Eine Kritik der zivilisatorischen Kriegsdiplomatie der Ukraine im Globalen Süden

Von Chelsea Nguyen

Zusammenfassung
Dies ist ein konzeptioneller, polemischer Essay über die ukrainische Kriegsdiplomatie im Globalen Süden, mit einem Schwerpunkt auf Asien. Das Hauptargument ist, dass der zivilisatorische Ansatz der ukrainischen Kriegsdiplomatie, mit dem die internationale Unterstützung im Globalen Süden mobilisiert werden soll, sich selbst im Weg steht und zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist, wenn es darum geht, langfristig eine breitere und angesehenere Resonanz, Unterstützung und ein Gefühl des gemeinsamen Kampfes unter den Regierungen und Völkern des Globalen Südens zu erreichen.

Einführung

Während sich der russische Einmarsch in die Ukraine seinem zweiten Jahrestag nähert, ist 2023 auch deshalb ein historisches Jahr, weil der »Globale Süden« noch nie derart leidenschaftlich wachgerufen wurde, entweder durch lautstarken Protest gegen Missstände oder durch übermäßiges Selbstbewusstsein einzelner Staaten, von Indien bis Brasilien. Es geht um ernste Versuche, die angesichts eines immer stärkeren Gefühls eines kollektiven Momentums von verschiedenen Machtzentren des Globalen Südens unternommen werden, um eine alternative politische Vision für eine neue multipolare und postliberale Weltordnung voranzutreiben. In der internationalen Ordnung breiten sich Machtvakuen weiter aus, die durch eine zunehmend eingeschränkte US-Unipolarität und eine wankende russische Regionalhegemonie entstehen.

Was bedeutet dieser historische Moment für die Ukraine und die Vorstellung vom »Globalen Süden« an sich? Ich möchte die Diskussion durch einen polemischen Essay anregen, der die ukrainische Kriegsdiplomatie zur Mobilisierung internationaler Unterstützung im Globalen Süden erörtert, und zwar mit dem Schwerpunkt Asien. Mein zentrales Argument lautet, dass die Ukraine mit ihrem zivilisatorischen Ansatz in ihrer Kriegsdiplomatie im Globalen Süden mehr Schaden anrichtet als Nutzen bringt und somit kontraproduktiv ist. Schließlich muss es um einen angeseheneren und breiter aufgestellten Appell gehen und die Kultivierung der Vorstellung von einem Kampf, den die Regierungen und Völker im Globalen Süden auf lange Sicht gemeinsam mit der Ukraine führen. Diese Debatte ist wichtig, da sie letztendlich das vielfältige Missbehagen anlässlich der zivilisatorischen Visionen der Ukraine betrifft. Letztere sind in dem Land und seinen externen Unterstützern im Westen als Antwort auf die zivilisatorische »Russische Welt« dominant. Es geht dabei auch um die politische Natur des nationalen Überlebens der Ukraine und ihrer Unabhängigkeit nach dem Krieg. Und es geht um ihren Platz in einer neuen Weltordnung, die gerade erst im Entstehen ist und deren Schwerpunkt sich unweigerlich Richtung Globaler Süden verschiebt. Die Zukunft der Ukraine mit dem Globalen Süden entscheidet sich bereits heute.

Zivilisatorische Vorstellung von einem Befreiungskrieg

Zivilisatorische Vorstellungen von einem Befreiungskrieg sind in der ukrainischen Kriegsdiplomatie sehr prominent vertreten, und zwar auf den höchsten Ebenen von Staat und Regierung, der Intelligenzija und der Öffentlichkeit. Aus Anlass des ersten Jahrestages des großangelegten Einmarsches Russlands hielt Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Rede vor dem Europäischen Parlament, in der er Russland zur »größten antieuropäischen Kraft der modernen Welt« erklärte (https://www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20230208IPR72901/president-zelenskyy-says-russia-is-a-grave-threat-to-the-european-way-of-life). Mit »europäisch« meinte er Europas vermeintliche »Lebensweise, die in Regeln, Werten, Gleichheit und Gerechtigkeit wurzelt«, und einen »Ort, in der die Ukraine fest zu Hause ist«: »Das ist unser Europa, das sind unsere Regeln, das ist unsere Art zu leben, und für die Ukraine ist es ein Weg nach Hause, ein Heimweg«. Beim gleichen Anlass argumentierte der Philosoph Wolodymyr Jermolenko, dass Russland durch seinen Einmarsch »asiatischer wird«, und dass der Kampf der Ukraine für ihr nationales Überleben »die Grenzen Europas nach Osten verschiebt« (Jermolenko hatte diesen Twitter-Thread vom 18. Februar 2023 bald wieder gelöscht). Dieses Motiv wurde später von Oleksij Danilow aufgegriffen, dem Sekretär des ukrainischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates. In einem Interview mit einer britischen Zeitschrift sagte Danilow im Januar 2023, dass »wir [die Ukraine] eine Nation sind, die zu Europa gehört. Die Russen sind eine Nation, die nach Asien gehört. Daran ist nichts Schlimmes, aber es muss verstanden werden« (https://www.newstatesman.com/world/europe/ukraine/2023/01/oleksiy-danilov-interview-weak-people-germany-russia-ukraine). In einem ukrainischen Interview vom August 2023 argumentierte Danilow, was die Russ:innen von Natur aus unmenschlich mache, sei der Umstand, dass »sie asiatisch sind« (eine Anspielung auf deren sogenannte asiatische »Mongolenursprünge«). Im September 2023 behauptete Selenskyjs Präsidentenberater Mychajlo Podoljak, dass »die Chinesen und Inder über ein geringes intellektuelles Potenzial« verfügen. Der Kontext war hier die offizielle Neutralität ihrer Regierungen in Bezug auf den Einmarsch Russlands. All diesen Äußerungen ging das berüchtigte Statement des Außenbeauftragten der EU, Josep Borrell, vom Oktober 2022 voraus, dass Europa ein »Garten« der Prosperität sei und der Rest der Welt ein »Dschungel« ist, und dass der »Dschungel in diesen Garten einfallen könnte« (https://www.euronews.com/my-europe/2022/10/19/josep-borrell-apologises-for-controversial-garden-vs-jungle-metaphor-but-stands-his-ground). Später kam Juna Potomkina, eine Beraterin im ukrainischen Verteidigungsministerium, in einer selbstbestätigenden Beurteilung der ukrainischen Kriegsdiplomatie zu dem Schluss, dass »die Ukraine höchst erfolgreich die Botschaft gesendet hat, dass Russlands Invasion einen Kampf von Zivilisationen mit globalen Implikationen darstellt« (https://www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/exploring-the-secrets-of-ukraines-successful-wartime-diplomacy/).

