Russlands Krieg gegen die Ukraine und Afrika: Warum die Afrikanische Union zwar ambitioniert, aber gespalten ist

Von Ueli Staeger (Universität Genf)

Zusammenfassung
Die gespaltene Stimme Afrikas hinsichtlich Russlands Krieg gegen die Ukraine hat überrascht. Diese Analyse beleuchtet die Rolle der Afrikanischen Union (AU). Sie hebt zwei Hauptquellen der Spaltung innerhalb dieser Kontinentalorganisation hervor: Unterschiede in konkreten Positionen zu internationalen Fragen und die Delegation von Befugnissen an die AU-Kommission. Afrikas »aktive Blockfreiheit« im Verlauf von Russlands Krieg gegen die Ukraine, historisch informiert durch die politische Prägung Afrikas im Kalten Krieg, führte zu einem Versuch der Äquidistanz zu Russland und dem Westen. Diese komplexe Politik hat Auswirkungen auf die Diplomatie der AU während des Krieges und beeinflusst auch die Diplomatie der Ukraine im Globalen Süden.

Afrikas überraschende Rolle

Die globalen Auswirkungen von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine haben die afrikanischen Staaten in ihrem Ausmaß überrascht. Afrikas Bürger:innen wurden sich der unbequemen Tatsache bewusst, dass ihre Länder, ihre Volkswirtschaften und ihre Lebensmittelsysteme häufig von Importen aus der Ukraine und Russland abhängen. Hinzu kommen die politischen Auswirkungen darauf, wie globale Mächte über Werte wie nationale Souveränität und Selbstbestimmung denken. Dies ist insbesondere für Afrika ein wichtiges Thema, das weiterhin mit den Spätfolgen der Kolonialisierung kämpft. Die Leitfrage dieser Analyse ist, wie sich die Reaktionen und die Strategien Afrikas in Bezug auf den Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 erklären lassen. Der Fokus der Analyse liegt sowohl auf den tatsächlich erfolgten Reaktionen als auch auf den ausgebliebenen Reaktionen, die wiederum durch die großen Meinungsunterschiede auf dem Kontinent zu erklären sind.

Außenpolitische Strategien und kontinentale Verantwortlichkeiten: Afrika ist gespalten

Afrika strebt als Kontinent mehr Mitsprache auf der Weltbühne an. Jenseits dieses Grundprinzips sehen sich afrikanische Staaten mit maßgeblichen Meinungsunterschieden konfrontiert. Ihre kontinentale Regionalorganisation, die Afrikanische Union (AU), welche alle 55 afrikanischen Staaten umfasst, ist Projektionsfläche und Austragungsort großer Meinungsunterschiede innerhalb dieses Kontinents, in dem sich Staaten mit teils grundverschiedenen innen- und außenpolitischen Herausforderungen konfrontiert sehen. Innerhalb der AU wirken sich diese vor allem in zwei Aspekten aus: Die Haltung zu bestimmten Themen sowie das Ausmaß der Übertragung von Kompetenzen an die Kommission der AU, die Exekutive der Organisation.

Angesichts dieser zwei Quellen des Zwiespalts ist der minimale Konsensus, der innerhalb der AU zu außenpolitischen Fragen erzielt werden kann, oft die Äquidistanz zu verschiedenen Großmächten. Diese Haltung, die tief in der Geschichte des Kontinents verwurzelt ist, kann mit dem Begriff »aktive Blockfreiheit« bezeichnet werden (https://www.accord.org.za/analysis/africas-peace-mission-to-ukraine-russia-towards-a-strategy-of-active-non-alignment/): Afrikas derzeitige Staatsoberhäupter sind fast ausnahmslos im Kalten Krieg politisch sozialisiert worden und assoziieren die Strategie der »Blockfreien Staaten« (»Non-Aligned Movement«) mit Afrikas zumeist relativ unabhängigen und recht erfolgreichen Ansatz, mit beiden Blöcken des Kalten Kriegs pragmatische Beziehungen zu pflegen. Im Zuge von Russlands Krieg gegen die Ukraine hat diese aktive Blockfreiheit zu einer deutlich weniger kritischen Haltung gegenüber Russland geführt, was in vielen westlichen Ländern Frustration hervorrief.

