Der Angriff auf das NABU bedroht mühselig errungene Fortschritte im Kampf gegen die Korruption

Von Mattia Nelles (Zentrum Liberale Moderne, Berlin)

Am Abend des 28. August überraschte das ukrainische Verfassungsgericht mit einem wegweisenden Urteil über das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU). Das Gericht erklärte die Berufung des Direktors der mächtigen Ermittlungsbehörde Artem Sytnyk für verfassungswidrig (http://www.ccu.gov.ua/novyna/ukaz-prezydenta-ukrayiny-pro-pryznachennya-sytnyka-dyrektorom-nacionalnogo-antykorupciynogo). Sytnyk war 2015 vom damaligen Präsidenten Petro Poroschenko ernannt worden. Mit dem Urteil stürzte das Verfassungsgericht die Antikorruptionsbehörde in eine tiefe Krise, die weitreichende politische Folgen haben könnte. Mühselig erkämpfte Reformen und Fortschritte im Kampf gegen die systemische Korruption stehen nun auf dem Spiel.

Rechtliche Unklarheit lähmt das NABU

Die genauen Auswirkungen des Urteils auf die Arbeit des NABU sind bis dato unklar. Dieser juristische Schwebezustand hängt nun wie ein Damoklesschwert über der wichtigen Ermittlungsbehörde. Das Verfassungsgericht erklärte die Berufung von Artem Sytnyk für nichtig. Dennoch ist der von Selenskyjs Amtsvorgänger ernannte Direktor nach wie vor auf seinem Posten und kann nicht ohne Weiteres abberufen werden. Dies garantiert das im Jahr 2014 verabschiedete Gesetz über das NABU, welches die Unabhängigkeit der Behörde und des Direktors umfassend vor politischem Einfluss schützt (https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/1698-18#Text).

In seiner Begründung erklärte das Verfassungsgericht, der ehemalige Präsident Petro Poroschenko habe 2015 mit der Berufung des NABU-Direktors seine verfassungsmäßigen Befugnisse überschritten. Das Gericht griff damit auf eine grundsätzlich nicht abwegige Begründung zurück. Schließlich wurde die Frage der verfassungsrechtlichen Befugnisse des Präsidenten auch im Hinblick auf Ernennungen wie die des NABU-Direktors unter Experten umfassend diskutiert. Die Experten unterbreiteten zahlreiche Vorschläge für Änderungen der Verfassung oder des Ernennungsverfahren. Allerdings demonstrierten weder Poroschenko noch Selenskyj Reformwillen, obwohl sie die nötige parlamentarische Unterstützung dafür hätten mobilisieren können.

Schwache politische Reaktion

Laufende Ermittlungen sind laut Urteil nicht betroffen, aber der juristische Vorstoß bietet der politischen Klasse eine Steilvorlage, sich dem unliebsamen Sytnyk zu entledigen und ihn durch einen loyaleren Kandidaten zu ersetzen. Seit der Gründung im Jahr 2014 lagen große Hoffnungen auf dem NABU und seinem Direktor. Tatsächlich konnten hunderte Strafverfahren auch gegen einflussreiche Politiker wie etwa Roman Nasirow oder Mykola Martynenko eingeleitet und zur Anklage gebracht werden. Aber bis heute wird das NABU in der öffentlichen Wahrnehmung fälschlicherweise an der Tatsache gemessen, dass es kaum zu Verurteilungen kam. Die Verfahren, in denen das NABU ermittelte, versandeten bis vor Kurzem noch in den alten, nicht reformierten Gerichten. Seit der Gründung des Hohen Antikorruptionsgerichts (WASU), einem spezialisierten Antikorruptionsgericht, welches im September 2019 seine Arbeit aufnahm, führen erstmals komplett unabhängige Strafrichter die Gerichtsverfahren.

Die Reaktionen auf das verheerende Urteil ließen nicht lange auf sich warten. Das NABU lehnte das Urteil als »politisch motiviert« ab und verwies explizit auf seine Ermittlungen gegen das Bezirksverwaltungsgericht Kyjiw (OASK) als mögliche Beweggründe (https://en.interfax.com.ua/news/general/684247.html). Die Botschafter der G7 veröffentlichten ein gemeinsames Statement, in dem sie die Bedeutung der Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden hervorhoben. Präsident Selenskyj ging einen Tag nach dem Urteil mit einem enttäuschend schwachen Statement an die Öffentlichkeit, in welchem er lediglich ankündigte, das Urteil zu akzeptieren und gleichzeitig Sytnyk als »amtierenden Direktor« bezeichnete. Auch der Fraktionsvorsitzende und weitere einflussreiche Abgeordnete von der Regierungspartei Diener des Volkes vermieden klare Ansagen in Bezug auf das Schicksal des NABU.