Diese Einschätzungen dürften jedoch vorläufig sein und fallen wohl zu optimistisch aus, wenn man sich jene diversen Unterstützergruppen im Globalen Süden jenseits der transatlantischen Hintermänner der Ukraine anschaut und wie diese die zivilisatorische Kriegsdiplomatie wahrnehmen.

Der Aufstieg des zivilisatorischen Denkens und die Rückkehr des Globalen Südens

Mit dem Begriff »zivilisatorisch« folgen meine Überlegungen dem Geiste der Kritik von Amartya Sens an Huntingtons Darlegung der Weltgeschichte. Huntington hatte einen Kampf zwischen »Zivilisationen« (häufig im Deutschen übersetzt als »Kulturen«, Anm. d. Redaktion) angenommen. Hierbei handele es sich um einen permanenten Kriegszustand und um konfliktträchtige Spannungen zwischen Völkern, die oft in mystisch imaginierten, nativistischen, vorbestimmten und auf räumlich klar abgegrenzten politischen, kulturellen und religiösen Identitäten, Werten und glorifizierten Geschichtsinterpretationen wurzeln. Mit der Betonung des Umstands, dass jeder Mensch von Natur aus mit unterschiedlichen Identitäten und Assoziationen ausgestattet ist, warnt Sen, dass die unterschiedlichen Manifestationen von Gewalt, sei es gegen externe »Feinde« oder gegen die zum eigenen Raum gehörenden, internen Subjekte, oft dem Gefühl einer Unausweichlichkeit gegenüber etwas vermeintlich Alternativlosem entspringen, einer einmaligen und oft kriegerischen singulären Identität (s. Sen, 2007, Identity and Violence).

Die Argumentationsmuster der Ukraine müssen auch als Teil eines breiteren Trends verortet werden, der in jüngster Zeit hin zu »zivilisatorischer« internationaler Politik geht. Was Gregorio Bettiza, Derek Bolton und David Lewis als »Zivilisationismus« bezeichnen, und was mit konservativen, illiberalen und autoritären politischen Werten und Kräften verbunden wird, verbreitet sich im Westen, im Nahen und Mittleren Osten, in China, Indien, Russland und anderswo (s. Bettiza et. al., 2023, Civilizationism and the Ideological Contestation of the Liberal International Order). Die Ukraine ist natürlich Teil dieses globalen ideologischen Trends. Bei den anhaltenden Auseinandersetzungen in der Welt, mit denen politische, wirtschaftliche und soziale Wohlstände und Freiheiten erreicht werden sollen, geht es aber nicht exklusiv um eine neue »europäische Zukunft« als solche, sondern um eine universellere, gemeinsame Zukunft: Es geht um ein gleichwertiges Menschsein mit Würde, Wert und Schutz, wie sie per Völkerrecht versprochen werden. Die UN-Charta ist der grundlegendste Lackmus-Test für eine solche mögliche Zukunft.

Bis vor kurzem habe ich gezögert, den allumfassenden Begriff »Globaler Süden« zu verwenden. Er ist seit den frühen 1980er Jahren zu einem Begriff ohne kohärente gemeinsame politische Bedeutung, organisatorische Struktur und alternative systemische Visionen für eine gleichberechtigtere und gerechtere Weltordnung verkommen. In einigen der wichtigen Länder, die jetzt auf eine neue multipolare Weltordnung drängen, wurzeln die vorherrschenden innenpolitischen Ideologien in einem kruden Konservatismus und einem auf Entwicklung fixierten Hyper-Kapitalismus (http://meduza.io/en/feature/2023/02/03/what-i-don-t-want-is-western-triumphalism; https://posle.media/language/en/good-bye-russian-romance-talking-with-kavita-krishnan-part-1/). Die derzeit herrschenden Kräfte in einigen dieser Länder, die formal Demokratien mit Wahlen darstellen, befördern sogar innerhalb ihrer anscheinend demokratischen Gesellschaften einen schleichenden Illiberalismus sowie eine Dominanz der ethnischen oder religiösen Mehrheit. Diese neue Multipolarität wird freilich als alternative, fortschrittliche Politik für eine neue Weltordnung und als Antwort auf den US-Unilateralismus und dessen straflosen Machtmissbrauch hingestellt.

