Die Ukraine nach dem EU-Gipfel in Vilnius: Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens, Polizeigewalt und Radikalisierung der Massenproteste

Von Katerina Bosko [Malygina] (Bremen)

Zusammenfassung
Am 21. November beschloss die ukrainische Regierung, die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der EU auszusetzen. In der ganzen Ukraine begannen sofort Massenkundgebungen zur Unterstützung der europäischen Integration. Während der letzten zwei Wochen haben sich die Ziele der Proteste aber dramatisch verändert. Auf den »EuroMaidans« wird nicht nur die Rückkehr zur proeuropäischen Außenpolitik gefordert, sondern auch der Rücktritt der Regierung und die Amtsenthebung des Präsidenten. Nach dem 30. November radikalisierten sich die Massenproteste, als die Polizei eine pro-europäische Demonstration gewaltsam auflöste. Sofort wurde der Ukraine ein Schicksal von Jugoslawien oder Belarus prophezeit. Aber heute ist es absehbar, dass sich die Ereignisse in der Ukraine auf ihre eigene Weise entwickeln werden.

Stimmungsänderung: vom »Euromaidan« zur »Eurorevolution«

Die Stimmungsänderung auf dem EuroMaidan ist sehr auffällig. Noch vor dem Gipfel in Vilnius waren die Proteste hauptsächlich unpolitisch und die Demonstranten forderten von Janukowytsch nur die Unterzeichnung eines EU-Abkommens. So duldeten zum Beispiel die Studenten am 26. November keine Politiker, einschließlich des Box-Weltmeisters und heutigen Oppositionsführers Witalij Klitschko, bei ihrer eigenen Kundgebung. An einem gewissen Punkt gab es sogar zwei Zentren der Proteste – ein unpolitischer auf dem Platz der Unabhängigkeit und ein politischer auf dem Europa-Platz. Gleichwohl wurden die beiden EuroMaidans am 27. November zu einem verschmolzen und es wurde beschlossen, die Proteste ohne Parteisymbole durchzuführen.

Nach Polizeigewalt gegen Demonstranten in den frühen Morgenstunden am 30. November radikalisierten sich die Proteste. Die Auflösung war extrem brutal: Die Polizei-Sondereinheit Berkut schlug alle, einschließlich Frauen und Passanten, mit Knüppeln. Mehreren hundert Demonstranten gelang es, der Verfolgung durch Flucht ins St. Michaelskloster zu entkommen. Laut der Initiativgruppe EuroMaidanSOS waren 157 Personen betroffen, laut der Generalstaatsanwaltschaft nur 79. Früh am 30. November erklärte ein Abgeordneter aus der Partei der Regionen, dass die Demonstranten die Aufstellung eines Weihnachtsbaumes auf dem Maidan der Unabhängigkeit behindert hätten. Anschließend wurde der Weihnachtsbaum im Volksmund als »blutig« bezeichnet und später mit Nationalflaggen geschmückt.

Die Gewaltanwendung löste eine Welle der Wut aus und die Proteste schöpften neue Kraft. Am 1. Dezember kamen ca. 350.000 bis 500.000 Menschen auf die Straße. Die Opposition forderte den Rücktritt der Regierung, die Amtsenthebung des Präsidenten und die vorzeitige Auflösung des Parlaments. Einige Demonstranten begannen zur Revolution aufzurufen. Jedoch ist die Mehrheit für die Fortsetzung der friedlichen Demonstrationen. Allerdings haben regierungskritische Demonstranten in Kiew eine Lenin-Statue gestürzt. In sozialen Netzwerken sind die Aufrufe zum Boykott ukrainischer Unternehmen zu hören, die Abgeordneten aus der Partei der Regionen gehören. Darüber hinaus wurde für eine Online-Petition zu persönlichen Sanktionen gegen den ukrainischen Präsidenten auf der Internetseite des US-amerikanischen Weißen Hauses in nur vier Tagen die notwendige Zahl der Unterzeichner von 100.000 erreicht.

Am 1. Dezember gab es einen weiteren blutigen Zwischenfall. Eine organisierte Gruppe von jungen Männern in Masken versuchte, die Präsidialverwaltung mit einem Bulldozer zu stürmen. Dabei leisteten die jungen Soldaten, die in den ersten Reihen vor der Spezialeinheit Berkut standen, zunächst keinen Widerstand gegen die Angriffe der Demonstranten. Die Konfrontation dauerte drei Stunden und endete mit der Niederschlagung durch die Spezialeinheit Berkut. Von insgesamt 165 Verletzten wurden 109 Menschen ins Krankenhaus eingeliefert. Unter den Opfern waren mehr als 100 Polizeibeamte, etwa 40 Journalisten und Demonstranten.

Für die Verschärfung der politischen Krise in der Ukraine spricht auch die Ausdehnung der Proteste. Am 8. Dezember fand in Kiew ein »Marsch der Millionen« statt, an dem mindestens 500.000 Menschen teilnahmen. Wie vor zwei Wochen hat die Partei der Regionen erneut eine Kundgebung in Kiew organisiert, um die Politik des Präsidenten zu unterstützen. Die Kundgebung »Wir bauen Europa in der Ukraine« besuchten nach Angaben der Partei der Regionen ca. 15.000 Menschen.

Seit Anfang Dezember versuchen die Protestierenden, drei Verwaltungsgebäude zu blockieren: das Ministerkabinett, die Präsidialverwaltung und das Parlament. Am 1. Dezember stürmten sie erfolgreich das Kiewer Rathaus und das Haus der Gewerkschaften. Hier wurden anschließend ein »Stab des Nationalen Widerstands« und eine Unterkunft für Demonstranten eingerichtet. Am 8. Dezember besetzen die Demonstranten das gesamte Regierungsviertel mit Barrikaden und Zelten. Der Sicherheitsdienst hat sofort Strafverfahren wegen des Versuchs der illegalen Machtübernahme eingeleitet. Zwei Tage später räumte die Polizei die von Demonstranten errichteten Zelte und Barrikaden und sperrte vorübergehend zentrale U-Bahn-Stationen. Am gleichen Tag wurde auch die Zentrale der oppositionellen Vaterlandspartei gestürmt.

Die Konfrontation verschärft sich weiter (Stand 10. Dezember). Als Bedingung für die Aufnahme von Verhandlungen verlangte die Regierung, die Belagerung öffentlicher Gebäude zu beenden. Darauf hat die Opposition mit eigenen Forderungen reagiert: Die Verhandlungen mit der Regierung seien nur nach dem Rücktritt der Regierung, Bestrafung der Verantwortlichen für die Gewalt gegen Demonstranten und nach der Freilassung der inhaftierten Demonstranten möglich. Am 9. Dezember erklärte sich Präsident Janukowytsch bereit, einen trilateralen Dialog mit ehemaligen Staatschefs und Vertretern der Opposition aufzunehmen. Am nächsten Tag fanden Verhandlungen am Runden Tisch zwischen dem aktuellen und den ehemaligen Präsidenten der Ukraine statt. Dabei wurde die Opposition, nach eigener Angabe, nicht eingeladen.

Die Reaktion der ukrainischen Führung

Die ukrainische Führung reagierte sehr unterschiedlich auf die beiden Vorfälle vom 30. November bzw. 1. Dezember. Am Morgen des 30. November ließ die Kiewer Polizei verlautbaren, seitens der Demonstranten seien Provokationen erfolgt. Diese erste Version wurde schon abends durch eine neue Version ersetzt. Verantwortlich dafür sind offensichtlich die Aufnahme des Vorfalls, ihre weite mediale Verbreitung, die Fortsetzung der Massenproteste und die Verurteilung der Ereignisse durch westliche Staaten und die EU. Ministerpräsident Asarow und Präsident Janukowytsch verurteilten die Gewalt in jeweils eigenen Erklärungen und versprachen, dass die Verantwortlichen in entsprechenden Untersuchungen zur Rechenschaft gezogen würden. Schon am nächsten Tag legten die Sicherheitsbehörden eine andere Version der Ereignisse vor: Innenminister Walerij Sachartschenko entschuldigte sich für das übertrieben brutale Vorgehen der Spezialeinheit Berkut. Gleichzeitig erklärte Generalstaatsanwalt Wiktor Pschonka, dass sich »die Menschen legal auf dem Maidan aufgehalten haben«.

Gleichwohl kehrte die ukrainische Führung nach den Ereignissen vom 1. Dezember zu ihrer früheren Version der Provokateure zurück. In einem Interview erklärte Wiktor Janukowytsch am 2. Dezember, dass am 30. November »die Sicherheitsdienste den Bogen überspannt« hätten, dass sie jedoch »etwas dazu provoziert« habe. Janukowytsch bewertete darüber hinaus die Konsequenzen aus dem 30. November und dem 1. Dezember sehr unterschiedlich. In einem Kommentar über die Niederschlagung der Demonstration forderte er die Bestrafung der Schuldigen. In einer Einschätzung der Handlungen der Sicherheitskräfte erwähnte der Präsident mit keinem Wort, dass er sie wegen der Übertretung ihrer Befugnisse zur Verantwortung ziehen wolle, sondern sprach lediglich über nötige Schlussfolgerungen und Bewertungen. Mykola Asarow kommentierte die Geschehnisse ähnlich. Bei einer Parlamentssitzung am 3. Dezember bat er für die Handlungen der Sicherheitskräfte auf dem Maidan um Entschuldigung, bemerkte jedoch, dass »die Sicherheitsbehörden zur Wiederherstellung der Ordnung keine Gewalt angewendet« hätten, und dass am 30. November nur »ein Mensch im Alter von 17 Jahren« zu Schaden gekommen sei. Diese Äußerung steht in starkem Kontrast zu Aussagen von Aktivisten des EuroMaidans, die behaupten, bei der Aktion am 30. November seien mindestens 35 Personen unter 25 Jahren verletzt worden.

Man gewinnt leicht den Eindruck, dass die Ereignisse vom 1. Dezember eigens dafür provoziert wurden, damit die Diskussionen über den gewaltsamen Einsatz vom Vortag aufhören. So betont die ukrainische Führung heute in ihren Äußerungen die Provokationen durch den extremistischen Flügel des EuroMaidans, die juristische Verantwortung für den Sturm der Präsidialadministration und die Besetzung anderer Verwaltungsgebäude. Die Reaktion der Justiz ist ebenfalls bemerkenswert. Schon am zweiten Tag nach den Ereignissen vom 1. Dezember begannen Gerichte damit, erste Arreststrafen für Demonstranten anzuordnen – gleichzeitig wurde bisher (Stand 10. Dezember) niemand wegen der gewaltsamen Niederschlagung der Demonstration am 30. November verhaftet.

Bisher sind alle Versuche der Regierung, die Situation im Land unter Kontrolle zu bringen, missglückt. Seit dem Beginn der Proteste haben Gerichte 27 Demonstrationsverbote verhängt, und zwar in 13 von 24 Regionen des Landes, sowie auf der Krim und in Sewastopol. Die Proteste gingen jedoch, der Verbote ungeachtet, weiter. Die Regionen reagieren ziemlich unterschiedlich auf die politische Krise. EuroMaidans gibt es in ausnahmslos allen Regionen des Landes, jedoch in unterschiedlicher Teilnehmerzahl. Die größten Demonstrationen finden sich im Westen der Ukraine (8.000 bis 50.000 Teilnehmer). In den letzten Tagen sind jedoch auch in einigen östlichen Regionen die Teilnehmerzahlen auf mehrere Tausend angestiegen. Demonstrationen zur Unterstützung der Regierung gab es in sechs östlichen Regionen, die größten darunter waren in Charkiw (70.000 Menschen) und in Donezk (15.000). Die Kommunisten veranstalteten einige kleinere Aktionen zur Integration in die Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan. Vier Regionalparlamente süd-östlicher Gebiete riefen zudem Präsident Janukowytsch dazu auf, die Lage im Land zu stabilisieren. Das Parlament der Krim forderte gar, den Ausnahmezustand auszurufen. Im Gegensatz dazu deklarierten drei westliche Regionen am 2. Dezember den Beginn einen unbegrenzten Generalstreiks.

Die ukrainische Führung hat keinen exklusiven Zugriff auf die Medienlandschaft, weshalb es ihr auch in dieser aktuellen Krise nicht gelang, genug Medienressourcen für ihre Ziele einzusetzen. Vor dem EuroMaidan war die Situation der Pressefreiheit in der Ukraine ziemlich kritisch – unbequemen Fernsehkanälen entzog man die Lizenz und verteilte sie an loyale Medien. Heute scheint es jedoch, dass die Oligarchen, denen ein Großteil der ukrainischen Fernsehsender gehört, sich auf die Seite der Protestierenden stellen. Sogar die Demonstranten selbst gaben zu, dass die Berichterstattung objektiv ablaufe. Anders werden die Ereignisse vom staatlichen Sender und den Medien der jüngst gegründeten UMH-Holding dargestellt. Diese Gruppe gehört zur Einflusssphäre Janukowytschs. Jedoch haben bereits drei Journalisten dem staatlichen Sender aus Protest gegen seine Redaktionspolitik gekündigt. Trotzdem findet Ministerpräsident Asarow, dass die wichtigen Kanäle zu wenig über die Kundgebungen zur Unterstützung der Regierung berichten. Zudem wurde am 2. Dezember ein Gesetzesprojekt zur Bekämpfung von Extremismus eingebracht, das es erlaubt, friedliche Versammlungen und bestimmte Medien im Interesse der nationalen Sicherheit zu verbieten. Es kann zurzeit jedoch nicht darüber abgestimmt werden, da die Opposition das Parlament blockiert. Darüber hinaus stürmte Polizei am 9. Dezember die Büros des oppositionellen Senders INTV, der Internetseite »Censor.net« und der Zeitung »Abendnachrichten« und beschlagnahmte ihre Server.

Nach der gewaltsamen Auflösung der Proteste am 30. November begann es auch in der Partei der Regionen zu brodeln. Vier Abgeordnete verurteilten öffentlich die Gewaltanwendung, zwei davon traten aus der Partei aus. Es gelang jedoch relativ schnell, die Parteidisziplin wiederherzustellen. So stimmte lediglich ein Abgeordneter der Partei der Regionen am 3. Dezember bei einem Misstrauensvotum gegen die Regierung. Dementsprechend gelang es dem Parlament nicht, die Regierung aufzulösen – dafür stimmten nur 186 Abgeordnete, 226 wären nötig gewesen.

Momentan haben weder die Partei der Regionen, noch die Führung des Landes einen Plan, wie ein Ausweg aus der politischen Krise aussehen könnte. Bis vor kurzem bestand die Taktik darin, alle Forderungen der Demonstranten komplett zu ignorieren und darauf zu hoffen, dass die Proteste irgendwann von selbst nachlassen. Präsident Janukowytsch war beispielsweise, abgesehen von zwei Interviews und einer auf seiner Website veröffentlichten Stellungnahme, öffentlich nicht aufgetreten. Im Kontrast zu seinem »Verstummen« in der Innenpolitik, war er jedoch in der Außenpolitik äußerst aktiv: unmittelbar nach den blutigen Vorfällen wurden Regierungsdelegationen nach Brüssel und Moskau geschickt, und der Präsident selbst sagte seine geplante Chinareise nicht ab. Nach der Form dieser Gespräche zu urteilen, beabsichtigte der Präsident, zunächst die ökonomische Situation des Landes über Auslandskredite zu stabilisieren, und sich erst danach mit den aktuellen politischen Fragen zu beschäftigen.

Die Taktik der Opposition und die Wiederbelebung der Zivilgesellschaft

Die renommierte ukrainische Journalistin Julia Mostowa schrieb am 6. Dezember über den EuroMaidan wie folgt: »Das Problem ist, dass sich der Maidan 2013 als problematisch für fast alle erwies: Die Oppositionsführer wissen nicht wirklich, was damit anzufangen ist; die Regierung reagiert darauf aggressiv und hat Angst; Russland äußert offenen Hass; und der Westen ist nicht bereit, Unterstützung anzubieten, die wenn nicht von den Demonstranten, dann von den Oppositionsführern erwartet wird.«

Zwar handeln die drei Oppositionsführer – Witalij Klitschko (Partei UDAR), Arsenij Jazenjuk (Partei Vaterland) und Oleh Tjahnybok (Partei Freiheit) – heute schlüssig, hatten aber lange Zeit keinen konkreten Plan. Erst am 5. Dezember erstellte die Opposition eine Aufgabenliste. Dabei ist der Großteil der Maßnahmen auf Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angelegt. Ansonsten besteht die Haupttaktik der Opposition in unbefristeter Fortsetzung der friedlichen Proteste.

Eine fehlende Strategie ist durch die Tatsache zu erklären, dass die heutigen Proteste, im Gegensatz zu den Protesten vom Jahr 2004, von unten initiiert wurden und die Oppositionsparteien kalt erwischt haben. So wurde behauptet, dass das Rückgrat der Revolte – Intellektuelle, Studenten und Vertreter der Mittelklasse – nach der Orangen Revolution enttäuscht und demoralisiert sei. Doch am 26. und 27. November gab es in der ganzen Ukraine Studentenstreiks, der größte von ihnen fand mit über 15.000 Teilnehmern in Kiew statt. Der Mittelstand bietet heute den Demonstranten gratis Tee und Internet in ihren Cafés an und die intellektuelle Elite unterstützt die Protestgeist der Demonstranten durch verschiedene Konzerte oder kostenlose medizinische und juristische Hilfe.

Der EuroMaidan in Kiew ist hervorragend organisiert und funktioniert ununterbrochen. Täglich wird Verpflegung für etwa 80.000 Menschen organisiert, für ca. 20.000 Angereiste wird eine Unterkunft angeboten. Die Demonstranten schützt ein Team von Freiwilligen, das ständig auf den Straßen patrouilliert. Über das Internet verbreiten die Aktivisten Informationen über die Bedürfnisse von Demonstranten. Einfache Bürger und Bürgerinnen bringen warme Kleidung, Lebensmittel, bieten Unterkunft für Angereiste oder spenden. Laut der offiziellen Facebook-Seite des EuroMaidans wurden in Kiew im Zeitraum vom 21. November bis zum 2. Dezember mehr als 600.000 Hrywnja (etwa 54.000 Euro) Spenden gesammelt. Alle Ausgaben sind transparent. Das Solidaritätsgefühl wächst beim gemeinsamen Singen der Nationalhymne auf den Straßen und sogar in der U-Bahn. Auch wenn die Demonstranten am Ende nicht alle ihre Ziele erreichen, hat der EuroMaidan schon eine Wirkung – die Wiederbelebung der Zivilgesellschaft in der Ukraine.

Friedliche Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmern stehen in starkem Kontrast zu zwei blutigen Zwischenfällen, die am 30. November und 1. Dezember stattfanden. Für Außenseiter ist schwer zu beurteilen, was in diesen Tagen wirklich passiert ist. Während die ukrainische Führung die Schuld an den Ereignissen den ultraradikalen Nationalisten zuschreibt, spricht die Opposition über von der Regierung bezahlte Provokateure, sogenannte Tituschki. So werden in den ukrainischen Medien die Straßen-Hooligans genannt, die speziell für Gewaltaktionen rekrutiert werden. Der Name kommt von einem Wadim Tituschko, der im Mai 2013 zwei Journalisten bei einer Aktion der Opposition verprügelt hat.

Der EuroMaidan tickt auf seine eigene Weise und hat keinen eindeutigen Anführer. So will die Initiativgruppe »1. Dezember«, die im Jahr 2011 von Vertretern der nationalen Intelligenz gegründet wurde, den Dialog mit der Regierung aufnehmen, obwohl sie auch den Rücktritt der Regierung, Bestrafung der Verantwortlichen für die Gewalt gegen Demonstranten und die Unterzeichnung des Abkommens mit der EU fordert. Julia Tymoschenko forderte dagegen die Ukrainer in einem Brief auf, keine Gespräche mit der Regierung aufzunehmen und hat ebenso einen eigenen Aktionsplan vorgeschlagen. Dieser sieht den Übertritt der Armee auf die Seite der Protestierenden, die Verhängung internationaler Sanktionen gegen Janukowytsch und die Fortsetzung der friedlichen Proteste vor. Ein weiterer Teil der intellektuellen Elite, der von dem Schriftsteller Juri Andruchowytsch geleitet wird, formulierte auch den eigenen Plan, »Aufgabe 5/12«. Laut diesem wollen die Unterzeichner bei allem Hass zu Janukowitsch nicht »seinen Kopf auf einem Teller«, sondern ein Land, in dem die Konzentration der Macht in wenigen Händen unmöglich sei. Somit fordern sie eine Rückkehr zur Verfassung von 2004, die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU, die Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes und eines Gesetzes zur Lustration in den Gerichten, Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden. Darüber hinaus werden auch konkrete Forderungen an die Opposition gestellt, so etwa die Vorstellung des künftigen Kabinetts und eines konkreten Reformplans für das erste Jahr an der Macht.

Die Reaktion der EU

Trotz der harten Worte hofften die europäischen Politiker beim EU-Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Vilnius bis zum letzten Moment auf einen Erfolg. Im Hintergrund blieb sogar die Frage der Freilassung von Julia Tymoschenko. Am Ende wurde in Vilnius jedoch kein Abkommen unterzeichnet, weil die ukrainische Seite eine Woche vor dem Treffen plötzlich zwei neue Forderungen stellte. Erstens wollte sie eine finanzielle Entschädigung für die Verluste aufgrund der russischen Handelsaktionen. Zweitens wurde die Bildung einer trilateralen Kommission unter Beteiligung von Russland, der EU und der Ukraine noch vor der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens verlangt.

Beide Anforderungen haben die europäischen Politiker sehr überrascht. Am 26. November teilte der EU-Erweiterungskommissar Štefan Füle mit, dass Kiew keinen offiziellen Antrag bei den EU-Behörden bezüglich der Entschädigung eingereicht habe. Die Summe in Höhe von 160 Mrd. Euro, die laut Wiktor Janukowytsch für die Anpassung der ukrainischen Wirtschaft an europäische Standards nötig sei, bezeichneten die europäischen Politiker als unbegründet. Später erklärte die ukrainische Seite, dass für die Berechnung der Durchschnittsbetrag der EU-Hilfe für die Länder Mitteleuropas in den vergangenen zwei Jahrzehnten herangezogen wurde. Nach dem Gipfel reduzierte Kiew die Summe der dringend notwendigen Investitionen auf 10 Mrd. Euro. Die Position der EU besteht dabei darin, dass die Freihandelszone mit der EU für die Ukraine wirtschaftlich und finanziell vorteilhaft sei. Darüber hinaus seien die Vereinbarungen für die Ukraine langfristig von Vorteil, während die Verluste im Handel mit Russland kurzfristiger Natur sind. Auch die zweite Forderung lehnte die EU kategorisch ab. Am 29. November schloss der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso die Möglichkeit dreiseitiger Verhandlungen komplett aus, unter Berufung auf die Tatsache, dass bei bilateralen Verhandlungen eine dritte Partei überflüssig sei.

Demgemäß scheiterten die Versuche Janukowytschs, zwischen Russland und der EU zu manövrieren. Bei dem Gipfel in Vilnius war der Präsident der Ukraine anstatt des Siegers ein eindeutiger Verlierer. Trotz der Enttäuschung hat die EU ihre Position nicht verändert. Die EU-Politiker betonen, dass das Abkommen vor allem von der ukrainischen Regierung abgelehnt wurde, die Türen nach Europa blieben für die Ukraine geöffnet. Doch trotz der Aussagen Janukowytschs über die mögliche Unterzeichnung eines Abkommens im Frühjahr 2014 hat die EU momentan keine Absicht, das konkrete Datum in naher Zukunft zu bestimmen.

Die Massenproteste in der Ukraine haben die EU-Politiker ebenso kalt erwischt. Die ersten Schlagzeilen über den Sieg Russlands nach dem Kurswechsel der Ukraine wurden schnell durch Schlagzeilen über die Massenproteste ersetzt. Die EU hat ihre Solidarität mit den Demonstranten in der Ukraine demonstriert. Manche Spitzenpolitiker besuchten den Euromaidan persönlich. Noch vor dem 30. November waren die litauische Parlamentspräsidentin Loreta Graužinienė, der polnische Abgeordnete Marcin Święcicki, die Europaabgeordneten Rebecca Harms und Paweł Kowal auf den EuroMaidan gekommen. Am 1. Dezember haben polnische Politiker den Euromaidan besucht. Fünf Tage später reiste eine Delegation von Europaabgeordneten der EVP-Fraktion in die Ukraine. Während der OSZE-Konferenz in Kiew haben den EuroMaidan auch der deutsche und der kanadische Außenminister besucht. Die Unterstützung der EU bestand allerdings bisher nur in Worten und nicht in Taten. So wurden die Aufrufe der Ukrainer nach Verhängung von Sanktionen gegen Präsident Janukowytsch außer Acht gelassen, weil sie als direkte Einmischung in interne Angelegenheiten der Ukraine eingestuft werden.

Noch am 26. November haben die beiden Europaparlamentarier Elmar Brok (EVP, DE) und Jacek Saryusz-Wolski (EVP, PL) die ukrainische Regierung vor Gewaltanwendung gewarnt, andernfalls würden ernsthafte Konsequenzen gezogen werden. Trotz dieser Warnung kam es in der Ukraine, wie bekannt, zu Polizeigewalt gegen Demonstranten. Die Reaktion darauf war in der westlichen Welt, nicht jedoch in Russland, Verurteilung. Die EU, die UNO, die OSZE und sogar die NATO bekundeten ernsthafte Besorgnis über die Situation in der Ukraine. Neben mehreren Außenministerien der europäischen Länder haben auch das polnische und das litauische Parlament in besonderen Erklärungen die Gewaltanwendung durch die Polizei verurteilt. Einige Länder wie etwa die USA, Frankreich und Großbritannien und die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton sagten ihre Teilnahme am OSZE-Treffen in Kiew am 5. und 6. Dezember ab.

Als sich die Lage in der Ukraine verschärfte, rief der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in zwei Telefongesprächen mit Präsident Janukowytsch am 2. und 8. Dezember zu einem Dialog mit der Opposition auf. In der Ukraine wird die EU-Außenbeauftragte Ashton am 10. und 11. Dezember einen Vermittlungsversuch unternehmen. An diesen Tagen will auch das EU-Parlament in einem Beschluss Stellung zu den Ereignissen in der Ukraine beziehen.

Die Reaktion Russlands

Russland reagierte auf die Kehrtwende des außenpolitischen Kurses der Ukraine ziemlich zurückhaltend. Präsident Putin nahm sofort die Einladung der ukrainischen Seite zu trilateralen Gesprächen zwischen Russland, der Ukraine und der EU an, stellte jedoch die Bedingung, dass diese vor Kiews Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU stattfinden sollen. Darüber hinaus nannte man im Kreml die Absage der Ukraine an die EU eine souveräne Entscheidung der Ukraine. Aufgrund der ausdrücklich formulierten Position der Nichteinmischung gibt es nur relativ wenige Stellungnahmen der russischen Führung. Gleichwohl war die Ernennung von Putins Berater Sergei Glasjew zum »Menschen des Jahres 2013« für Verdienste bei der »Unterstützung der Rückkehr der Ukraine in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit Russland« vielsagend.

Die Reaktion Russlands auf die Massenproteste in der Ukraine war vorauszusehen. So wie vor acht Jahren während der Orangen Revolution, ist es auch heute eine zentrale Aufgabe des Putin-Regimes, die Ausbreitung der Protestlaune nach Russland zu verhindern und in Russland selbst für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Aus diesem Grund bezeichnete Putin die Proteste in der Ukraine als gut vorbereitet und erklärte, dass sie eher einem Pogrom als einer Revolution glichen. Die russischen Medien portraitierten die Demonstrationen derweil als einen Putsch, als verfassungswidrige Machtübernahme durch die Opposition. Friedliche Proteste sind in russischen Berichten »Straßenunruhen«, die Teilnehmeranzahl wird zu niedrig angegeben, die Proteste als gekauft dargestellt und die Zusammenstöße mit der Polizei als Provokationen seitens der Protestierenden verkauft. Dabei wird der Schwerpunkt der Berichterstattung auf die verletzten Polizisten gelegt, die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung findet keine Erwähnung. Bemerkenswert ist außerdem, dass die russischen Massenmedien die ersten waren, die die Information über die mögliche Ausrufung des Ausnahmezustandes in der Ukraine verbreiteten – was bisher (Stand 10. Dezember) unterblieben ist.

Ein weiterer Strang in der russischen Rhetorik ist die Verurteilung von Wort und Tat der EU-Politiker in Bezug auf die Ukraine, die Präsident Putin am 22. November als Erpressung bezeichnet hatte. Auf diese Weise setzt sich die Rivalität zwischen Russland und der EU fort. So fiel auch die Reaktion des russischen Außenministeriums auf eine gemeinsame Erklärung von EU-Ratspräsident Herman van Rompuy und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso vom 25. November sehr deutlich aus. In der Erklärung hatten die EU-Beamten zum wiederholten Male Russlands Position in Bezug auf die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU verurteilt. Das russische Außenministerium erklärte daraufhin, dass »eine solche Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates die oppositionell ausgerichteten Teile der ukrainischen Bevölkerung zu Protest und rechtswidrigen Handlungen gegen die gesetzmäßige ukrainische Macht aufstachelt.« (Erklärung siehe S. 10). Von russischen Medien werden gleichfalls ähnliche Berichte über EU-Politiker verbreitet, die angeblich von der Tribüne des Maidans zum Ungehorsam gegen die Machthaber aufrufen. In seiner beliebten Wochenschau am 1. Dezember verglich der Journalist Dmitri Kiseljow den Gipfel von Vilnius gar mit Ereignissen in München im Jahr 1933 und nannte Schweden, Polen und Litauen (die das Assoziationsabkommen mit der Ukraine maßgeblich vorangetrieben hatten) eine antirussische Allianz, die jetzt Rache für Poltawa nehmen wollen (in der Schlacht bei Poltawa im Jahr 1709 besiegte die Armee Peters des Großen das Heer des Schwedenkönigs Karl XII; dies war der Wendepunkt des Großen Nordischen Krieges, nach dem Russland seine Vorherrschaft im Ostseeraum behaupten konnte). Übrigens wird Dmitri Kiseljow bald die neue Internationale Agentur »Russland Heute« leiten, die Präsident Putin am 9. Dezember per Erlass formiert hat. Laut Kiseljow werde seine neue Aufgabe darin bestehen, eine »faire Einstellung zu Russland« wiederherzustellen.

Bisher hat die russische Seite die Absage Kiews an das Assoziierungsabkommen mit der EU materiell noch nicht belohnt, wobei die Handelsbeschränkungen von Seiten Russlands bereits aufgehoben wurden. Gazprom, und wenig später Putin, bestritten die Aussage Asarows, dass Russland sich mit der Ukraine darauf geeinigt habe, den Gasvertrag vom Jahr 2009 neu zu verhandeln. Ebenfalls zurückgewiesen wurde die Erklärung der ukrainischen Seite, dass die Zahlungen für eine Gaslieferung für Oktober bis Dezember 2013 erst im Frühjahr 2014 entrichten werden könnten. Zusätzlich unterstrich der Gazprom-Chef Aleksej Miller, dass die Ukraine Russland noch zwei Milliarden US-Dollar für Lieferungen von August bis November schulde. Nach Äußerungen von Putin schulde die Ukraine russischen Banken zusätzlich etwa 30 Milliarden US-Dollar. Jedoch hat Russland, nach einigen Angaben, mit dem Kauf ukrainischer Staatsanleihen begonnen. Der rasche Anstieg des Ankaufs ukrainischer Wertpapiere durch Ausländer – im Moment beläuft sich die Summe auf mindestens 500 Millionen US-Dollar – setzte unmittelbar nach der Unterbrechung der Verhandlungen mit der EU ein. Händler verknüpfen diese Bewegungen mit russischen Investoren, insofern ist es nicht ausgeschlossen, dass Russland der Ukraine inoffiziell bereits zum jetzigen Zeitpunkt finanzielle Unterstützung zukommen lässt.

Für den 17. Dezember wird erwartet, dass die Ukraine und Russland beim Treffen der bilateralen russisch-ukrainischen Regierungskommission, ein Abkommen über eine strategische Zusammenarbeit unterzeichnen werden. Wie bekannt wurde, fanden am 4. Dezember in Moskau Gespräche auf Ebene der Vize-Ministerpräsidenten statt, am 6. Dezember traf sich Präsident Janukowytsch in Sotschi mit Präsident Putin. In der Ukraine gingen Gerüchte um, dass Janukowytsch sich zum Beitritt zur Zollunion bereiterklärt habe. Die Pressestellen beider Präsidenten wiesen diese Information jedoch sofort zurück. Es ist gut möglich, dass die Absprache in erster Linie die Frage der Gaslieferungen betrifft.

Aus dem Russischen von Katerina Malygina und Jan Matti Dollbaum

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