Länder vorweisen können, in denen „Paysera“ tätig ist. Stopp der Ausstellung von Visa – mit Ausnahme humanitärer Visa – für Belarus:innen außerhalb von Belarus wie auch innerhalb des Landes usw. So haben Litauen, Tschechien und Estland bereits einen Visastopp für belarusische Staatsangehörige angekündigt.
  • Eine allgemeine strategische Ungewissheit, auf welche Weise, für wen und wie angesichts des Krieges, der Opfer und der Zerstörungen in der Ukraine gearbeitet werden kann.
  • Fortgesetzte Repressionen in Belarus gegen Organisationen der Zivilgesellschaft und gegen Aktivist:innen, zu denen nun auch die Verfolgung wegen Antikriegs-Positionen hinzukommt.

Die Organisationen reagieren auf die Herausforderungen der Zeit mit einer teilweisen Änderung der aktuellen Agenda: Selbst dann, wenn die allgemeine Mission nicht revidiert wird, so werden die Pläne unter Berücksichtigung der Lage geändert. Nicht selten unternehmen Organisationen für sie untypische Aktivitäten (Freiwilligenarbeit für die Ukraine, Sammlung von humanitären Hilfsgütern usw.), oder sie arbeiten mit für sie untypischen Zielgruppen. Die Frage der Aktualität und die Formate der laufenden Arbeit werden revidiert.

Darüber hinaus erhalten Organisationen der Zivilgesellschaft aufgrund einer Unterstützung (vor allem durch die EU) Zugang zu einer Projektfinanzierung zum Wohl von Belarus. Sie versuchen, eine Bindung zu ihren Zielgruppen herzustellen und Arbeitsmethoden zu finden, die der aktuellen Lage angemessen sind, vor allem online. Es werden Bildungsprojekte umgesetzt, die auf Reformen in einem „neuen demokratischen Belarus“ abzielen. Gleichzeitig nimmt in der Gesellschaft hinsichtlich gesellschaftlicher Aktivität und sogar schon hinsichtlich des Interesses an „verbotenen“ Themen die Angst zu, zusätzlich zur verständlichen Angst wegen des Krieges. In der Folge geht die gesellschaftliche Aktivität insgesamt zurück.

Gegenwärtig, am 19. Tag des Krieges, ist klar, dass wir es mit einem langwierigen Konflikt zu tun haben. Daher müssen sich Organisationen der Zivilgesellschaft für ein Format ihrer weiteren Arbeit entscheiden: Soll die Hilfe für die Ukraine in irgendeiner Form zu einem „legalen“ Arbeitsbereich werden oder das persönliche Engagement Einzelner bleiben? Es ist sehr wohl vorstellbar, dass die ukrainische Agenda für eine gewisse, womöglich beträchtliche Zeit Teil der aktuellen Mission vieler belarusischer Organisationen der Zivilgesellschaft sein wird.

Die Situation könnte sich grundlegend ändern, wenn die belarusische Armee unmittelbar in den Krieg eingreift. Das gilt für die Lage in der Gesellschaft insgesamt wie auch für die Situation der zivilgesellschaftlichen Organisationen und deren Agenda.

Die Empfehlungen, die wir gegenüber Geldgebern und internationalen Organisationen geäußert haben – nämlich in dem Bericht „The situation with and urgent needs of Belarusian civil society organizations (CSOs) in political crisis. Research report” vom Oktober 2021 (s. Bibliographie) –, bleiben aktuell. Die wichtigsten sind folgende:

  1. Berücksichtigung der Änderungen, die belarusische Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Organisation ihrer Tätigkeit vorgenommen haben, wenn das Management außerhalb von Belarus erfolgt (wenn etwa eine Organisation juristisch in einem der EU-Mitgliedsstaaten registriert ist und ihre finanziellen Operationen dort abwickelt), oder wenn sich ein Teil der Aktivist:innen in der Emigration befindet. Diese Konstellation ist im Falle von Repressionen vernünftig und sollte womöglich als relevant für eine Förderung betrachtet werden.
  2. Es ist wichtig, diejenigen Aktivitäten der Zivilgesellschaft als prioritär für eine Förderung zu betrachten, die im Lande selbst erfolgen, Änderungen der Lage in Belarus bewirken oder in Zukunft bewirken können (dazu gehört die Beibehaltung der Verbindungen zu und die Zusammenarbeit mit belarusischen Organisationen oder Aktivist:innen im Ausland, wie auch deren Fortbildung, die Hilfe bei der organisatorischen Weiterentwicklung usw.)
  3. Da viele zivilgesellschaftliche Organisationen sich heute praktisch im Überlebensmodus befinden, müssen die Formen institutionelle Förderung (je nach Bedarf der jeweiligen Organisation) ausgebaut werden, unter anderem für:
    1. Mietkosten;
    2. Juristische Hilfe und Finanzierung der Kosten für die Buchhaltung von Organisationen, die den Status einer in Belarus registrierten Organisation beibehalten konnten;
    3. Die Wiederherstellung und Erneuerung der technischen Infrastruktur (neue Geräte als Ersatz für diejenigen, die bei Durchsuchungen konfisziert wurden, Kommunikationssoftware und -technik zur Gewährleistung der Sicherheit);
    4. Die Verbringung von Aktivist:innen, die gezwungen sind, das Land zu verlassen, sowie eine institutionelle Förderung der Arbeit von Organisationen im Ausland (Anmietung von Räumlichkeiten, juristische Unterstützung, Buchhaltung usw.);
    5. Die Förderung von Strategieplanungen und anderen Formaten, die den Organisationen eine zumindest mittelfristige Planung ihrer Tätigkeit ermöglichen.
  4. Angesichts der fortgesetzten Repressionen ist es wichtig, dass auch folgende Richtungen gefördert werden:
    1. Gewährleistung der digitalen Sicherheit, und zwar nicht nur über Fortbildungsprogramme, die nur begrenzt effizient sind, sondern auch über tiefgreifendes Auditing, individuelle Beratungen und Teamschulungen (ein ähnlicher Ansatz wird bereits im Rahmen der Projekte der „Digital Skills Coalition Belarus“ – digitalskills.by – und der „Digital Security School“ – dss375.org – verfolgt, allerdings müssten diese Aktivitäten ausgebaut werden).
    2. Psychologische Unterstützung und Hilfe in unterschiedlichen Formen, von der Möglichkeit, einen Psychologen zu konsultieren bis hin zu Reha-Urlaub.
    3. Beratung von Menschenrechtler:innen und Schulungen zur Erhöhung der Bereitschaft und Widerstandsfähigkeit in schwierigen und Stresssituationen (Durchsuchung, Verhör usw.).
    4. Juristische Hilfe und Beratung bei der Auflösung einer Organisation oder Einrichtung und der Bewältigung der Folgen.
  5. Es wird empfohlen, die Ansätze und Anforderungen an die Organisierung der Projekttätigkeit belarusischer zivilgesellschaftlicher Organisationen zu revidieren und sie maximal flexibel zu gestalten. Nach Möglichkeit sollte den Organisationen mehr Freiheit beim Umgang mit Projektressourcen gegeben werden, unter anderem die Möglichkeit, die Ausgabenposten zu revidieren und neu aufzuteilen; ebenso sollten die Zielindikatoren eines Projektes revidiert werden können.
  6. Es ist zu prüfen, ob eine Vereinfachung der Anforderungen an die LogFrames der Projekte möglich ist, weil es heute oft schwer ist, kurzfristige Projekte mit den langfristigen Zielen der Organisationen zu vereinbaren.
  7. Es sollten vereinfachte Anforderungen an die entsprechende Rechnungslegung ausgearbeitet werden (unter anderem ein Verzicht auf die Aufbewahrungspflicht für Unterlagen nach Abschluss der Projekte). Die Rechnungslegung sollte angesichts der Risiken für Projektarbeit in Belarus so weit wie möglich in elektronische Formate überführt werden.
  8. Es wäre hilfreich, der Zivilgesellschaft nicht nur finanzielle Förderprogramme anzubieten, sondern auch sichere Mechanismen für Finanzhilfen und die Rechnungslegung für sie zu entwickeln. Das steht damit in Verbindung, dass jede ausländische Finanzierung zivilgesellschaftlicher Organisationen die Risiken in Belarus für diese Organisationen beträchtlich erhöht (es kann insbesondere als Vorwand für Ermittlungen des belarusischen Amtes für Finanzermittlungen dienen).

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

Zum Weiterlesen

Analyse

Zivilgesellschaft in Belarus unter Repressionen

Von Tatsiana Chulitskaya
Der Beitrag analysiert die veränderten Bedingungen für die Tätigkeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Belarus nach der Zuspitzung der politischen Krise, die 2020 begann; untersucht werden auch der Charakter und die Intensität der Arbeit. Mit Hilfe von offen zugänglichen Quellen und Umfragen bei Aktivisten zivilgesellschaftlicher Organisation werden die wichtigsten Probleme erörtert, denen sich der belarussische »dritte Sektor« gegenübersieht. Untersucht werden auch die weitere Arbeitsrichtung und die aktuellen Aufgaben der Organisationen. Eine Analyse der Daten zeigt, dass die verschlechterten Arbeitsbedingungen und die vielen Herausforderungen die Organisationen dazu zwingen, in einen Überlebenskampfmodus zu wechseln, was neue Organisationsformen für die Arbeit erfordert.
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