Der Schlüssel zur Lösung der Krise liegt im Parlament

Nur das Parlament kann nun die rechtliche Unklarheit beseitigen. Dafür muss ein Gesetzentwurf ausgearbeitet und schnellstmöglich verabschiedet werden. Laut Urteil des Verfassungsgerichts muss das Recht der Berufung des NABU-Direktors an den Premierminister bzw. das Ministerkabinett übertragen und Änderungen im Berufungsverfahren vorgenommen werden. Der Grund hierfür ist, dass das innenpolitische Prärogativ bei der Regierung liegt, es sei denn die Verfassung benennt die innenpolitischen Kompetenzen des Präsidenten explizit. Nur wenn das Urteil des Verfassungsgerichts zu entsprechenden Gesetzesänderungen führt, kann die Unabhängigkeit des NABU weiterhin garantiert und dessen Arbeit ungehindert fortgesetzt werden.

Leider hat sich das Parlament dieser wichtigen Aufgabe nur langsam angenommen. Nach der Sommerpause wurde vergangene Woche in den entsprechenden Ausschüssen über Änderungsvorschläge debattiert. Dennoch blieb der Gesetzentwurf, der noch von der Hontscharuk-Regierung eingebracht worden war, bisher unvollendet, er kann deswegen nicht dem Plenum zur Abstimmung in erster Lesung vorgelegt werden. Im Gespräch mit dem Autor erklärte ein Abgeordneter aus der Regierungsfraktion, dass weder das Präsidialamt noch die Fraktionsführung oder die Regierung ausreichend politischen Willen an den Tag legen, die durch die juristische Unklarheit verursachte Krise schnell auszuräumen. Der Grund dafür, so der Abgeordnete, seien die anstehenden Kommunalwahlen und ein sich anbahnendes zweites Urteil des Verfassungsgerichts über das NABU.

Angriff auf das NABU stellt Westbindung in Frage

Dieser Vorgang ist in vielerlei Hinsicht enorm problematisch. Schließlich wurde der NABU-Direktor Artem Sytnyk im wohl transparentesten und kompetitivsten Auswahlverfahren der jüngeren ukrainischen Geschichte ausgewählt. Erstmals standen nicht nur die fachliche Eignung, sondern auch die Integrität des mächtigen Direktors im Fokus der renommierten Berufungskommission, in der auch internationale Experten vertreten waren. Die Gründung des NABU war zudem seit 2014 stets Bedingung für Kredite des Internationalen Währungsfonds. Ein Großteil der westlichen Unterstützung war konsequent an die Wahrung der Unabhängigkeit des NABU gebunden. Zahlreiche NGOs in Kyjiw wie etwa AntAC sind besorgt, dass Angriffe auf die Behörde die dringend benötigte Unterstützung aus dem Westen sowie die euroatlantische Integration der Ukraine grundsätzlich in Frage stellen (https://antac.org.ua/en/news/decision-of-constitutional-court-nabu-director/).

Das NABU hat viele Feinde

Das Urteil des Verfassungsgerichts über das NABU kam nicht ganz überraschend. Die Verfassungsklage war von 51 Abgeordneten eingereicht worden, davor hatte sich das Verfassungsgericht noch nicht mit dem NABU befasst. Wortführer der Abgeordnetengruppe war der umstrittene Parlamentarier Oleksandr Dubinskyj, der informelle Vorsitzende der »Kolomojskyj-Fraktion« innerhalb der Präsidentenpartei Diener des Volkes, sowie zahlreiche Vertreter der pro-russischen Oppositionsplattform Für das Leben. Für oligarchische Partikularinteressen und insbesondere für Ihor Kolomojskyj, der mit seinem Medienimperium wesentlich zu Selenskyjs Wahlerfolg beigetragen hatte, wurde das NABU zunehmend zu einem großen Problem. Laut der Rechtsberaterin Tetjana Schewt­schuk arbeitete die Behörde zudem in den letzten Monaten umfassend mit der US-amerikanischen Ermittlungsbehörde FBI zusammen und trug so zu deren Ermittlungen in den Vereinigten Staaten gegen den einflussreichen Oligarchen Kolomojskyj bei (https://ukraineverstehen.libmod.de/shevchuk-juristischer-feldzug-nabu-reformen/). Gleichzeitig hatte das NABU Mitte Juli zum zweiten Mal ein umfassendes Strafverfahren gegen sechs Richter des mächtigen Bezirksverwaltungsgerichts Kyjiw (OASK) eingeleitet und damit Teile der einflussreichen Richterschaft gegen sich aufgebracht. Die ukrainische Zivilgesellschaft und seit kurzem auch der Internationale Währungsfonds fordern die Auflösung des OASK.