In Wirklichkeit aber bedeutet eine solche Alternative vielmehr eine Politik, die nach den gleichen Privilegien von Macht und Straflosigkeit strebt; zudem soll gleichberechtigter Souveränität durch Ansprüche auf im Voraus festgelegte »Interessensphären« ein Ende bereitet werden. Chenchen Zhang hat davor gewarnt, bei der Unterscheidung von »Norden vs. Süden« oder »Westen vs. Nichtwesten« von naturgegebenen gegensätzlichen politischen Bereichen auszugehen und sie so zu behandeln: »Wenn illiberale Bewegungen, die die moralische Geografie herausfordern, die der internationalen Ordnung zugrunde liegt, sich einen antikolonialen Tenor zu eigen machen, produzieren sie [letztendlich] deren essenzialisierende, hierarchische und rassenbezogene Logik, indem das Werteurteil umgekehrt wird« (s. Zhang, 2023, Postcolonial nationalism). Und in der Tat hat Xiang Biao beobachtet, dass »die Mainstream-Meinung in China sich nicht auf das Ziel richtet, etwas anders zu machen, sondern darauf, die Nummer eins zu werden. Und viele grundlegende Denkweisen ähneln dem, was wir in den USA sehen, was in meiner Vorstellung damit zu tun hat, dass gemeinsame Ideale verlorengegangen sind« (s. Biao, 2023, Self as method). In Bezug auf Indien macht der Kolumnist Happymoon Jacob Ähnliches geltend: »was Neu-Delhi tatsächlich anstrebt, ist ein Sitz am zentralen Tisch der internationalen Politik. Seine revisionistische Sprache wurzelt in dem Wunsch, Teil eines neu strukturierten Status quo zu sein« (https://www.thehindu.com/opinion/lead/indias-moment-under-the-diplomatic-sun-must-be-used/article66584676.ece).

Bei meiner Kritik der ukrainischen Kriegsdiplomatie zur Mobilisierung internationaler Unterstützung im Globalen Süden meine ich mit »Globalem Süden« eine breitangelegte Gemeinschaft verschiedener sozialer Schichten, die weitgehend die einschlägige Erfahrung und das historische Bewusstsein vergangener westlicher Kolonialherrschaft teilen. Das gleiche gilt für die gegenwärtigen Heucheleien des Westens bei der selektiven Einhaltung des Völkerrechts und den Ansätzen hierzu, wenn es zu Kriegen, Konflikten und Auseinandersetzungen kommt. Meine Kritik gilt weltweit in Bezug auf Länder und Gesellschaften des Südens, die früher starke Verbindungen zur ehemaligen Sowjetunion hatten und oft insgesamt positive Erfahrungen mit ihr gemacht haben.

Die ukrainische Kriegsdiplomatie in Indonesien

Indonesien war während der Militärdiktatur von 1965 bis 1998 ein fester Verbündeter der USA. Es ist zudem ein Land, in dem viele die UdSSR wertschätzten und gute Erinnerungen an sie hegten (auch wenn sich das überproportional auf Russland bezieht), insbesondere in den Bereichen Kultur und Bildung. Man teilte die politische Vision, eine nichtkapitalistische und entkolonialisierte Weltordnung voranzutreiben. Viele Indonesier:innen erinnern sich positiv daran, wie die UdSSR (in Wirklichkeit die UN-Mission der Ukrainischen SSR) 1946 im UN-Sicherheitsrat die Frage der indonesischen Unabhängigkeit aufwarf, während die Niederlande 1945–49 einen brutalen Krieg zur Rekolonialisierung Indonesiens führten. Diese Verbindungen erreichten im Kern zwischen 1955 und 1964 einen Höhepunkt, also in einer Zeit um sich greifender Entkolonisierungseuphorie. Indonesiens Ansehen im Globalen Süden (oder in der blockfreien »Dritten Welt«) war nach der asiatisch-afrikanischen Konferenz 1955 in Bandung und dem vollständigen Sieg über die Niederlande (mit beträchtlicher sowjetischer Unterstützung) im Jahr 1962 stark gestiegen.

Einerseits hat die indonesische Regierung bislang konsequent für alle Resolutionen der UN-Vollversammlung gestimmt, die eine Wahrung der legitimen territorialen Integrität und Souveränität und einen Abzug der russischen Truppen forderten. Mehr noch: Als Vorsitzender des G20-Gipfels im Sommer 2022 stattete Indonesiens Präsident Joko Widodo (oder »Jokowi«) zusammen mit seiner Frau Iriana Joko Widodo im Juni 2022 Kyjiw während des Krieges einen Besuch ab – als erster Staatschef des Globalen Südens. Anders als Indien, das 2023 den G20-Gipfel ausrichtete, hat Indonesien Präsident Selenskyj auf dem Gipfel 2022 die Gelegenheit gegeben, erstmals seinen 10-Punkte-Friedensplan vor der Welt auszubreiten (https://www.president.gov.ua/en/news/ukrayina-zavzhdi-bula-liderom-mirotvorchih-zusil-yaksho-rosi-79141).

Andererseits ist jedoch die Stimmung in der Öffentlichkeit, die intern in verschiedenen Bereichen der indonesischen Regierung geteilt wird, überwiegend von einer allgemeinen Sympathie für Russland und einer zynischen Zurückhaltung gegenüber der Ukraine gekennzeichnet. Das kann mittelbar aus Umfragen herausgearbeitet werden, die zwar nicht die russische Invasion direkt betreffen, aber den allgemeinen Eindruck von Russland in der indonesischen Bevölkerung. Einer Umfrage zufolge, die das Pew Research Center im Juli 2023 veröffentlichte (https://www.pewresearch.org/global/2023/07/10/overall-opinion-of-russia/), gehören die Indonesier:innen neben Indien und Nigeria zu jenen, die Russland weltweit am positivsten sehen.

In einem Statement vom 2. März 2022 versuchte Wasyl Hamjanin, der Botschafter der Ukraine in Indonesien, die dortige Regierung und Öffentlichkeit auf zweierlei Weise zu größerer Unterstützung der Ukraine zu bewegen. Erstens zog der Botschafter Parallelen zwischen Indonesiens Unabhängigkeitskriegen – vor allem gegen die Niederlande und gegen Japan – und dem derzeitigen Verteidigungskrieg der Ukraine gegen Russland. Gleichzeitig erinnerte Hamjanin an Indonesiens blutigen Kampf gegen den Kommunismus: »Sie [Indonesien] sind eine weise Nation, die in der Lage war, sich den Verführungen der Kommunist:innen zu widersetzen und sich ihnen nicht hinzugeben«. Hamjanin ging noch weiter, indem er behauptete, dass »das Russland von heute eine Fortführung des kommunistischen Regimes ist« (https://news.detik.com/berita/d-5965135/ukraina-minta-dukungan-ri-anda-bangsa-bijak-yang-tepis-rayuan-komunis). Es mag sein, dass in der heutigen indonesischen Politik überbordender islamischer Populismus und Antikommunismus weiterhin zusammengehen mögen. Aber das Wachrufen von Erinnerungen an das Massaker von 1965, das zu den blutigsten des 20. Jahrhunderts gehört und zwischen 500.000 und einer Million Tote forderte, ist an sich moralisch abscheulich und lässt eine grundlegende historische Sensibilität vermissen, ganz gleich wie die politischen Absichten waren. Das Massaker hatte sich gegen Mitglieder und Sympathisanten der Indonesischen Kommunistischen Partei wie auch gegen Bürger:innen chinesischer Herkunft gerichtet. Die Täter waren Teile der indonesischen Armee und speziell aufgestellte Milizen unter dem Kommando des Generals und späteren Präsidenten Suharto. Präsident Jokowi wurde erstmals 2014 gewählt, und zwar teils mit dem Wahlversprechen, eine Agenda zur nationalen Versöhnung für die vielen Opfer der Massaker von 1965 in ganz Indonesien mutig voranzutreiben, die seither vielfach beschwiegen wurden. Seit Jahren hatte sich der Präsident bei dieser Agenda einer heftigen Opposition durch mächtige Kreise im Militär und im islamischen Establishment gegenübergesehen. Schließlich brachte der Präsident am 11. Januar 2023 in einer offiziellen Ansprache das »tiefe Bedauern« des indonesischen Staates zum Ausdruck (https://www.theguardian.com/world/2023/jan/13/truth-is-one-of-our-rights-victims-of-indonesias-bloody-past-want-more-than-regret-from-their-president). Er gestand ein, dass die Massaker von 1965 tatsächlich stattgefunden haben, neben elf anderen »gravierenden Menschenrechtsverletzungen« zwischen 1965 und 2003.

Eine weitere Episode ereignete sich im Zusammenhang mit den israelischen Luftangriffen auf den Gazastreifen am 5. August 2022, die Indonesien entschieden verurteilte (https://kemlu.go.id/portal/en/read/3893/view/indonesia-strongly-condemns-the-attacks-carried-out-by-israel-in-gaza). Das fügte sich logisch in Indonesiens antikoloniale Tradition einer Solidarität mit Palästina. Indonesien ist eines der weltweit wenigen Länder ohne formale diplomatische Beziehungen mit Israel und mit Forderungen nach einer Zweistaatenlösung in den Grenzen von vor 1967. 2022 war in der Tat von den vergangenen sieben Jahren dasjenige mit den meisten Todesopfern unter der israelischen und vor allem der palästinensischen Zivilbevölkerung (https://www.un.org/unispal/document/with-2022-deadliest-year-in-israel-palestine-conflict-reversing-violent-trends-must-be-international-priority-middle-east-coordinator-tells-security-council-press-release-sc-15179/, also vor dem 7. Oktober 2023, an dem der Krieg zwischen Israel und der Hamas begann, Anm. d. Redaktion). Als Antwort auf die Verurteilung der eskalierenden Gewalt Israels, setzte Hamjanin einen Tweet in durchgehenden Großbuchstaben ab: »Was ist mit einer heftigen Verurteilung der brutalen Angriffe auf die Ukraine in den letzten fünf Monaten? Und dem Tod von Hunderten, wenn nicht Tausenden von Kindern, auch muslimischen Kindern?« (https://jakartaglobe.id/news/indonesia-summons-ukrainian-envoy-over-russia-tweet) Kurz darauf veröffentlichte Jewhen Kornijtschuk, der ukrainische Botschafter in Israel, eine Erklärung, in der es hieß: »Als Ukrainer:innen, deren Land brutal und anhaltend von seinem unmittelbaren Nachbarn angegriffen wird, empfinde ich große Sympathie für die israelische Gesellschaft. Terrorismus und böswillige Angriffe gegen Zivilist:innen sind für Israelis und Ukrainer:innen zur Alltagsroutine geworden« (https://www.palestinechronicle.com/ukraine-declares-support-for-israel-condemns-palestinian-terrorism/). Daraufhin bestellte das indonesische Außenministerium Hamjanin ein, wobei es sein »Missfallen und seine Verstimmung« anlässlich von Kommentaren zum Ausdruck brachte, die es als »schmerzhaft für Indonesier:innen« erachte, »die die Ukrainer:innen als Freund:innen betrachten« (https://jakartaglobe.id/news/indonesia-summons-ukrainian-envoy-over-russia-tweet).

Hier geht es nicht um die Haltung der Ukraine zum israelisch-palästinensischen Konflikt an sich, sondern um die eher illusorische Universalität des Völkerrechts und die ungleiche Behandlung ziviler Kriegsopfer. Es lohnt die Frage, warum die indonesische Verurteilung der eskalierten Gewalt Israels dem Kampf der Ukraine für ein nationales Überleben und für Selbstbestimmung entgegenstehen sollte, wenn es um eine politische Frage jenseits von »offensichtlichen« Ähnlichkeiten geht. Was waren nun die Verdienste aus diesem offenen Angriff auf Indonesiens Haltung zu einem anderen Konflikt, jenem zwischen Israel und Palästina? Insbesondere, da die Empörung hier nicht moralisch einwandfrei übertragbar war? Es hat lediglich große Teile der indonesischen Öffentlichkeit noch weiter abgestoßen, da es keinen vergleichbaren anderen internationalen Konflikt gibt, der die Indonesier:innen über die Zeit hinweg derart zusammengeschweißt hätte wie der israelisch-palästinensische und die Frage der palästinensischen Staatlichkeit. Dies steht beispielhaft für einen zivilisatorischen Ansatz in der Kriegsdiplomatie, bei dem die Ukraine nicht in der Lage ist, ähnliche Kämpfe für die gleichen Werte Selbstbestimmung, universelle menschliche Würde und Schutz, Gleichheit und Fairness anzuerkennen, wenn diese nicht teilweise in oder am Rande von Europa als Inbegriff für Zivilisation liegen (Dieser Abschnitt wurde vor dem 07. Oktober 2023 verfasst, Anm. d. Redaktion).

Kriegsdiplomatie der Ukraine in Vietnam

Niemand bestreitet den Umstand, dass die USA die bedeutendste Unterstützerin im Selbstverteidigungskrieg der Ukraine gegen Russland darstellen. Verständlicherweise sind die ukrainische und die US-amerikanische Kriegsdiplomatie wohlkoordiniert und bislang übereinstimmend. Am 10. März 2022 veröffentlichte die US-Botschaft in Vietnam eine Erklärung, in der den russischen Vorwürfen, die USA würden in der Ukraine Biowaffen-Programme betreiben, entgegengetreten wird, und in der es unverfroren heißt: »Russland hat – anders als die Vereinigten Staaten – eine lange und gut dokumentierte Geschichte eines Einsatzes von Chemiewaffen« (https://thediplomat.com/2022/04/agent-orange-in-vietnam-legality-and-us-insensitivity/). Wohlgemerkt wurden Russlands Behauptungen, die USA hätten in der Ukraine biologische Waffenprogramme betrieben, am 18. März 2022 von der Internationalen Atomenergiebehörde und am 27. Oktober 2022 vom UN-Büro für Abrüstungsfragen widerlegt. Aber nach diesem US-amerikanischen Statement wurde die offizielle Facebook-Seite der Botschaft mit empörten Kommentaren überflutet. Offiziellen vietnamesischen Angaben zufolge (https://thediplomat.com/2022/04/agent-orange-in-vietnam-legality-and-us-insensitivity/) sind in Vietnam zwischen 3 und 4,8 Millionen Menschen mit Agent Orange in Kontakt gekommen, einem Entlaubungsmittel, das einige der aggressivsten Giftstoffe wie z. B. Dioxin enthält. Es wurde von 1961 bis 1971 von den USA gegen kommunistische Aufstände und die Bevölkerung in Südvietnam eingesetzt. Während offizielle Schätzungen besagen, dass ein Viertel der südvietnamesischen Landflächen mit Agent Orange besprüht wurden, wurde das damalige Vorgehen der USA von einigen als Ökozid bezeichnet (s. Wilcox, 2011, Scorched Earth).

Es hatte in Vietnam mitunter (insbesondere in der Anfangsphase der russischen Invasion) weit verbreitete Sympathie für die von Moskau vorgelegten Rechtfertigungen des Angriffs auf die Ukraine gegeben. Sie hatten sich in der öffentlichen Wahrnehmung und im Diskurs vor allem durch die Linse der großen Geopolitik manifestiert (https://www.iseas.edu.sg/articles-commentaries/iseas-perspective/2022-44-the-russia-ukraine-war-unpacking-online-pro-russia-narratives-in-vietnam-by-hoang-thi-ha-and-dien-nguyen-an-luong/). Eine Rolle spielte dabei auch das schmerzliche historische Bewusstsein und die Erfahrungen mit westlichem Militarismus und internationalen Sanktionen während des letzten Kalten (Heißen) Krieges. In höherem Maße noch als in Indonesien hegen viele Menschen in Vietnam eine tiefsitzende Wertschätzung für und positive Erinnerungen an die UdSSR. Anders als die Ukraine ist die Kriegsdiplomatie Russlands erfolgreich damit gewesen, die vietnamesischen Erinnerungen wachzurufen und anzuzapfen. Das erfolgte allerdings über eine verfälschte Darstellung Russlands als alleinige Nachfolgerin der UdSSR und deren Leistungen bei diversen antikolonialen Kämpfen im 20. Jahrhundert. Dabei wird der derzeitige Krieg von vielen Vietnames:innen, die gleichzeitig Sympathie für das nationale Überleben der Ukraine hegen und der historischen UdSSR positiv gegenüberstehen (insbesondere in der älteren Generation) als Krieg zwischen zweier ehemaliger sozialistischer und mit Vietnam verbrüderter Staaten wahrgenommen. Als ein äußerst trauriger Krieg, der den Kulminationspunkt des langen Zusammenbruchs der UdSSR markiert. Das sowjetische Projekt wird von vielen vietnamesischen Sympathisant:innen als ehemaliges antiimperialistisches (antiwestliches) und internationalistisches Projekt aufgefasst, das als alternatives Modell einer schnellen wirtschaftlichen, sozialen und menschlichen Entwicklung mit politischen Visionen für eine gerechtere und entkolonisierte Weltordnung dient. Die russische Revolution von 1917 und deren weltweit bedeutsamen Auswirkungen haben diverse vietnamesische Unabhängigkeitsbewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts stark beeinflusst, auch die derzeit herrschende Vietnamesische Kommunistische Partei. Diese Wahrnehmungen mögen vielleicht im Kontrast zu vielen anderen, unterschiedlichen Erfahrungen anderer Personen, ethnischer Minderheiten und Nationen innerhalb der UdSSR und an deren Peripherien stehen (unter anderem denen von vielen Ukrainer:innen). Die geografische Entfernung, der relativ große Abstand zu jenen Erscheinungen, die auf Unzufriedenheit in und mit der UdSSR schließen ließen sowie die vietnamesische Historiografie, die weitgehend aus russlandzentrierter Sicht geschrieben wurde, haben tatsächlich oft zu einer insgesamt überzogenen Verklärung der UdSSR in Vietnam geführt.

Während der US-amerikanischen Invasion in Vietnam (1965–73) waren Tausende technische und Militärberater aus der UdSSR in Vietnam stationiert. Von den Überlebenden dieser Gruppe gehören heute allein 500 dem Allukrainischen Verband der Kriegsveteranen an (https://vufo.org.vn/All-Ukrainian-Union-of-War-Veterans-declares-support-for-Vietnamese-Agent-Orange-victims-12-2185.html?lang=en). Nach dem Abzug des US-Militärs 1973 und der Wiedervereinigung von Vietnam 1975 waren es vor allem die UdSSR und der Ostblock, die dem vom Krieg verwüsteten Land dabei halfen, den Fachkräftemangel abzufedern und jene, die den Staat aufbauen sollten (Ingenieure, Agronomen, Geologen, Wirtschaftswissenschaftler, Lehrer, Architekten usw.), auszubilden. Insbesondere die Unterstützung aus der Sowjetukraine bei der Meisterung der vielen diplomatischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen des vereinigten Vietnam, die durch subventionierte Getreideexporte, Wartungsleistungen für militärisches Gerät und Bildungsmöglichkeiten geleistet wurde, war unersetzlich. Diese Entwicklungshilfe war durchaus mit erheblichen Risiken verbunden: zwischen 1979 und 1994 kamen elf sowjetische Expert:innen (darunter auch Ukrainer:innen) während des Baus des einst (bis 2012) größten Wasserkraftwerks in Südostasien, des Hoà Bình Dammes (»Friedens-Damm«), ums Leben (https://e.vnexpress.net/photo/news/hoa-binh-power-plant-construction-of-the-20th-century-4012791.html). Für viele Vietnames:innen und Millionen Anderer in den ärmeren Teilen der Welt kam es der Realisierung eines Lebenstraums gleich, eine Hochschulbildung in der UdSSR zu erlangen. Erst ab den frühen 1990er Jahren war es Vietnames:innen schließlich auch möglich, Zugang zum westlichen Hochschulsystem zu bekommen. Selbst bei den vielen ehemaligen vietnamesischen Studierenden in der UdSSR, angefangen von prominenten Abgeordneten bis zu pensionierten Armeegenerälen, die jetzt mit einer Verurteilung von Russlands Krieg gegen die Ukraine öffentlich Position bezogen haben, beginnen die Statements mit einem Schwall von Danksagungen für ihre Jugendjahre in der UdSSR. Verständlicherweise wurden Vergleiche zwischen Vietnam und der Ukraine im Krieg angestellt, wobei einige argumentierten, die Ukraine sei »das Vietnam des 21. Jahrhunderts« (https://www.opendemocracy.net/en/betrayal-ukraine-and-the-left-petition-jeremy-corbyn-yanis-varoufakis/).

Der Unterschied zwischen einer zivilisatorischen und einer universalistischen Kriegsdiplomatie zur Entkolonialisierung

Für Vietnam ging es bei seiner Kriegsdiplomatie nicht um das Streben nach einer zivilisatorischen Entkolonialisierung durch eine Rückkehr zu einer längst vergangenen Vergangenheit. Also in eine Zeit, in der eine soziale Revolution im Inland für einen Aufstieg von unterdrückten Klassen und nationalen Gruppen im Streben nach nationaler Befreiung und als Lösung zeitgenössischer Fragen wie Kolonialismus und Imperialismus nicht als notwendig erachtet wurde. Es ging vielmehr darum, die Universalität von Sozialismus, nationaler Befreiung, Bürgerrechten und Solidaritätsbewegungen voranzutreiben, die weltweit aktiv waren und als gemeinsamer Kampf für Vietnam wahrgenommen wurden, insbesondere in den Ländern der »Feindesregierungen« der USA und Frankreichs (S. Asselin, 2018, Global revolutionary currents). Es gab zudem eine eigene Front von einer Volksdiplomatie (die aber vom Staat engmaschig kontrolliert wurde), bei der vietnamesische Kriegsdiplomat:innen Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa ausgiebig bereisten, um ihre Solidaritätsnetzwerke auszubauen und die Gemeinsamkeiten zwischen den jeweiligen Kämpfen herauszustellen. Einfache Bürger:innen in den USA und Frankreich sind nur selten das Ziel der offiziellen vietnamesischen Kriegspropaganda und der Anprangerungen gewesen. Stattdessen waren US-amerikanische und französische Intellektuelle, Studierende, Politiker:innen, Militärveteran:innen und Kultur-Ikonen usw. rundum in einer gemeinsamen Kampagne engagiert, die von den USA verlangte, ihr Militär aus Südvietnam abzuziehen.

Mit einem angemessen Bewusstsein für die vielen komplizierten und unterschiedlichen historischen Erfahrungen der Ukrainer:innen in der imperialen sowjetischen und russischen Vergangenheit könnten meine Empfehlungen schmerzhaft schwierig erscheinen; sie müssen allerdings ausgesprochen werden: Ich empfehle aufrichtig, jene Russ:innen in Russland, die mit der Ukraine sympathisieren, nicht links liegen zu lassen, wenn internationale Solidarität für die Ukraine mobilisiert werden soll. Auf lange Sicht wird westliche Unterstützung für die Freiheit und das Überleben der Ukraine durch die Regierungen und die Öffentlichkeit im Westen nicht ausreichen. Bei Kriegsdiplomatie geht es nicht nur um materielle und militärische Unterstützung durch mächtige, wohlhabende und ressourcenreiche Staaten, sondern auch darum, weltweit die Herzen und Köpfe der gewöhnlichen Menschen zu gewinnen. Wenn das Erstere die einzige Komponente gewesen wäre, hätte Vietnam seine Kriegsdiplomatie allein auf die UdSSR, den Ostblock und China ausgerichtet. Damit gab man sich aber nicht zufrieden.

