Ukraine-Studien in Deutschland. Beobachtungen eines Historikers

Von Andrii Portnov (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder)

Zusammenfassung
Die Ukraine steht in den Augen eines Großteils der akademischen Gesellschaft in Deutschland immer noch im Schatten Russlands. Es braucht neue Ukraine-Studien, die möglichst inklusiv sein sollten.

Die Geschichte der Ukraine im deutschen Hochschulsystem ist eine Disziplin, deren institutionelle Schwäche mehr als offensichtlich ist. Die Ukraine selbst steht in den Augen eines großen Teils der deutschen (auch akademischen) Gesellschaft immer noch im »Schatten Russlands« und wird eher als Objekt denn als handlungskompetentes Subjekt wahrgenommen. Was die Anzahl der Veröffentlichungen (und nicht deren Qualität) betrifft, so lässt sich eine Überbetonung der neueren und zeitgenössischen Themen feststellen. Auffällig ist die Häufigkeit von Themen wie Nationalismus, Antisemitismus und Kollaboration mit den Nazis. Dadurch entsteht die weit verbreitete Wahrnehmung, dass die Schlüsselfigur der ukrainischen Geschichte Bandera ist und dass das Adjektiv »ukrainisch« fast immer unmissverständlich durch »nationalistisch« ersetzt werden kann.

Ich formuliere diesen Gedanken bewusst so scharf wie möglich, um die immer wiederkehrende Herausforderung an ukrainische Themen zu verdeutlichen. Im Jahr 1994 im Vorwort zur ersten Auflage seiner »Kleinen Geschichte der Ukraine« schreibt Andreas Kappeler: »Die Ukrainer galten bis vor kurzem auch in Deutschland als Russen, ihre Sprache als russischer Dialekt, ihre Geschichte als russische, polnische oder sowjetische Geschichte… Ein Ziel dieses Buches besteht darin, der vorherrschenden russozentrischen Perspektive, die die Ukraine (wenn überhaupt) nur als Randgebiet Russlands zur Kenntnis nimmt, eine ukrainische Perspektive entgegenzusetzen…«. In seinem Buch »Ungleiche Brüder« von 2017, also in einem anderen politischen Kontext – nach dem Euromaidan, der Annexion der Krim und dem Ausbruch des Krieges im Donbas – stellte derselbe Kappeler fest: »Im westlichen Ausland folgte man weitgehend dem russischen Narrativ. Es war und ist die Rede vom Kiewer Russland, von Altrussland oder von der altrussischen Literatur. Damit übernahm man die Vereinnahmung der Kiewer Rus durch Russland und die Russen«.

Kappelers Hauptaussage stimmt überraschenderweise mit den Hauptthesen der Veröffentlichungen von Dmytro Doroschenko, ein bedeutender emigrierter Historiker und der erste Direktor des Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts in Berlin, aus den 1930er Jahren überein. Folgt daraus, dass sich die deutsche Ukrainistik in ihrer Hauptaufgabe – der vollen Anerkennung der kulturellen und historischen Selbstständigkeit der Ukraine – im Kreis bewegt? Oder braucht das Ukraine-Thema in der sich wandelnden politischen Realität in Deutschland immer wieder eine neue Legitimation?

Die Anfänge der ukrainischen Studien an den deutschen Universitäten gehen zurück auf die Forschungsaktivitäten der Berliner Wissenschaftler Vatroslav Jagić, der 1874 der erste Professor für Slawistik an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin wurde und das »Archiv für slavische Philologie« (1876–1929 in Berlin erschienen) ins Leben rief, und Max Vasmer, der in seiner 1924 gegründeten »Zeitschrift für slavische Philologie« Publikationen zu ukrainischen Themen begrüßte.