Die Justiz bleibt die Achillesferse

Das NABU-Urteil des Verfassungsgerichts offenbart aber auch, wie schwerwiegend die Probleme sind, die die nicht reformierte, politisierte Justiz mit sich bringt. Bisherige Reformvorhaben, die darauf abzielen, Richter in den höchsten Ämtern nicht nur auf formelle Kriterien und fachliche Eignung, sondern auch auf deren Integrität zu prüfen, scheiterten am vehementen Widerstand aus der mächtigen Richterschaft und dem Hohen Rat der Justiz (WRP). Auch das ab 2014 mit alten Richtern neubesetzte Verfassungsgericht steht hier in der Mitverantwortung. Letzteres hatte bereits vor dem NABU-Urteil mit einer Reihe von Entscheidungen, die Experten aus der Ukraine als größtenteils politisch motiviert betrachten, für Aufsehen gesorgt. Im März dieses Jahres hatte es beispielsweise wesentliche Elemente der Justizreform kassiert, die von Selenskyj angestoßen worden war.

Solange keine umfassenden Reformen und Integritätskontrollen durchgesetzt werden, können alle Fortschritte im Kampf gegen die Korruption und wichtige andere Schlüsselreformen durch juristische Winkelzüge in Frage gestellt oder sogar ausgehebelt werden. Das Verfassungsgericht berät ab dieser Woche über eine zweite Verfassungsklage, welche die grundlegende Frage klären soll, ob das NABU und die Ernennung des Direktors mittels einer Berufungskommission verfassungskonform sind. Nach dem letzten Urteil sind die Sorgen groß, dass ein zweites Gerichtsurteil sogar zur Auflösung des NABU führen könnte.

Selenskyj hatte nach seiner Wahl umfassende Reformen in der Justiz und wesentliche Fortschritte im Kampf gegen die Korruption versprochen. Ein Jahr nach den Parlamentswahlen sind die Fortschritte im Bereich der Justizreform ernüchternd. Der Druck auf das NABU und die wenigen unabhängigen Institutionen nimmt hingegen kontinuierlich zu. Ein weiteres Urteil bedroht jetzt sogar die Existenz der wichtigsten Antikorruptionsbehörde. Westliche Partner der Ukraine, insbesondere die EU, müssen jetzt den Druck auf den Präsidenten erhöhen und klar aufzeigen, dass das Fortbestehen und die Unabhängigkeit des NABU eine Bedingung der Kooperation bleibt. Statt ausschließlich weitere Kredite an diese Frage zu koppeln, sollte die Visumfreiheit für Ukrainerinnen und Ukrainer in Frage gestellt werden. Denn diese war an Fortschritte im Kampf gegen die Korruption geknüpft. Jetzt sei es an der Zeit, so ein Abgeordneter der Partei Diener des Volkes, eine klare rote Linie zu ziehen und Selenskyj mit Nachdruck an seine Verpflichtungen zu erinnern.

Zum Weiterlesen

Analyse

Poroschenko im Rampenlicht: Der gesellschaftliche Wunsch nach Rechtsstaatlichkeit setzt Selenskyj unter Zugzwang

Von Cristina Gherasimov, Iryna Solonenko
Seit dem Amtsantritt von Präsident Wolodymyr Selenskyj vor einem Jahr wird dessen Amtsvorgänger Petro Poroschenko einer ganzen Reihe gravierender Verbrechen verdächtigt. Während die institutionellen Kapazitäten zur Untersuchung der immer komplexer werdenden Korruption in den oberen Etagen immer noch gering sind, erscheinen die zentralen Anschuldigungen gegen Poroschenko, nämlich Hochverrat, Amtsmissbrauch und Korruption, schlecht begründet zu sein. Sie lassen befürchten, dass es sich hier um politisch motivierte Strafverfolgung handeln könnte. Angesichts der gescheiterten Justizreform und einer fehlenden Vision von unabhängiger Justiz besteht in der Gesellschaft ein starker Wunsch nach Gerechtigkeit. Die Strategie der amtierenden Regierung scheint sich daher auf leicht und schnell zu erzielende Resultate zu konzentrieren. (…)
Zum Artikel
Analyse

Das Trugbild vom Durchbruch zum Rechtsstaat: Justizreform nach der Revolution der Würde

Von Maria Popova, Mykhailo Zhernakov
Die Regierungen unter Petro Poroschenko und Wolodymyr Selenskyj brachten eine Vielzahl institutioneller und legislativer Änderungen im Justizwesen auf den Weg. Das Versprechen der Revolution der Würde, für Rechtsstaatlichkeit zu sorgen, ist jedoch weitgehend unerfüllt geblieben. Die Auswirkungen der ambitionierten Umstrukturierung des Gerichtswesens auf richterliche Normen und Praxis blieben gering. Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens ist das Bekenntnis der politischen Elite zum Rechtsstaat bestenfalls oberflächlich und schlimmstenfalls vorgetäuscht. Zweitens besteht in der Richterschaft selbst nur eine schwache Lobby, die dafür eintritt, Reformen voranzutreiben, diese ernst zu nehmen und umzusetzen. (…)
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS