Zum Zustand der ukrainischen Wissenschaft in Zeiten des Krieges

Von Tetiana Folhina, Philipp Christoph Schmädeke, Yuliia Yevstiunina (alle Science at Risk Emergency Office des Akademischen Netzwerks Osteuropa, Berlin)

Zusammenfassung
Das Science at Risk Emergency Office analysiert die Lage der Wissenschaft in der Ukraine seit Beginn der russischen Invasion.

Durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde das Leben in ein »davor« und ein »danach« geteilt. Es gibt jetzt eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben. Zentrale lebenswichtige Bereiche des Landes, wie die kritische Infrastruktur, werden von Russland zielstrebig zerstört. Neben Energieversorgung, Umwelt und Verkehrsinfrastruktur sind auch die Bereiche Bildung und Wissenschaft betroffen. Einzigartige Ausrüstung und Geräte wurden vernichtet und Gebäude von Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen zerstört. Daten zufolge, die im April 2023 vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft veröffentlicht wurden, wurden vier Hochschulen in der Ukraine vollständig zerstört und 116 teilweise beschädigt. Über 11 Hochschulen, die sich auf besetztem Territorium befinden, liegen keinerlei Informationen vor. Zu den zerstörten Hochschulen zählen Einrichtungen in Saporischschja und Charkiw. Führende ukrainische Universitäten in den Gebieten Donezk, Tschernihiw, Mykolajiw und Cherson wurden erheblich beschädigt.

In Zeiten des Krieges ist die zivile Bevölkerung erheblichen Gefahren ausgesetzt. Nach unterschiedlichen Angaben sind seit Kriegsbeginn aus der Ukraine bis zu 18 Millionen Menschen in Länder der Europäischen Union geflohen. Gegenwärtig befinden sich rund acht Millionen Ukrainer:innen im Ausland. Daten zufolge, die von unterschiedlichen Stellen veröffentlicht wurden, befinden sich heute rund 6.000 ukrainische Wissenschaftler:innen im Ausland. Die meisten von ihnen sind nach Deutschland und Polen geflüchtet, viele sind aber auch in Frankreich, Spanien, dem Vereinigten Königreich und in den USA.

Hinzu kommen zwischen fünf und sieben Millionen Binnengeflüchtete. Die Situation wird dadurch verschärft, dass ein Teil der Bevölkerung unter russischer Besatzung leben muss. Die Fluchtbewegungen wirken sich ebenfalls äußerst stark auf Bildung und Wissenschaft aus. Ukrainische Wissenschaftler:innen und Studierende sind auf einmal mit Problemen wie Vertreibung, dem Verlust der Wohnung oder des Arbeitsplatzes konfrontiert und es fehlen Möglichkeiten, Forschung zu betreiben u. v. m. Diese kriegsbedingte schwierige Lage hat sogar einen Namen erhalten: »scienticide«. Die Nationale Akademie der Wissenschaften der Ukraine bezeichnet damit die »zielgerichtete Vernichtung der Wissenschaft in der Ukraine«.

Unserer Ansicht nach sind unter den Folgen des Krieges für die ukrainische Wissenschaft zwei Entwicklungen besonders prägnant:

  1. Eine negative, nämlich die zielgerichtete Zerstörung und Vernichtung von Wissenschaft und wissenschaftlicher Infrastruktur, Vertreibung von Wissenschaftler:innen und ein Verlust der Möglichkeit, die wissenschaftliche Lehr- oder Forschungstätigkeit normal im Kreise ukrainischer Kolleg:innen fortführen zu können;
  2. Eine positive, da der Umfang und die Qualität der Unterstützung für ukrainische Wissenschaftler:innen von Seiten der internationalen Gemeinschaft stetig zunimmt, nämlich durch Fördermittel, Stipendien und die Etablierung gemeinsamer Projekte. Das ist ein wichtiger Treiber für die »De-Kolonialisierung« der Osteuropa-Forschung, von dem die Ukraine profitiert.

Die große Solidarität und Unterstützung durch die internationale Wissenschaftscommunity machte es möglich, dass den Bedürfnissen von ukrainischen Wissenschaftler:innen eine besondere und konzentrierte Aufmerksamkeit in dieser schwierigen Situation zu Teil wurde. Eine Untersuchung, die im Rahmen des Förderprojekts »UAScience.Reload« im Laufe des April 2022 durchgeführt wurde, hatte zum Ziel, die Bedürfnisse der gebliebenen oder geflohenen ukrainischen Wissenschaftler:innen zu ermitteln. An der Online-Befragung nahmen 2.173 ukrainische Wissenschaftler:innen teil. Die Ergebnisse zeigten ernste Krisenerscheinungen im wissenschaftlichen Bereich auf, unter anderem: Eine erhebliche Verschlechterung der materiellen Lage der Wissenschaftler:innen und ihrer Familien, psychische Probleme, Beschränkung der technischen Möglichkeiten usw. Die Studie ergab weiterhin, dass in der ersten Zeit direkt nach Beginn der Invasion ein großer Teil der Unterstützung Wissenschaftler:innen zur Verfügung gestellt wurde, die ins Ausland gegangen waren. Die Wissenschaftler:innen, die in der Ukraine geblieben waren und weiterhin dort arbeiteten, waren zum Zeitpunkt der Erhebung in ihren Möglichkeiten erheblich eingeschränkt.

