Die Osteuropäische Geschichte und die Ukraine nach Russlands Angriff

Von Martin Aust (Universität Bonn)

Zusammenfassung
Angesichts des russischen Kriegs gegen die Ukraine führt kein Weg an der bohrenden Frage vorbei, ob sich die Osteuropäische Geschichte eine Vernachlässigung der ukrainischen Geschichte vorzuwerfen hat.

Russlands Invasion in die Ukraine stellt für die Osteuropäische Geschichte einen Einschnitt von einer Tiefe dar, wie ihn das Fach zuletzt nach dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung der Sowjetunion 1989/91 erlebt hat – jedoch unter gänzlich anderen Vorzeichen. Damals begann eine Epoche der Freiheit und des Aufbruchs. In der sogenannten Archivrevolution öffneten sich vormals verschlossene Archive und erlaubten eine neue quellengesättigte Geschichtsschreibung über Staaten und Gesellschaften im östlichen Europa. Der Blick der Geschichtswissenschaft richtete sich in die Zukunft neuer Möglichkeiten, die mit den Stichworten einer Geschichte Europas jenseits alter Ost-West-Stereotype, einer Imperiengeschichtsschreibung mit globalem Horizont und den methodischen Erweiterungen der kulturwissenschaftlichen Wende in der Geschichtsschreibung verbunden waren. Heute, im Angesicht des russischen Kriegs gegen die Ukraine, geht der Blick der Geschichtswissenschaft sowohl zurück als auch nach vorne. In der Rückschau führt kein Weg an der bohrenden Frage vorbei, ob sich die Osteuropäische Geschichte eine Vernachlässigung ukrainischer Geschichte vorzuwerfen hat. Anna Veronika Wendland hat diese Frage bereits 2015 in der Zeitschrift Osteuropa aufgeworfen. Die Antwort hängt davon ab, welche Parameter zugrunde gelegt werden sollen: innerwissenschaftliche des Erkenntnisgewinns und der wissenschaftlichen Arbeitsstrukturen oder außerwissenschaftliche des Transfers gesicherten Wissens in die mediale Öffentlichkeit und das politische Gespräch. Über einzelne Forschungsarbeiten hinaus hat sich das Wissen um die Geschichte der Ukraine in den letzten dreißig Jahren in Gesamtdarstellungen ukrainischer Geschichte niedergeschlagen, die Andreas Kappeler, Frank Golczewski und Kerstin Jobst geschrieben und herausgegeben haben. Darüber hinaus geben englischsprachige Überblicksgeschichten der Ukraine von Orest Subtelny, Paul Robert Magocsi, Serhy Yekelchyk und Serhii Plokhii eine gute Orientierung in der Lehre. Es gehört jedoch zu den ernüchternden Befunden bereits der Jahre 2014/15 und nun im Angesicht der Diskussion um das Ausmaß militärischer Hilfe für die Ukraine in Deutschland, wie ein Teil des politischen Spektrums (Linke, AfD und ein Teil der SPD), prominenter medialer Figuren (Richard David Precht) und einige Intellektuelle (Alice Schwarzer, Jürgen Habermas, Alexander Kluge) mit der Ukraine keine Vorstellung verbinden. Sie sind in der Geschichte und Gegenwart der Ukraine unbelesen. So fehlt ihnen Empathie mit der Ukraine. Die Anerkennung des Subjektstatus der Ukraine beziehen sie nicht in ihre Kalkulationen ein, die vollkommen auf das deutsch-russische Verhältnis fixiert sind. Hier bedarf es weiterer Transferinitiativen von Wissen über die Ukraine in die Öffentlichkeit, wie sie z. B. das Zentrum Liberale Moderne seit Jahren betreibt. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn sich die Institutionen des geschichtswissenschaftlichen Austausches zwischen Deutschland und der Ukraine, die seit 2015 wesentlich von der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission getragen werden, um ein Deutsches Historisches Institut in Kyjiw erweitern ließen, so wie die Gründung des Deutschen Historischen Instituts in Warschau 1993 exemplarisch für eine neue Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft für Polen und Ostmitteleuropa stand. Wie groß die Aufgabe ist, Gesellschaft und Öffentlichkeit Wissen um die Ukraine zu vermitteln, das in der Osteuropäischen Geschichte als Common Sense vorausgesetzt werden darf, haben in den letzten Wochen die Publikumsfragen bei zahlreichen Vortragsveranstaltungen zur Ukraine und dem russisch-ukrainischen Krieg in Schulen, Universitäten und vor städtischen Publika gezeigt. Die Rückfragen zielen zu einem ganz erheblichen Teil auf Putin und Russland, jedoch kaum auf die Ukraine. Daran lässt sich ablesen, wie groß die Transferaufgabe ist. Hoffnung auf Änderungen machen hier Vortragsanfragen von Menschen, die sich in Deutschland für Menschen aus der Ukraine engagieren und nun mehr über die Ukraine und ihre Geschichte erfahren möchten. Dieses Graswurzelinteresse sollten Historikerinnen und Historiker entschlossen aufgreifen, um der Nachfrage nach Wissen über die Ukraine in der Gesellschaft entgegenzukommen und es weiter zu befördern.