Wie aber Afrikas Äquidistanz zu Russland, den USA und Europa umgesetzt werden soll, erzeugt weiteren Dissens. Afrikanische Staaten sind sich zunehmend uneinig, ob die AU eine supranationale Organisation mit starker Kommission sein soll, oder eher – wie es viele größere afrikanische Staaten wünschen – eine intergouvernementale Organisation mit einer Kommission, die sich auf Sekretariatsaufgaben beschränkt. Dieses Spannungsfeld ist auch für die Ukraine-Diplomatie der AU maßgeblich entscheidend: Wer hat ein Mandat, für Afrika zu sprechen?

Afrikanische Krisendiplomatie und Problembewältigung

Russlands Krieg gegen die Ukraine stellt nicht nur für die europäische Sicherheit, sondern auch für die afrikanische Diplomatie einen Wendepunkt dar. Der Krieg ist nämlich die erste internationale Krise außerhalb Afrikas seit zwei Jahrzehnten, mit der sich die AU befasst hat. Seit 2003 – während der US-amerikanischen Invasion des Iraks – hat die AU nicht mehr zu einer internationalen Krise außerhalb Afrikas Stellung bezogen. Ein solches Engagement in der hochrangigen außerafrikanischen Diplomatie ist neu für eine Organisation, die sich traditionell auf innerafrikanische Bedrohungen und Krisen konzentriert. Im Friedens- und Sicherheitsrat (Peace and Security Council, PSC) der AU gibt es keine institutionalisierte Praxis, zu nichtafrikanischen Sicherheitsfragen Stellung zu nehmen. Die Bedeutung der Führungsrolle der AU, die eine afrikanische Stimme der Deeskalation und der Blockfreiheit in einer drohenden außerafrikanischen Krise vertritt, kann daher gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Die Führung der AU war eine der ersten afrikanischen Stimmen, die Diplomatie zu Russlands Aggression gegen die Ukraine betrieb. Die AU tat dies als Tandem mit dem Vorsitzenden der AU, dem senegalesischen Präsidenten Macky Sall, und dem Vorsitzenden der AU-Kommission, Moussa Faki Mahamat. In ihrer ersten Erklärung am 24. Februar 2022 forderten sie »die Russische Föderation und alle anderen regionalen oder internationalen Akteure auf, das Völkerrecht, die territoriale Integrität und die nationale Souveränität der Ukraine unbedingt zu respektieren« (https://au.int/en/pressreleases/20220224/african-union-statement-situation-ukraine). Eine weitere Erklärung von Moussa Faki Mahamat konzentrierte sich auf die Behandlung von AU-Bürger:innen in der Ukraine, die bei der Einreise in die EU auf Hindernisse stießen, die ukrainische Bürger:innen hingegen nicht zu überwinden hatten.

Auf Druck größerer Mitgliedsstaaten konnte später einer solchen öffentlichkeitswirksamen Haltung immer weniger Platz eingeräumt werden, die doch maßgeblich den westlichen Positionen entsprach und gleichzeitig der AU-Kommission ein großes Gewicht zuschrieb. Die Idee einer aktiven Blockfreiheit gegenüber den Kriegsparteien hat sich zunehmend durchgesetzt. Eine geplante Reise Macky Salls und Moussa Faki Mahamats nach Russland und in die Ukraine für Gespräche auf höchster politischer Ebene wurde zu einer Krise für die Wahrnehmung der AU im Westen. Die Reise in die Ukraine wurde nach einem vielbeachteten Treffen mit Präsident Wladimir Putin (http://en.kremlin.ru/events/president/news/68564) abgesagt. Der formale Grund für die Absage konnte nicht über die große Einseitigkeit der AU-Mission in die Region hinwegtäuschen. Zentrales Thema der Diskussionen in Sotschi waren die Nahrungssicherheit Afrikas, die sowohl die AU-Führung als auch Präsident Putin fälschlicherweise aufgrund von nichtexistenten direkten westlichen Sanktionen gegen Getreide und Düngemittel gefährdet sahen. In Afrika hat die Ablehnung westlicher Sanktionen Tradition und stützt sich mitunter auf die bereits jahrzehntealten Rufe, internationale Sanktionen gegen Simbabwe aufzuheben, welche regelmäßig erneuert werden (https://au.int/en/pressreleases/20231025/auc-chairpersons-call-lift-all-sanctions-zimbabwe). Mitunter aufgrund eines faktisch falschen Verständnisses der westlichen Sanktionen gegen Russland zog diese Russland-Reise der AU-Führung zahlreiche diplomatische (und undiplomatische) Reaktionen des Westens nach sich.

