Das Beziehungsdreieck Ukraine-EU-Russland im Wandel

Von Andreas Umland (Kiew)

Zusammenfassung
Mit dem Amtsantritt Wiktor Janukowytschs hat sich die Ukraine verändert. Dies wird nicht zuletzt an den Entwicklungen in dem Beziehungsdreieck Ukraine-EU-Russland deutlich, die im Winter 2011/2012 an einem Scheidepunkt stehen. Die Ukraine steht vor der Wahl zwischen mehreren Zukunftsszenarien: Anschluss an die EU durch ein weitreichendes Assoziierungs- und Freihandelsabkommen, Beitritt zu einer nachsowjetischen Zoll- oder politischen Union unter der Führung Russlands oder aber Fortführung der bisherigen Multivektoren- bzw. Schaukelpolitik zwischen Ost und West.

Wandel in der Innen- und Außenpolitik

Im vergangen Jahr hat die Ukraine nach fünf Jahren relativ demokratischer, aber auch chaotischer Entwicklung im Gefolge der Orangen Revolution einen Schwenk in die entgegengesetzte Richtung vollzogen. Anfänglich wurde die Wahl eines neuen Präsidenten und dessen Konsolidierung der Exekutive 2010 von vielen Beobachtern begrüßt. Bereits im Laufe des letzten Jahres wurde jedoch klar, dass Wiktor Janukowytsch in das andere Extrem verfällt: Die Legitimierung der Asarow-Regierung mittels Mandatswechsler im Parlament, die damit einhergehende Ex-Post-Falsifizierung der Parlamentswahl von 2007, die Rücknahme der Verfassungsreform von 2004, die Beschränkung der Medienfreiheit (insbesondere bei der politischen Berichterstattung der wichtigsten Fernsehkanäle), die Manipulation der Regional- und Kommunalwahlen am 31. Oktober 2010, die Verhaftung prominenter Oppositionsführer, die jüngsten Querelen um die Untersuchungshaft und Verurteilung der ehemaligen Ministerpräsidentin und heutigen Oppositionsführerin Julija Tymoschenko usw. – all dies illustriert einen partiellen Regimewechsel in der Ukraine 2010/2011.

Dieser innere Wandel ging zudem mit einer Zuspitzung in den außenpolitischen Beziehungen einher. Nach zwei Jahrzehnten relativer Stagnation befinden sich die Beziehungen zwischen Russland, der Ukraine und der EU nunmehr an einem Scheidepunkt. Die Ukraine als der Schlüsselstaat im geopolitischen Dreieck EU-Russland-Ukraine steht vor der Wahl zwischen mehreren Zukunftsszenarien: Anschluss an die EU durch ein weitreichendes Assoziierungs- und Freihandelsabkommen, Beitritt zu einer nachsowjetischen Zoll- oder gar politischen (»Eurasischen«) Union unter der Führung Russlands oder aber Fortführung der bisherigen Multivektoren- bzw. Schaukelpolitik zwischen Ost und West.

Weder die europäische noch die russische, ja scheinbar nicht einmal die ukrainische Führung, hat bisher eine klare Idee davon, wohin die Ukraine ihre Außenbeziehungen in Zukunft ausrichten wird. Freilich hat Wiktor Janukowytsch im Laufe der letzten Monate mehrfach erklärt, die Politik des vorherigen Präsidenten, Wiktor Juschtschenko, der eine weitestmögliche Annäherung des Landes an die Europäische Union anstrebte, fortzuführen. Jedoch stellen die erwähnten jüngeren innenpolitischen Entwicklungen die Realisierbarkeit dieses Ziels, wenn nicht die Aufrichtigkeit der europäischen Aspirationen der derzeitigen ukrainischen Führung in Frage. Janukowytsch und Ko. haben in den vergangenen Wochen nahezu täglich Absichtserklärungen zur Vertiefung der Beziehungen mit der Europäischen Union abgegeben. Nichtsdestoweniger entsteht der Eindruck, dass die neuen Machthaber in Kiew sich weder darüber im Klaren sind, welche Voraussetzungen die Ukraine hierfür erfüllen muss, noch scheinen sie eine Vorstellung davon zu haben, mit welchen Konsequenzen sich die Regierung im Falle einer Unterzeichnung und anschließenden Ratifizierung des Assoziierungsabkommens mit der EU konfrontiert sehen wird.

Die EU und Russland

Es muss allerdings hinzugefügt werden, dass es nicht minder gravierende Unklarheiten in der Haltung Russlands als auch der EU gegenüber der Ukraine gibt. Moskau steht vor dem Dilemma, sich zwischen seinem offenkundigen strategischen Ziel, die Ukraine für eine neue Sonderbeziehung oder sogar einen Staatenbund, wenn nicht Einheitsstaat zu gewinnen, und der Verfolgung kurzfristiger ökonomischer Interessen entscheiden zu müssen. Auf dem Höhepunkt der Gaskrise vom Januar 2009 schlossen die beiden Staatskonzerne Naftohas und Gasprom im Ergebnis von Verhandlungen zwischen den damaligen Ministerpräsidenten der Ukraine und Russlands, Julija Tymoschenko und Wladimir Putin, ein langfristiges Abkommen über Gaslieferungen ab. Dieses umstrittene Vertragswerk entspricht heute eher russischen als ukrainischen Wirtschaftsinteressen.

Die komplizierten Bestimmungen des Vertrages, den Kiew unter erheblichem Druck sowohl Moskaus als auch Brüssels im Januar 2009 in Eile unterzeichnete, führen derzeit zu einem ungewöhnlich hohen Gaspreis für die Ukraine. Es folgte zwar eine Preisreduzierung infolge des Charkiwer Abkommens von 2010, in welchem die Ukraine den Pachtvertrag für den Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol verlängerte, jedoch zahlt die Ukraine auch nach diesem Preisnachlass einen Betrag, der beispielsweise denjenigen Deutschlands für russisches Gas übersteigt. Im Ergebnis einer solchen Politik desillusioniert Russland nicht nur jene vergleichsweise prorussischen Führungsschichten, die sich momentan an der Macht befinden. Auch in Teilen der Bevölkerung der Ost- und Südukraine, die bislang in ihrer Mehrzahl Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine befürwortete, beginnt sich die Stimmung zu ändern.

Brüssel wiederum hat zwar eine Vertiefung der Beziehungen mit Kiew in letzter Zeit zu einer außenpolitischen Priorität gemacht: Die EU-Führung scheint die geopolitische Bedeutung der zukünftigen Entwicklung der Ukraine erkannt zu haben. Allerdings lehnen die für die Außenpolitik verantwortlichen EU-Organe und maßgeblichen europäischen Staats- und Regierungschefs es auch weiterhin ab, der Ukraine eine auch nur unverbindliche und langfristige Beitrittsperspektive einzuräumen. Damit missachten der Rat und die Kommission der EU sowie die nationalen Regierungen nicht nur den Willen des Europäischen Parlamentes, wie er in der Resolution zur Ukraine vom 25. Februar 2010 zum Ausdruck kam. Eine solche Strategie widerspricht ebenfalls Befunden moderner Politikwissenschaft. Deren Europaforschung ist zu dem Schluss gekommen, dass ein »Zuckerbrot« in Form einer Beitrittsperspektive – und nicht nur eine »Peitsche« in Form von Androhung einer Einschränkung der Zusammenarbeit – wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Europäisierung eines posttotalitären Staates ist.

Somit steht allen drei Parteien – Russland, der EU und der Ukraine – noch bevor, ihre letztendlichen Ziele sowie langfristigen Strategien bezüglich der Zukunft Osteuropas zu definieren. Dies müsste bereits in den kommenden Monaten oder gar Wochen geschehen, da sich die Verhandlungen zum Abschluss des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine dem Abschluss nähern. Die Paraphierung sowie Unterzeichnung dieses Abkommens und insbesondere der sich daran anschließende Prozess seiner Ratifizierung im Europaparlament und den Legislativen der EU-Mitgliedsstaaten dürfte erstmals die breite Öffentlichkeit Europas auf die Beziehungen zwischen Brüssel, Kiew und Moskau aufmerksam machen.

Die Rolle der neuen Ostsee-Pipeline

Mit der Inbetriebnahme der Nord Stream-Gasleitung zwischen Russland und Deutschland im November 2011 ergibt sich eine weitere Fragestellung zur künftigen Gestaltung des Dreiecks EU-Russland-Ukraine. Der Effekt von Nord Stream dürfte eine nachhaltige Störung der bisherigen wirtschaftlichen Grundlagen der Beziehungen Russlands zur Ukraine sowie zu Belarus zur Folge haben. Bislang bestand eine Art ökonomisches Kräftegleichgewicht zwischen Moskau einerseits sowie Kiew und Minsk andererseits. Während Belarus und die Ukraine vollständig auf russische Gaslieferungen angewiesen waren und sind, hatte Russland Interesse am ununterbrochenen Funktionieren des Transportes von Gas nach Zentral- und Westeuropa über das Territorium der beiden »Brudervölker«.

Das wird sich mit Nord Stream zwar nicht vollständig ändern und die neue Transportmöglichkeit für das russische Gas an der Ukraine und Belarus vorbei wird auch kaum unmittelbare Konflikte zur Folge haben. Allerdings birgt Nord Stream für den Kreml die Versuchung, diesen zusätzlichen ökonomischen Hebel für eine Neudefinition seiner Beziehungen zu den zwei früheren Sowjetrepubliken zu nutzen. Bleibt zu hoffen, dass die russische Führung die angedeutete Zweischneidigkeit eines derartigen Ansatzes erkennt. Die unmittelbaren Trümpfe, die Russland durch Nutzung der Ostseepipeline für politische Zwecke erhält, könnten dem Kreml kurzfristig bedeutsam erscheinen. Die langfristigen Effekte eines Einsatzes des neuen wirtschaftlichen Druckmittels wären jedoch ähnlich ambivalent, wie im Falle der scheinbar erfolgreichen russischen Verhandlungen zu den Gaslieferungen Russlands an die Ukraine vom Januar 2009. Heute erleben die prorussischen Eliten und Bürger infolge der überhöhten Gaspreise für die Ukraine eine Ernüchterung hinsichtlich des Verhältnisses Russlands zu ihrem Land. Sollte der Kreml unter Zuhilfenahme von Nord Stream den Druck auf die Ukraine weiter erhöhen, würde sich die Enttäuschung der potenziellen Freunde Russlands in der Ukraine weiter verstärken.

Zukunftsperspektiven

Die Beziehungen zwischen Brüssel, Moskau und Kiew werden sich in den nächsten Jahren verkomplizieren. Dies ist zum einen durch die wachsende Zahl neuer Initiativen der Europäischen Union in Osteuropa bedingt. Wie jüngst durch Putins Idee einer Eurasischen Union bestätigt, hält Russland zum anderen an seinem Bestreben fest, in Nordeurasien eine eigene Einflusssphäre zu demarkieren. Bereits die 2009 gestartete Östliche Partnerschaft der EU mit sechs postsowjetischen Staaten führte zu einer Modifizierung der russischen Haltung gegenüber der europäischen Idee. Mit ihrer Ostpartnerschaft hat die Europäische Union Moskauer Hegemonieansprüche im postsowjetischen osteuropäischen und südkaukasischen Raum in Frage gestellt. Russland distanzierte sich daher ausdrücklich von dieser Initiative. Der Kreml könnte künftige Aktivitäten der EU auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR zum Anlass für eine weitere Abkühlung seines Verhältnisses zu Brüssel nehmen.

Eine neue Quelle für Kreml-Unmut ist bereits in Sichtweite: das EU-Ukraine-Abkommen über eine vertiefte und umfassende Freihandelszone. Zwar ist noch unklar, ob das die Freihandelszone einschließende Assoziierungsabkommen tatsächlich unterzeichnet und vor allem, ob es in naher Zukunft ratifiziert wird. Käme es jedoch wie geplant dazu, so würde dies die größte internationale Vereinbarung darstellen, welche sowohl die EU als auch die Ukraine je eingegangen sind. Das europäisch-ukrainische Assoziierungs- und Freihandelsabkommen könnte nicht nur zu einer weitgehenden – wenn auch kaum vollständigen – Loslösung der Ukraine vom postsowjetischen Wirtschaftsraum, in dem Russland dominiert, führen. Eine politische Assoziation in Kombination mit freiem Handel sowie liberalem Reiseregime würde über kurz oder lang zu so genannten Ansteckungseffekten (spill-over effects) sowohl innerhalb der ukrainischen Gesellschaft als auch der EU-Mitgliedsstaaten führen. Eine erfolgreiche Ratifizierung dieser Abkommen sowie deren anschließende Implementierung könnten bereits in zehn Jahren neue Kriterien für die Bewertung des Platzes der Ukraine innerhalb Europas schaffen. Sollten sämtliche laufenden Projekte zwischen Kiew und Brüssel in den nächsten Jahren tatsächlich planmäßig umgesetzt werden, wäre zum Beispiel eine neue Diskussion um eine Vollmitgliedschaft der Ukraine nicht nur in der EU, sondern auch in der NATO, denkbar.

Eine verkürzte, abgewandelte Version des Beitrages erschien zuvor in den »Blättern für deutsche und internationale Politik«.

Lesetipps / Bibliographie

Zum Weiterlesen

Analyse

Zur außenpolitischen Orientierung des neuen ukrainischen Präsidenten und der Partei der Regionen

Von Wilfried Jilge
Unmittelbar nach seiner Wahl zum Präsidenten reiste Viktor Janukowitsch zur EU-Kommission nach Brüssel, wo er seinen ersten Antrittsbesuch im Ausland absolvierte. Der früher häufig als prorussisch eingestufte Janukowitsch, für den 2004 die Präsidentenwahlen gefälscht wurden, gab sich in der Pressekonferenz mit José Manuel Barroso ausgesprochen proeuropäisch: Für die Ukraine werde, so Janukowitsch, die europäische Integration ebenso wie die Realisierung systematischer sozioökonomischer Reformen Priorität haben. Experten haben bereits im Wahlkampf darauf hingewiesen, dass der neue Präsident einen auf die Integration der Ukraine in die Strukturen der EU zielenden Kurs – wenn auch vorsichtiger als sein Vorgänger – fortsetzen könnte. Hatte die westliche Berichterstattung Janukowitsch früher meist als moskauhörigen Kandidaten eingestuft (was in dieser Eindeutigkeit schon 2004 nicht ganz richtig war), werden er und seine Rivalin Julia Timoschenko heute immer häufiger als gleichermaßen »prorussisch« wie »proeuropäisch« eingeschätzt. Dies ist keineswegs ausgeschlossen: Bei der Bewältigung der die Ukraine heftig treffenden Finanzkrise ist die Ukraine nicht nur auf Hilfe aus Moskau, sondern auch aus der EU dringend angewiesen. (…)
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Analyse

Rückkehr zum Multivektoralismus? – Eine Bilanz der Außenpolitik Janukowytschs

Von Inna Melnykovska
Die Debatten über die Außenpolitik des Präsidenten Janukowytsch sind stark mit den Debatten über die Innenpolitik verknüpft und normativ geprägt. Beobachter erwarten eine Korrelation zwischen der Annäherung an Russland und einem Anwachsen der autoritären Tendenzen in der ukrainischen Innenpolitik; für Erfolge in der Kooperation mit der EU wird hingegen Demokratie vorausgesetzt. Die Bilanz der einjährigen Amtszeit Janukowytschs zeigt, dass es in den beiden wichtigsten Bereichen der Außenpolitik – Zusammenarbeit mit der EU und mit Russland – Kooperationserfolge, aber auch Konflikte zu verzeichnen gibt. Auf den ersten Blick ähnelt die Außenpolitik Janukowytschs der multivektoralen Außenpolitik des ehemaligen Präsidenten Leonid Kutschma. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass sie im Gegensatz zur Politik Kutschmas nicht primär darauf ausgerichtet ist, die Einflüsse der beiden genannten externen Akteure gegeneinander auszuspielen. (…)
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