Wissenschaft im Krieg. Herausforderungen – und Chancen

Von Gwendolyn Sasse (Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Berlin/Humboldt-Universität zu Berlin)

Zusammenfassung
Russlands Invasion der Ukraine ist eine Zäsur für die Wissenschaft in der und über die Ukraine und bietet neben zahlreichen Herausforderungen auch Chancen.

Die vergleichende sozialwissenschaftliche Forschung über die Auswirkungen von Kriegen war bisher für andauernde Kriege eher von einem empirischen Vakuum gekennzeichnet, während die Zeit nach Kriegen häufig gut dokumentiert ist. Auch die Reflexion über den Krieg im Rückblick ist von großer Bedeutung, aber sowohl auf individueller als auch auf politischer Ebene greift die Erinnerung ordnend in das Geschehen und seine Implikationen ein. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine wird durch die Omnipräsenz von Smartphones und Messengerdiensten wie Telegram synchroner und intensiver als alle ihm vorangegangenen Kriege in Bild und Text festgehalten. Diese Datenfülle hält in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die verschiedensten Anknüpfungspunkte für Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Disziplinen bereit. Nicht jede Datenfülle wird jedoch automatisch zur Grundlage von Wissenschaft oder Gerichtsverfahren, so dass eine wichtige Aufgabe in der Sammlung, Aufbereitung und Archivierung der oftmals dezentral erhobenen Daten liegt.

Neben der Dokumentation und Auswertung im Krieg erhobener Daten kommt auch der Wissenschaftskommunikation eine wichtige und exponierte Rolle zu. Die Grenzen zwischen der Vermittlung wissenschaftlicher Expertise, der Analyse des laufenden Kriegsgeschehens vor dem Hintergrund wissenschaftlicher oder wissenschaftsnaher Expertise, Meinungsäußerungen und Aktivismus sind fließend in einer Extremsituation wie Krieg. Jede/r Wissenschaftler:in zieht sie für sich selbst.

Die dem Krieg vorangegangenen Entwicklungen sind in der sozialwissenschaftlichen Forschung gut dokumentiert (auch wenn sie strukturell bedingt in ihren Mutterdisziplinen nicht immer gesehen wurde). Quantitative und qualitative Forschung zu den Gesellschaften in der Ukraine und Russland bietet eine fundierte Grundlage für das Verständnis der zunehmend divergierenden politischen Systeme beider Länder. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der Demokratisierung der Ukraine und der zunehmenden Autokratisierung Russlands ist die zentrale Achse in diesem Krieg. Geschichte wird nicht selten durch einen akuten Gegenwartsbezug neu gedacht oder revidiert. Historiker:innen lenken bereits effektiv den Blick auf die längerfristigen Entwicklungen, die das Heute prägen. Mit zeitlicher Verzögerung werden zunehmend Quellen über zentrale Entscheidungsprozesse im und um den Krieg herum zur Verfügung stehen. Unter Berücksichtigung forschungsethischer Grundsätze ist es möglich bzw. wird es möglich sein, Menschen nach ihren persönlichen Erfahrungen mit Krieg und Flucht, ihrem Engagement und ihren Einstellungen zu befragen – sowohl in Umfragen als auch in Fokusgruppen und narrativen Interviews.

Im Krieg ist der Zugang zum »Feld« erschwert. Die Rahmenbedingungen westlicher Forschungsinstitutionen schränken den Zugang zur Ukraine ein bzw. verbieten ihn ganz. Der Kriegskontext erfordert allerdings auch eine realistische Einschätzung dessen, was vor Ort wirklich erforscht werden kann, sollte der Zugang möglich sein. Westliche Wissenschaftler:innen könnten ihre Rolle und Bedeutung bei der empirischen Dokumentation des Geschehens vor Ort leicht überschätzen. Neben den persönlichen Risiken gilt es umfassende forschungsethische Grundsätze zu berücksichtigen. Die Forschung mit vulnerablen bzw. traumatisierten Menschen im oder nach dem Krieg geht mit einer hohen Verantwortung der Forschenden einher. Dies gilt sowohl für Forschung vor Ort als auch für Forschung mit Geflüchteten. Ukrainische Wissenschaftler:innen vor Ort bzw. im Ausland stehen ebenfalls vor praktischen und ethischen Herausforderungen. Welche Themen können und wollen sie zum jetzigen Zeitpunkt aufgreifen? Wie reagieren sowohl Bürger:innen als auch Entscheidungsträger:innen in der Ukraine, wenn sie von derzeit im Ausland lebenden ukrainischen Wissenschaftler:innen befragt werden?

Das »Feld« wird durch Krieg sehr viel komplexer – lokaler und zugleich transnationaler. Ähnlich ist es mit der Wissenschaft. Die kriegsbedingte starke Präsenz ukrainischer Wissenschaftler:innen in v. a. westeuropäischen Institutionen erweitert bestehende Netzwerke und Kooperationen um ein Vielfaches. Der virtuelle Raum trägt darüber hinaus dazu bei, ukrainische Stimmen aus der Ukraine viel stärker als früher in Veranstaltungen und Projekte einzubeziehen. Auf dieser Grundlage können noch breiter aufgestellte Netzwerke einen nachhaltigen Austausch über die Herausforderungen von Wissenschaft im Krieg etablieren und neue Projektideen schmieden. Der direkte alltägliche Kontakt und die zahlreichen virtuellen Verbindungen über Standorte und akademische Disziplinen hinweg stärken das Verständnis für die Logik und Parameter im ukrainischen Wissenschaftsbetrieb. Im derzeitigen Kriegskontext sind die Dokumentation, Kommunikation und akademische Lehre Teil des Überlebenskampfes der Ukraine. Im Wissenschaftssystem der Ukraine von vor 2022 deckten sich die Erwartungen der Ukrainer:innen nicht immer mit den Erwartungen westlicher (v. a. angelsächsischer) Prägung, z. B. in Bezug auf Entscheidungshierarchien, Veröffentlichungen in renommierten internationalen (d. h. meist englischsprachigen) Zeitschriften oder Drittmitteleinwerbungen. Die Bandbreite wissenschaftlicher Exzellenz in der Ukraine jenseits institutioneller Leuchttürme wird momentan jedoch bewusster wahrgenommen – dieser Trend geht über die Disziplinen hinaus, die sich direkt mit dem Krieg und seinen Folgen befassen. Auch dies gehört zur notwendigen Dekolonisierung der Osteuropaforschung und einer differenzierteren öffentlichen Wahrnehmung der Region. Die Fokussierung auf russische bzw. russländische Geschichte (v. a. in der Lehre und im öffentlichen Diskurs) und die zentrale Rolle der russischen Sprache und Literatur in der Slawistik haben den kolonialen Blick Russlands auf seine Nachbarländer gespiegelt, zur einseitigen Faszination der Öffentlichkeit beigetragen und andere Länder, Sprachen und Kulturen ausgeblendet. Auf der Grundlage eines durch den Krieg auf tragische Weise differenzierteren Blicks auf die Region und der zahlreichen persönlichen und institutionellen Verbindungen in der Wissenschaft lassen sich schon jetzt im Krieg aber auch für die Zeit danach multilokale Forschungskooperationen und -agenden konzipieren. Eine wichtige Voraussetzung für deren Tragfähigkeit sind allerdings über kurzfristige Unterstützung hinausgehende Möglichkeiten für Wissenschaftler:innen in und außerhalb der Ukraine. Dazu gehören grundlegende praktische Dinge, die leider zu oft übersehen werden, wie der Zugang zu kostspieligen internationalen Konferenzen und wissenschaftlichen Zeitschriften.

Mit dem Krieg verändert sich die Wissenschaftslandschaft in der Ukraine. Das hohe Ausmaß an Zerstörung, das militärische und soziale Engagement der Beschäftigten und Studierenden, Flucht sowie die prekäre wirtschaftliche und soziale Lage machen eine Neuordnung der Wissenschaft in der Ukraine erforderlich. Die vielen neuen und intensivierten Netzwerke und das unermüdliche Engagement vieler ukrainischer Wissenschaftler:innen bieten dafür solide Anknüpfungspunkte. Beim Wiederaufbau der Ukraine wird Wissenschaft eine wichtige Rolle spielen – umso dringender ist es, Wissenschaftsförderung und -reform als zentrales Element des Wiederaufbaus von Anfang an mitzudenken.

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