Allerdings müssen auch – im Vergleich zur Epoche von 1968 – die gegenwärtigen veränderten Realitäten der transformativen Möglichkeiten von Antikriegs-Aktivismus deutlich gemacht werden. Vietnam hatte ohne jeden Zweifel die Herzen der Menschen in der westlichen Welt gewonnen, insbesondere in den USA und in Frankreich. Das beruhte auf den in den dortigen Gesellschaften fundamental verfassten bürgerlichen Freiheiten, die es den Menschen erlaubten, sich zu organisieren, ihren Sinn für Gerechtigkeit auf der Straße zum Ausdruck zu bringen und den Regierungen trotz raffinierter staatlichen Repressionen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Im Unterschied dazu sind die Bewegungen jetzt, nahezu ein halbes Jahrhundert später, durch über 40 Jahre atomisierender Entpolitisierung und Hyperkapitalismus stark geschwächt. Tausende Menschen, die in Russland gegen den Krieg protestierten, wurden in den ersten Tagen und Wochen des russischen Einmarsches in die Ukraine verhaftet und brutal unterdrückt.

Diese gefährlich effizienten staatlichen Repressionen, die von willkürlichen Verhaftungen bis zur Kriegspropaganda in den Medien und im Bildungsbereich reichen, haben eine fürchterliche Wirkung auf die russische Gesellschaft. Es wurde bei zu vielen Millionen Russ:innen eine kollektive, selbstverschuldete Unterdrückung von abweichenden Meinungen und Mitgefühl für das ukrainische Volk gefördert. Unglücklicherweise hatte Vietnam das Privileg, in jüngerer Vergangenheit großangelegte militärische Invasionen sowohl durch die USA und durch China (1979–1989) zu erleben. Für viele Menschen in Vietnam hat Russlands Einmarsch in die Ukraine schmerzliche Erinnerungen und das historische Bewusstsein über die chinesische Invasion 1979 wachgerufen. Es gibt Gründe, warum die Versöhnung zwischen Vietnam und China (auf Regierungs- und individueller Ebene) nach dem Krieg nicht mit der gleichen Aufrichtigkeit erfolgte wie mit Frankreich und den USA: Der Diskurs auf Regierungsebene und in der Öffentlichkeit in China betrachtet den Einmarsch nach Vietnam als gerechtfertigt, wobei in chinesischen Online-Medien und bei der patriotischen Erziehung die in Vietnam begangenen Verbrechen mitunter immer noch verherrlicht werden.

Die Bedeutung der Ukraine für den Globalen Süden

Die Frage der Selbstidentifizierung der Ukraine angesichts einer entstehenden, auf den Globalen Süden ausgerichteten Weltordnung ist von dringlicher und immenser Bedeutung. Viele im globalen Süden werden es wohl kaum als eine Befreiung für sich selbst empfinden, wenn hinter den externen Unterstützern der Ukraine die gleichen unnachgiebigen privaten und multilateralen Kreditgeber stehen, in deren Händen mehrheitlich die eigenen, auf längere Zeit kaum tragfähigen und hohen öffentlichen Schulden liegen. Das ist der schwierige Kontext, durch den der Unwillen und sogar die Unfähigkeit der meisten Länder des Globalen Südens, Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu verhängen, zumindest Verständnis verdient hat. In vielerlei Hinsicht steht die Ukraine vor ähnlichen Problemen. Es gibt eine anhaltende, vom Staat betriebene Neoliberalisierung der Kriegswirtschaft, die für ein Land, das mit einer großangelegten militärischen Invasion kämpft, von beispielloser Dimension ist (Siehe hierzu ausführlicher: Cooper, 2022, Market economics in an all-out war?; Semchuk und Rowley, 2023, EU concerned by Ukraine’s controversial labour reforms; Slobodyan, 2023, The anti-social ferocity of Ukrainian neo-liberals). Heute fragen sich viele im Globalen Süden, ob die Ukraine bereit ist, die Gemeinsamkeiten dieser ähnlich gelagerten Problemkonstellationen anzuerkennen und sich gegen diese Welle zu stemmen. Oder ob sie vielmehr eine Trittbrettfahrerin ist und demzufolge eher zu einem Spiegelbild jener Zwangslage der Länder im globalen Süden wird und bei ihrer Kriegsdiplomatie und den politischen Visionen im Inneren eben nicht zu einer Quelle der Inspiration für eine unabhängige und fortschrittliche politisches Agenda avancieren kann.