Der größte Teil der Wissenschaftler:innen, die die Ukraine verlassen hatten, gingen nach Deutschland (26,8 Prozent) und Polen (25,1 Prozent). Die zahlenstärksten Altersgruppen waren die von 31 bis 40 Jahre (29,3 Prozent) und von 41 bis 50 Jahre (30,3 Prozent). 83 Prozent der Respondent:innen berichteten von einer erheblichen Verschlechterung ihrer materiellen Lage gegenüber der Situation vor dem Krieg. 74,4 Prozent der Befragten gehen weiterhin einer wissenschaftlichen Tätigkeit nach.

Was die Möglichkeiten angeht, wissenschaftlich im gleichen Umfang wie vor dem Krieg tätig zu sein, so bestätigten das nur 27,1 Prozent der Befragten, während 72,9 Prozent der Wissenschaftler:innen diese Möglichkeiten verwehrt blieben. Als wichtigste Gründe wurden angegeben: mangelndes Sicherheitsgefühl, fehlendes Interesse, Apathie, fehlender Arbeitsplatz, technische Gründe (instabiler Internetzugang, Stromausfälle). Somit sind die negativen Faktoren sowohl psychologischer wie auch technischer Natur.

Als wichtigste persönliche Bedürfnisse der ukrainischen Wissenschaftler:innen in Zeiten des Krieges wurden genannt: finanzielle Unterstützung; Wiederherstellung alter oder Aufbau neuer sozialer Kontakte; Zugang zum Internet. Zu den am häufigsten geäußerten Bedürfnissen in Bezug auf die wissenschaftliche Tätigkeit zählten: Forschungsprojekte, mit denen man sich in naher Zukunft befassen kann, und Projekte, die sich sofort umsetzen ließen; freier Zugang zu wissenschaftlicher Literatur, Informationen und Daten; Mobilitätsprogramme; Kommunikation mit Forschungskolleg:innen.

Die Studienergebnisse halfen dabei, akute Hilfsmaßnahmen zielgerichtet zu gestalten. Dadurch änderte sich z. B. die Ausrichtung der internationalen Hilfe: Während zu Beginn des Krieges der größte Teil der internationalen Hilfen an geflüchtete Wissenschaftler:innen ging, konzentrierte sich die internationale Wissenschaftsgemeinschaft etwa seit Ende 2022 zunehmend auf die Lösung der Probleme, vor denen die in der Ukraine verbliebenen Wissenschaftler:innen stehen (z. B. durch die Finanzierung gemeinsamer Projekte, Einrichtung von Online-Plattformen und Portalen zur Kommunikation und Vernetzung, Angebote zur kostenlosen Veröffentlichung von Forschungsergebnissen, ungehinderter Zugang zu Fachinformationen usw.). Dadurch wurde ein weiteres für die Ukraine spezifisches Problem festgestellt, nämlich die unzureichende Strukturierung des Wissenschaftsbetriebs, insbesondere was wissenschaftliche Communities und verschiedene Disziplinen anbelangt. Das erschwerte die zielgenaue Unterstützung von Seiten der internationalen Partner in ihrem jeweiligen Bereich. Meist waren die internationalen Wissenschafts-Communities und -Zusammenschlüsse genötigt, auf Basis bereits bestehender Kontakte einzelne Hochschuleinrichtungen und Wissenschaftler:innen zu kontaktieren. Daher erscheint der Aufbau disziplinärer Communities und anderer, ähnlicher Strukturen in der Ukraine als sinnvoll.

Darüber hinaus bleibt für einen großen Teil der ukrainischen Wissenschaftler:innen die Notwendigkeit aktuell, Fremdsprachen, insbesondere Englisch, zu einem Grad zu erlernen, der eine professionelle Kommunikation ermöglicht. In einer besonders schwierigen Situation befinden sich jene, die sich den Streitkräften der Ukraine angeschlossen haben und über keine Möglichkeit verfügen, ihre wissenschaftliche Tätigkeit fortzuführen oder sich an gemeinsamen Veranstaltungen zu beteiligen.

Angesichts der genannten Probleme und Risiken hat das »Science at Risk Emergency Office«, ein Projekt des »Akademischen Netzwerks Osteuropa«, 2022 damit begonnen, eine intensive, zielgerichtete Tätigkeit zur Unterstützung von Wissenschaftler:innen und Studierenden umzusetzen, die unter den Folgen des Krieges in der Ukraine leiden. Dieses Projekt versucht in erster Linie, Wissenschaftler:innen, die sich außerhalb der Ukraine befinden, in die jeweiligen Wissenschafts-Communities zu integrieren. Auch sollen Binnengeflüchtete, die gezwungen sind, ihr Leben an einem neuen Ort praktisch von Null an aufzubauen, finanziell unterstützt werden und in wissenschaftliche Veranstaltungen einbezogen werden. Darüber hinaus soll die aktive Zusammenarbeit mit Wissenschaftskolleg:innen verstärkt werden, die vor Ort geblieben sind und ihre Arbeit unter Gefahr fortführen. Wir werden demnächst einen Online-Sprachkurs in Englisch für ukrainische Wissenschaftler:innen anbieten. Darüber hinaus führen wir aktuell eine große gemeinsame Studie durch, die die aktuellen Probleme und Bedürfnisse im wissenschaftlichen Bereich identifizieren soll. Angesichts des andauernden Krieges in der Ukraine hat neben der finanziellen Unterstützung und der Hilfe zur fachlichen Qualifizierung die Integration in die bzw. das »Sichtbarmachen« der ukrainischen Wissenschaftler:innen in die globale Wissenschaftslandschaft für uns höchste Priorität.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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