Belarus-Analysen

Ausgabe 59 (22.03.2022), S. 5

Die Belarus:innen als gescheiterte Nation?

Von Maryna Rakhlei (German Marshall Fund of the United States, Berlin)

Seit Sommer 2020 bis zum 24. Februar 2022 hat Europa, wenn nicht die ganze Welt, das friedliche Streben der Belarus:innen nach Freiheit bewundert, ihren erfolglosen, aber unermüdlichen Kampf gegen die Diktatur. Der verheerende Krieg Russlands in der Ukraine hat dieses Bild verzerrt und durch ein neues ersetzt.

Es gibt heute zwei Kriegsparteien, auf die die Welt mit Spannung schaut. Die Ukraine ist das Opfer eines unbegründeten, unmenschlichen Militärangriffs, und die Ukrainer:innen sind eine Nation, die Freiheit wie eine Religion pflegt und bereit ist für ihr Land zu sterben. Russland wird im Westen als ein imperialistischer Aggressor wahrgenommen. Das Bild der russischen Gesellschaft ist allerdings vielfältig und differenziert. Es gibt Russen, die gegen Putin und den Krieg protestieren, es gibt Russen, die sich Sorgen mach, dass Victoria's Secret zumachen könnte, und es gibt russische Bürger:innen, die zu viel Angst haben oder nicht mehr in der Lage sind, sich eine eigene Meinung zu bilden. So gibt es auch Solidaritätskampagnen mit Russen:innen, um sicher zu gehen, dass die westlichen Gesellschaften zwischen Putin und Russland unterscheiden können und verstehen, dass russische Akademiker, Studenten und politische Aktivisten nicht zusammen mit dem Kreml sanktioniert werden sollten.

Belarus fällt durch alle Raster. In der Tat ist Minsk ein Mitaggressor, ein passiver Beteiligter an diesem schrecklichen Konflikt. Aljaksandr Lukaschenka hat (bisher?) weder die abtrünnigen Gebiete anerkannt noch belarusische Truppen in die Ukraine geschickt, um den Angriff des russischen Militärs tatkräftig zu unterstützen. Andererseits werden russische Truppen und russische Raketen immer noch von belarusischem Boden entsandt, ziehen somit Belarus mit hinein und machen die Belarus:innen mitschuldig am blutigen Verlauf des Krieges in der Ukraine. Zurecht steht Belarus auf der Sanktionsliste, und zwar in erster Linie, um die Hintertürchen für Moskau zu beseitigen und Sanktionen gegen russische Banken wirksamer zu machen.

Das Bild von Belarus jedoch ist nicht differenziert. Durch die Teilnahme von Minsk am Militärangriff auf die Ukraine wird alles über Bord geworfen. Selbst geflüchtete Dissident:innen und politische Aktivist:innen werden jetzt als Vertreter:innen eines Aggressorlandes angesehen und sind im Westen Hass und Diskriminierung ausgesetzt. Und das, obwohl sie in diesem Fall für Entscheidungen (oder ausgebliebene Entscheidungen) einer belarusischen Regierung büßen, die sie für illegitim halten. Selbst diejenigen, die zweimal fliehen mussten, erst aus Belarus und dann aus der Ukraine, finden im neuen Zielland keine Wohnung. Sie werden öffentlich beschimpft, und ihre Autos mit belarusischen Kennzeichen werden beschädigt.

Das lässt sich durch mehrere Faktoren erklären. Belarus ist eine Konfliktpartei, die kaum in der Öffentlichkeit steht und wenig wahrgenommen wird, auch wenn die Rolle seiner Front und die Möglichkeiten, die Minsk den russischen Truppen bietet, nicht unterschätzt werden dürfen. Es sind nicht viele, die so genau hinschauen.

Andererseits gibt es auch kaum jemanden vor Ort, der hinschauen kann: Bis vor kurzem sind internationale Medien in Kyjiw und Moskau sehr gut vertreten gewesen, sowohl elektronische Medien als auch Zeitungen, aber nicht in Minsk. 2020 war Belarus überall in den Nachrichten präsent, die aktuellen Antikriegsproteste jedoch spiegeln sich in den internationalen Mainstream-Medien nicht wider.

Drittens haben belarusische politische Gruppen im Ausland zu spät und zu wenig getan, um der Öffentlichkeit in Polen, in der Slowakei, in Rumänien, Ungarn, Moldau und Georgien zu erklären, dass die Belarus:innen, die dort seit 2020 von allen bewundert wurden, auf der Seite der Ukrainer stehen.

Die Schuldgefühle der Belarus:innen sind groß, man grübelt über Kollektivhaftung sowie über individuelle Verantwortung dafür, was Minsk im Krieg gegen Ukraine ermöglicht hat. Es gibt fast täglich Antikriegsproteste in Belarus, Hunderte Belarus:innen haben sich den ukrainischen Streitkräften angeschlossen, Tausende helfen Tag und Nacht ukrainischen Flüchtlingen. Insbesondere Belarus:innen in Polen spenden und sammeln Spenden, machen Aufklärungsarbeit, nehmen Leute bei sich auf. Und trotzdem werden sie in westlichen Gesellschaften als Kriegsführende angesehen.

Der britische Osteuropa-Forscher Andrew Wilson beschreibt die belarusische Geschichte als eine Reihe von Fehlstarts, von fehlgeschlagenen Neuanfängen. In den Augen der internationalen Öffentlichkeit sind die friedlichen Belarus:innen, die sich als Nation entdeckt haben und den Friedensnobelpreis beanspruchten, erneut gescheitert.

Demokratisch gesinnte Belarus:innen kämpfen heute mit und für die Ukraine, da das Verständnis wächst, dass die Ukrainer nicht nur ihre, sondern auch die Freiheit der Belarus:innen verteidigen. Wenn Putin in der Ukraine besiegt wird und in Russland seine Macht bröckelt, bekommen die Belarus:innen eine neue Chance, den Würgegriff, mit dem Lukaschenka die belarusische Gesellschaft lähmt, zu überwinden. Sowie die Vorstellung, dass sie als Nation zum Scheitern verdammt sind.

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