Zweifellos wohnt dem Verteidigungskrieg der Ukraine gegen Russland eine Anziehungskraft für jene inne, die weltweit unmittelbar unter den Klauen der russischen neoimperialen Militärinterventionen leiden, sei es Syrien oder Myanmar. Es geht auch um die Verteidigung der UN-Charta, nämlich im Sinne kleinerer Staaten in anderen Teilen der Welt, die ebenfalls Opfer illegitimer Übergriffe auf ihre Territorien sind oder sich Invasionsdrohungen durch Großmächte gegenübersehen. Am 2. März 2022 hielt der Leiter der diplomatischen Mission Vietnams bei den Vereinten Nationen eine Rede vor der Vollversammlung und sagte bemerkenswerterweise: »Die Geschichte unserer Nation mit anhaltenden Kriegen hat etliche Male gezeigt, dass Kriege und Konflikte auch heute allzu oft überkommenen Doktrinen von Machtpolitik, Vormachtansprüchen sowie der Drohung mit und dem Einsatz von Gewalt zur Beilegung internationaler Konflikte entspringen. Eine Reihe von Kriegen sind mit historischen Hinterlassenschaften, falschen Wahrnehmungen und Missverständnissen verbunden« (https://en.baoquocte.vn/statement-of-viet-nam-at-the-un-general-assembly-emergency-session-on-the-situation-in-ukraine-175695.html). Das wurde als verschleierte Kritik an Russlands Einmarsch in die Ukraine aufgefasst. Anlässlich des ersten Jahrestages des Kriegsbeginns kritisierten zwei prominente vietnamesische Generäle, Generalmajor Nguyễn Hồng Quân (http://www.youtube.com/watch?v=CvdC7xVtngU) und Generalleutnant Nguyễn Chí Vịnh (http://vtc.gov.vn/thuong-tuong-nguyen-chi-vinh-noi-ve-1-nam-chien-su-o-ukraine, das Interview wurde allerdings wieder gelöscht), Russlands Krieg gegen die Ukraine scharf. Sie versicherten beide, dass Vietnams Enthaltung in der Vollversammlung keine Unterstützung für Russlands Krieg impliziere. Nguyễn Chí Vịnh verwies allerdings auch darauf, dass es für Vietnam schwierig sei, die Ukraine formal zu unterstützen, nämlich wegen einer »Pro-US-Ideologie« der ukrainischen Regierung. Diese »Pro-US-Ideologie« war sicherlich ein Verweis auf die vorherrschende Wahrnehmung in Vietnam (sowohl in der Regierung wie auch in der Öffentlichkeit), dass jeder ukrainische Sieg realistischerweise und, auch wenn das ein schmerzlicher Prozess wäre, erfordern würde, dass die Ukraine sich diplomatisch zwischen dem Westen und Russland neu ausrichtet, ganz gleich, wie »europäisiert« sie schließlich aus dem Krieg herauskommt. Diese Wahrnehmung wurzelt weitgehend in den traumatischen Erfahrungen, die Vietnam in der Vergangenheit mit formalen Bündnissen mit Großmächten gemacht hat (https://www.usip.org/publications/2023/09/us-china-competition-presents-vietnam-risks-and-opportunities). Dazu gehört die Allianz mit den USA (Südvietnam) sowie mit China und der UdSSR (Nordvietnam, vereintes Vietnam). Besonders schwer ins Gewicht fielen hier der Schutz der territorialen Integrität, der politischen Unabhängigkeit sowie der Bevölkerung vor anhaltenden Kriegen mit China und der Roten Khmer in Kambodscha Ende der 1970er und in den 1980er Jahren.

Fazit

Es bleibt eine offene Frage, ob die Ukraine in der Lage sein wird, ihre potenziell universale und fortschrittliche Relevanz für die Zukunft der Welt zu verwirklichen, und nicht nur »ein Teil von Europa« wird. Das Jahr 2023 hat insgesamt eine größere Aufmerksamkeit der Ukraine für den Globalen Süden mit sich gebracht (https://foreignpolicy.com/2023/05/19/ukraine-russia-war-g7-summit-global-south-india/), während das Land unweigerlich eine aufstrebende Kraft und Stimme in der internationalen Politik darstellt. Die Konferenzen in Kopenhagen und Dschidda im Sommer dieses Jahres, die einen »globalen Friedensgipfel« vorbereiten sollten, signalisieren den langfristigen Wunsch der Ukraine, mehr Unterstützung durch große Länder des Globalen Südens zu erhalten. Das ist ein schwieriger Prozess, der historische Sensibilität und politisches Geschick erfordert. An das Gebot, dass man über ein zivilisatorisches Verständnis von sich selbst wie auch von der übrigen Welt – insbesondere vom Globalen Süden – hinausgehen muss, sind wir durch die letzte Eskalation im israelisch-palästinensischen Konflikt auf die blutigste Weise erinnert worden. Diese Erinnerung ist durch eine explosive Empörung der Regierungen und Menschen im Nahen und Mittleren Osten, in der islamischen Welt und in vielen anderen Ländern des globalen Südens gekennzeichnet. Sie richtet sich gegen eine Peripherisierung menschlicher Existenz, wie sie bei vielen Kriegen, Gebietsbesetzungen und geografischen »Zivilisationssphären« aufgrund von vermeintlich ungleichem Wert, Würde und Schutz ziviler Opfer wahrgenommen wird. Das sind die Gefahren der Verabsolutierung des zivilisatorischen Denkens, die jetzt durch eine moralisch Bankrotterklärung sowie unter Abkehr vom Völkerrecht und der Aufgabe des letzten menschlichen Anstands und der Ehrlichkeit zu Tage treten.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

  • Asselin, Pierre: Global revolutionary currents, the Vietnamese revolution, and the origins of the American War, in: African Identities, Band 16, Nr. 2, S. 191–204.
  • Bettiza, Gregorio; Derek Bolton und David Lewis: Civilizationism and the Ideological Contestation of the Liberal International Order, in: International Studies Review, Band 23, Nr. 2, S. 1–28.
  • Biao, Xiang; Wu Qi: Self as method: thinking through China and the world, Palgrave Macmillan 2023.
  • Cooper, Luke (2022). “Market economics in an all-out war? Assessing economic and political risks to the Ukrain­ian war effort”. LSE IDEAS. Abrufbar unter: https://eprints.lse.ac.uk/117570/.
  • Semchuk, Kateryna und Rowley, Thomas (2023). “Exclusive: EU concerned by Ukraine’s controversial labour reforms”. Open Democracy. Link: http://www.opendemocracy.net/en/odr/ukraine-european-union-labour-law-reform/.
  • Sen, Amartya (2007). “Identity and violence: the illusions of destiny”. Penguin Books.
  • Slobodyan, Olena (2023). “The anti-social ferocity of Ukrainian neo-liberals”. Commons: Journal of Social Criti­cism. Abrufbar unter: https://commons.com.ua/en/socialna-politika/.
  • Wilcox, Fred A. (2011). “Scorched earth: legacies of chemical warfare in Vietnam”. Seven Stories Press.
  • Wu, Judy Tzu-Chun (2013). “Radicals on the road: internationalism, orientalism, and feminism during the Vietnam era”. Cornell University Press.
  • Zhang, Chenchen (2023). “Postcolonial nationalism and the global right”. Geoforum, Band 144, S. 1–5.

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