Ein wichtiger Versuch, ukrainische Studien in Deutschland zu institutionalisieren, wurde 1926 mit der Gründung des bereits erwähnten Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts (UNI) in Berlin unternommen. Dmytro Doroschenko entwarf das UNI als Forschungsinstitut, eine »kleine Akademie der Wissenschaften«, die sich der Popularisierung der ukrainischen Forschung in Deutschland widmete und frei von jeglichen politischen Verpflichtungen war. Die letzte Maxime wurde 1931 de facto aufgegeben, als das Institut den Status einer staatlichen Einrichtung beim deutschen Bildungsministerium erhielt. Seitdem (und bis 1945) engagierten sich seine Mitarbeiter in der Lehre an der Berliner Universität und in der Erstellung deutsch-ukrainischer Wörterbücher.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs initiierte eine Gruppe von Wissenschaftlern des Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts die Wiedergründung der Ukrainischen Freien Universität (UFU) in München (sie wurde 1921 in Wien eröffnet und im selben Jahr nach Prag verlegt). Im Jahr 1950 erkannte das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus die UFU offiziell als Privatuniversität an und unterstützte ihre Aktivitäten, darunter Publikationen, Konferenzen und Kunstausstellungen, finanziell.

Auch wenn es an deutschen Universitäten in der Nachkriegszeit keine etablierte Ukrainistik gab, brachten einige Publikationen deutscher Professor:innen wegweisende Erkenntnisse zur Erforschung der ethnischen und nationalen Komplexität des Rußländischen Reiches (Andreas Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich) und der Sowjetunion (Gerhard Simon: Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion). Ihre bahnbrechenden Forschungen wurden zu einem Meilenstein für die internationale Debatte über die Überwindung der Grenzen nationaler und imperialer Narrative. Neben deutschen Historikern haben auch Politik- und Literaturwissenschaftler eine Reihe von wichtigen Publikationen zur Ukraine vorgelegt.

Die volle Entfaltung ukrainischer Themen an deutschen Hochschulen erfordert jedoch eine systematische Verbesserung der Grundkenntnisse und -kompetenzen, vor allem der ukrainischen Sprache, Geschichte und Literatur. Kompetente Ukraine-Expertise kann sich nicht nur auf deutsch-, englisch- oder gar nur russischsprachige Publikationen über die jüngsten Entwicklungen stützen.

Die entscheidende Verbesserung der Qualität wird hoffentlich unweigerlich neue methodische Überlegungen mit sich bringen. In erster Linie könnte man eine Neuformulierung der Geschichte einer Region erwarten, indem man die Ukraine als Prisma verwendet, das die verflochtene Geschichten zwischen Russland, Polen, der jüdischen Gemeinschaft und des habsburgischen Erbes sichtbar macht, aber in einer neuen Perspektive, die zum Verständnis der spezifischen historischen Selbstständigkeit der Ukraine beiträgt.

Eingezwängt zwischen den normativen Extremen des postkolonialen Narrativs einerseits und des »nationalizing state« andererseits muss die postsowjetische Ambiguität der Ukraine immer noch als eine unverwechselbare und autonome komplexe Subjektivität in einem breiten transnationalen und transregionalen Kontext analysiert werden.

Die neuen Ukraine-Studien könnten in dreierlei Hinsicht inklusiv sein: Sie sind auf die Interaktion zwischen russischen, polnischen, jüdischen und osmanischen Studien ausgerichtet; sie sind als grundlegend interdisziplinäres Forschungsfeld gedacht, in dem Geschichte auf Anthropologie, Ökonomie, Soziologie, Literaturwissenschaft, politische Philosophie und Kunstgeschichte trifft; sie stehen ForscherInnen aus der Ukraine und anderen Regionen offen gegenüber (und beziehen Menschen aus den verschiedenen Provinzen ein, anstatt sich nur auf die Hauptstädte zu konzentrieren), die in internationalen Debatten und Austauschprogrammen immer noch unterrepräsentiert sind.

Lesetipps / Bibliographie

  • Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine. München: C. H. Beck, 1994.
  • Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München: C. H. Beck, 2017.
  • Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall. München: C. H. Beck, 1992.
  • Gerhard Simon, Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion. Von der totalitären Diktatur zur nach­stalinistischen Gesellschaft. Baden-Baden: Nomos, 1986.

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