Ferner liegt auch eine Neujustierung der regionalen Schwerpunkte im Fach Osteuropäische Geschichte nahe. Ich habe in meiner eigenen Arbeit in Forschung und Lehre die Geschichte der Ukraine in transnationalen Zusammenhängen behandelt – in einem Buch über polnisch-ukrainisch-russische Erinnerungskonflikte um Kriege des 17. Jahrhunderts und in der Lehre integriert in Vorlesungen zu den Geschichten Ostmitteleuropas, des Zarenreiches und der Sowjetunion. Das muss sich in meinen Augen nun ändern. In der Lehre werde ich Veranstaltungen zur Geschichte der Ukraine anbieten, die das Land nicht in Kontexten ostmitteleuropäischer und russischer Geschichte behandeln, sondern von der Ukraine aus nach Europa schauen. Meine Forschungspläne habe ich nach dem russischen Überfall auf die Ukraine zur Seite gelegt und arbeite momentan an einem Exposé zur Geschichte der Ukraine, um einen Beitrag zum Transfer in die Öffentlichkeit zu leisten.

Damit ist nicht gesagt, dass die Geschichten Russlands und der Sowjetunion von der Agenda der Osteuropäischen Geschichte verschwinden. Gerade die Geschichtsschreibung, die sich mit Imperien und Postimperium befasst, wird einen wichtigen Beitrag zur Historisierung von Putins Russland leisten. In welchen Strukturen von Wissenschaftskooperation und Archivzugänglichkeit Osteuropäische Geschichte künftig operiert, ist jedoch eine offene Frage, die ganz entscheidend von der Dauer des Krieges, seinem Ende und der Nachkriegsordnung abhängt. Für die Geschichtsschreibung der Ukraine stellt sich die Frage, wann die Situation in der Ukraine eine Rückkehr zu internationaler Wissenschaftskooperation vor Ort an den Universitäten im Land ermöglichen wird. Der Archivzugang in der Ukraine wird frei bleiben, wie groß jedoch die Schäden des russischen Angriffs auch auf die Kultur und Archivüberlieferung der Ukraine sein werden (erste Abschätzungen von Kriegsschäden an Archivbeständen liefert ein Bericht von Bert Hoppe), bleibt abzuwarten. Ganz anders stellen sich die Perspektiven für Belarus und Russland dar. Solange die Regime von Lukaschenka und Putin an der Macht sind, ist anzunehmen, dass ihre Abschottung nach außen und Instrumentalisierung von Bildungseinrichtungen im Innern jegliche institutionelle Kooperation auf absehbare Zeit verbietet. Die Zusammenarbeit mit belarusischen und russischen Historiker*innen im Exil und Zugangsmöglichkeiten zu Archiven über Dritte formiert sich momentan. Die Osteuropäische Geschichte steht vor der Aufgabe, ihre letzten dreißig Jahre Forschung und Lehre zu bilanzieren, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen und gleichzeitig sich produktiv an der Weiterentwicklung und Neuvernetzung von Geschichtswissenschaft in den Ländern des östlichen Europas westlich von Belarus und Russland zu beteiligen. Der Ukraine sollte dabei zentrale Aufmerksamkeit zukommen.

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