Aufgrund des mangelnden Konsensus innerhalb der AU hat sich eine recht unerwartete Koalition afrikanischer Staaten zur »African Peace Initiative« zusammengetan. Ägypten, die Republik Kongo (Brazzaville), Uganda, Sambia und die Komoren zeigten bei Besuchen in Kyjiw und Moskau eine deutlich ausgeglichenere afrikanische Position auf. Allerdings hat die Initiative abgesehen von der Teilnahme des AU-Vorsitzenden 2023, dem Präsidenten der Komoren Azali Assoumani, keinen Bezug genommen zu den Vorschlägen und Positionen der AU (https://issafrica.org/iss-today/africas-ukraine-russia-mediation-needed-a-clearer-au-footprint) und sah von einer Einladung der AU-Kommission ab. Hier wird deutlich, dass afrikanische Staaten die Kontrolle über ihre Russland-Ukraine-Politik behalten möchten und dass sich der mangelnde Konsensus auf kontinentaler Ebene letztlich in einer gelähmten AU niederschlägt.

Ukrainische Diplomatie in Afrika: Aufholarbeit unter herausfordernden Umständen

Damit stellt sich die Frage, welche Diplomatie die Ukraine in Afrika auf bilateraler Ebene betreibt. Historisch bedingt hat die Ukraine zwar wichtige Beiträge zu den Beziehungen der UdSSR mit Afrika geleistet, deren Früchte in den 1990er-Jahren aber letztlich Russlands diplomatischem Netzwerk zugutekamen. Langfristige Beziehungen und die diplomatische Infrastruktur, die die Ukraine benötigt, um ihren Argumenten Gehör zu verschaffen, waren zu Beginn des Krieges kaum vorhanden. Das Land unterhält lediglich zehn Botschaften auf dem afrikanischen Kontinent, Moskau hingegen 43. Seit der Unabhängigkeit hat sich die ukrainische Politik auf Europa und Russland konzentriert. Die Folgen dieser an sich nachvollziehbaren Strategie ist ein Mangel an belastbaren Beziehungen und gutem Willen im Globalen Süden.

Die ukrainische Außenpolitik hat diesen Rückstand mit Nachdruck aufgeholt. Nebst der Ernennung eines Sondergesandten für den Nahen Osten und Afrika hat der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba mehr als ein Dutzend afrikanische Länder und die AU besucht und dabei die Bedeutung seines Landes für die weltweite Ernährungssicherheit, Möglichkeiten für eine künftige Zusammenarbeit und die Bereitschaft, eine stärkere Vertretung Afrikas in internationalen Gremien zu unterstützen (https://mfa.gov.ua/en/news/address-minister-foreign-affairs-ukraine-dmytro-kuleba-africa-day-2023), hervorgehoben. Mittelfristig sollen auch zehn neue Botschaften auf dem Kontinent eröffnet werden (https://foreignpolicy.com/2023/05/17/ukraine-diplomatic-offensive-global-south-war-russia/). Die ukrainische Außenpolitik hat folgerichtig ein Narrativ entwickelt, dass die Ukraine »zurück in Afrika« sei.

Russlands Diplomatie ist stark zwischenstaatlich aufgestellt und hinterlässt bei der AU nur wenig Spuren. Dies betrifft auch die Wagner-Gruppe, deren Aktivitäten laut des Council on Foreign Relations in einem halben Dutzend afrikanischer Länder zur Destabilisierung, alternativen Sicherheitspartnerschaften und größerem russischen Einfluss geführt haben (https://www.cfr.org/in-brief/what-russias-wagner-group-doing-africa). Russische Charme-Offensiven gegenüber der AU waren wenig glaubwürdig auf Afrikas Wohl ausgerichtet, und die russische Diplomatie hat gegenüber der AU selbst nur wenig diplomatisches Gewicht.

Angesichts der jahrzehntelang gepflegten Beziehungen Russlands mit afrikanischen Staaten wäre es unrealistisch zu erwarten, dass die ukrainische diplomatische Charmeoffensive kurzfristig neue Stimmen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen oder in anderen Gremien generieren wird. Trotzdem ist es wichtig, die vernachlässigten ukrainischen Beziehungen mit Afrika nun langfristig, glaubwürdig und partnerschaftlich wieder aufzubauen.

Lösungsansätze für afrikanische Ernährungssicherheit

Angesichts der erneuten Großmachtkonkurrenz und der Auswirkungen des Krieges auf Afrika sind die AU und viele ihrer Mitgliedstaaten von der grundsätzlichen Priorisierung der Blockfreiheit dazu übergegangen, eine lösungsorientierte Diplomatie zu verfolgen. Die Bewältigung der ernährungsbedingten und humanitären Folgen des Krieges ist zum kleinsten gemeinsamen Nenner der AU-Staaten geworden. Das AU-Thema für 2022 »Stärkung der Widerstandsfähigkeit im Bereich der Ernährungs- und Lebensmittelsicherheit auf dem afrikanischen Kontinent« wurde ungewollt sehr aktuell und zeitgemäß. Die AU zeigte sich nun umso mehr bemüht, einen entpolitisierten Raum für politische Ergebnisse jenseits geopolitischer Ausrichtung im Hinblick auf den Krieg und die Politik der Großmächte zu schaffen. Der ghanaische Präsident Nana Akufo-Addo brachte dieses Gefühl gut auf den Punkt, als er vor der UN-Generalversammlung argumentierte, dass »jede Kugel, jede Bombe, jede Granate, die ein Ziel in der Ukraine trifft, auch unsere Taschen und unsere Wirtschaft in Afrika trifft« (https://presidency.gov.gh/index.php/briefing-room/speeches/2285-address-by-president-akufo-addo-at-the-77th-session-of-the-united-nations-general-assembly).

Obschon der AU keine Rolle bei der Aushandlung und Umsetzung der Black Sea Grain Initiative zufiel, hat die AU-Führung dennoch diskursiv dazu beigetragen, dass dieser Problematik die gebührenden Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Rund um Macky Salls Aufruf zum Handeln in Sotschi forderten viele Länder aus aller Welt öffentlich eine bessere Ernährungssicherheit in Afrika, und es entstand eine Debatte über die Ursachen der Risiken. In der AU wurde am 10. Oktober 2022 eine hochrangige Konferenz über Ernährungssicherheit und Ernährung einberufen, an der über 300 Delegierte teilnahmen, darunter auch afrikanische Landwirtschaftsminister:innen. Die Konferenz, die gemeinsam mit der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC), der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und der Afrikanischen Entwicklungsbank (AfDB) organisiert wurde, ist ein wichtiges Beispiel für lösungsorientierte Diplomatie, die der AU eine Stimme verleiht, ohne dass sie in dem »neuen Kalten Krieg«, den manche heraufziehen sehen, Partei ergreifen muss. Es ist bezeichnend, dass sowohl die Ukraine als auch Russland erst spät auf der hochrangigen Konferenz zu Wort kamen und der Moderator darauf achtete, dass beide Erklärungen lösungsorientiert blieben.

Auswirkungen auf die Europa-Afrika-Beziehungen

Angesichts der begrenzten ukrainischen diplomatischen Ressourcen hat die EU maßgeblich für die Ukraine diplomatische Initiative in Afrika ergriffen. Allerdings haben zuvor latente Fragen der geopolitischen Ausrichtung die seit langer Zeit bestehende Zusammenarbeit zwischen der EU und der AU in eine Krise gestürzt. Das aufschlussreichste Beispiel dafür ist das Scheitern des üblichen »Gemeinsamen Kommuniqués« bei zwei aufeinanderfolgenden jährlichen gemeinsamen Konsultationstreffen zwischen dem Rat für Sicherheit und Frieden (PSC) der AU und der EU in den Jahren 2022 und 2023 wegen eines Verweises auf den Krieg in der Ukraine (https://amaniafrica-et.org/13th-annual-joint-consultative-meeting-of-the-aupsc-and-eupsc/). Dabei berief sich die AU auf den Standpunkt, sie könne keine Positionen zu Angelegenheiten außerhalb des afrikanischen Kontinents beziehen. Gleichzeitig gelang es westlich orientierten Ländern wie Japan auf ihren Gipfeltreffen, eine ehrgeizige und lösungsorientierte Sprache zu vereinbaren. Lediglich neun Monate nach Beginn der Vollinvasion fanden zumindest die beiden Kommissionen ein Mindestmaß an gemeinsamer Sprache für konstruktive Meinungsverschiedenheiten über Russlands Krieg gegen die Ukraine im Rahmen der bilateralen Gespräche der AU- und EU-Kommissionen.

Ein hochrangiger AU-Beamter argumentierte in einem im Januar 2023 geführten Interview, dass die Ukraine »eine Ablenkung für die Partnerschaft« sei, da sie für alles andere als Geopolitik konzipiert sei und dass es der EU-AU-Partnerschaft am »Ausdruck des gegenseitigen Respekts und der Bereitschaft zur Entwicklung eines besseren gegenseitigen Verständnisses« fehle (Interview durch den Autor dieser Analyse, Januar 2023). Diese Haltung dürfte auch darauf fußen, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten zunächst überrascht und frustriert auf Afrikas zaghafte Verurteilung Russlands reagierte. Die EU erwog zeitweise die Einführung von geopolitischen Konditionalitäten. In einem geleakten Bericht der EU-Delegation bei der AU und der EU-Missionsleiter (https://www.devex.com/news/exclusive-internal-report-shows-eu-fears-losing-africa-over-ukraine-103694) wurde diese Idee mit dem Argument verteidigt, dass »die Bereitschaft der europäischen Regierungen und Steuerzahler:innen, ein höheres Maß an finanziellem Engagement in afrikanischen Ländern aufrechtzuerhalten, davon abhängt, dass die Zusammenarbeit auf gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Vision beruht«. Die Befürworter:innen dieses Vorschlags räumten auch ein, dass es eine »politische Realität ist, dass sich die verfügbaren Gelder [weg von Afrika] verlagern werden« und dass die knapperen Ressourcen strategischer eingesetzt werden sollten. Obwohl die EU die Idee eines explizit transaktionalen Ansatzes nie formell übernommen hat, dürfte die Idee informell weiterleben. Sie beißt sich mit der Idee der Entwicklungspartnerschaft der EU mit der AU und wird noch einige Abstimmung innerhalb Europas benötigen, um weiterhin eine lösungsorientierte Partnerschaft mit der AU und ihren Mitgliedsstaaten zu ermöglichen.

Eine globale AU-Stimme jenseits des Krieges?

Mit dem Ausbruch des Gazakriegs im Oktober 2023 zeigt sich die neue Komplexität einer multipolaren Welt in aller Deutlichkeit. Europas Wunsch, Afrika an seinen Diskurs der Souveränität, des humanitären Völkerrechts und universaler Werte zugunsten der Ukraine zu binden, sieht sich nunmehr konfrontiert mit Anschuldigungen aus dem Globalen Süden, der Westen praktiziere in den besetzten palästinensischen Gebieten eine offensichtliche Doppelmoral. Der Präsident der AU-Kommission hat am 7. Oktober 2023 ein Kommuniqué (https://au.int/en/pressreleases/20231007/communique-chairperson-regarding-israeli-palestinian-war) veröffentlicht, das eine differenzierte afrikanische Haltung darlegt und erinnert, ganz wie der Generalsekretär der Vereinten Nationen in seinen Äußerungen, an den historischen Kontext des Konflikts. Von westlichen Staaten wurde dieses Kommuniqué kritisch aufgefasst. Dieser Wille zur Differenzierung ist aber von zentraler Wichtigkeit und sollte in westlichen Hauptstädten unbedingt zusammen mit Indikatoren wie den für Russland enttäuschend geringen Teilnehmerzahlen am Russland-Afrika-Gipfel im Juli 2023 interpretiert werden: Afrikanische Staaten wollen eine gewisse Blockfreiheit, wissen aber auch, dass Russland in den meisten Ländern Afrikas mittelfristig deutlich weniger zu bieten hat als der Westen. Allerdings wird die langfristige afrikanische Unterstützung der Ukraine bei den Vereinten Nationen nur mühsam zu verbessern sein.

Die gespaltenen Haltungen unter den Mitgliedsstaaten zur Positionierung und zur Rolle der AU-Kommission haben maßgeblich zur konkreten Ausprägung der AU-Diplomatie im Ukrainekrieg beigetragen. Die Kommission hat proaktiv im Rahmen des politisch Möglichen zu ihrer Rolle einer AU-Stimme gefunden, die sich auf die normativen und historischen Wurzeln der AU beruft. Es ist zu erwarten, dass die Erfahrungen des Ukraine-Engagements der AU auch zukünftige AU-Erklärungen in diplomatische Krisen jenseits des afrikanischen Kontinents beeinflussen werden. Diese ersten Schritte der AU zu einer globalen Positionierung zeigen deutlich auf, dass eine geeinte afrikanische Stimme nicht zwingend den Weg einer liberalen und westlichen Werte- und Interessenpolitik verfolgt. Zugunsten der Ukraine und anderer Krisenländer sind westliche Staaten gut beraten, einen pragmatischen Ansatz zur Lösung gemeinsamer Probleme zu verfolgen, in dem Afrikas zaghaft wachsendes Bestreben einer geeinten Stimme seinen Platz findet.

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