Ein »Staat im Smartphone«? E-Governance und digitaler Wandel im öffentlichen Sektor der Ukraine – Chance oder Wunschtraum?

Von Frank Paul (Unterstützungsgruppe für die Ukraine bei der Europäischen Kommission, Brüssel)

Zusammenfassung
Präsident Wolodymyr Selenskyj sieht sein Land bald als »Staat im Smartphone«, das im Bereich der E-Governance nicht nur in Osteuropa eine Vorreiterrolle übernimmt. Die Interaktion mit dem Bürger soll dabei im Vordergrund stehen. Damit Selenskyjs Vision Wirklichkeit werden kann, wird trotz einer durchaus eindrucksvollen Bilanz bisheriger Maßnahmen im öffentlichen Sektor noch viel aufzuholen sein und müssen erhebliche systemimmanente und partikularinteressengesteuerte Widerstände überwunden werden. Bei politischem Gleichklang mit der in Kürze zu wählenden Regierung und der weiteren Verwurzelung seiner Vision in der dynamischen IT-Szene des Landes bestehen aber gute Chance, dass Präsident Selenskyj seine Vorstellungen verwirklichen kann. Die EU bietet wie bei allen Reformbestrebungen dabei im Rahmen des Assoziierungsabkommens ihre tatkräftige Hilfe an.

Einleitung

Wer den überraschenden Auftritt und die Rede des neuen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auf dem iForum 2019, der Zusammenkunft der ukrainischen IT-Elite Ende Mai, verfolgt hat, wähnt sich an der Schwelle zu einer neuen Ära. Die ganze Ukraine im Smartphone, so in etwa lautet die Vision, die Selenskyj schon in seinem Wahlprogramm vorstellte. Selenskyj, dessen Vater Professor für Computerwissenschaften war, ist eindeutig technikaffin. Seine effektive und clever durchgeführte Wahlkampagne stützte sich weitgehend auf soziale Medien und verwandelte geschickt vage "Follower" in aktive Unterstützer. Selenskyjs Konkurrenz im Wahlkampf sah dagegen auch im übertragenen Sinne alt aus. In Selenskyjs Vorstellung wird die Verwendung moderner Techniken alle Bereiche des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat durchdringen. Mit Verweis auf den aktuellen Bericht der Vereinten Nationen zum (weltweiten) E-Government bedauert er, dass die Ukraine im Vergleich mit den baltischen Staaten, Georgien, Kasachstan und Russland abfällt. Langfristig ist seine Ambition, die Ukraine im Bereich E-Governance zur weltweiten Nr. 1 zu machen (der Begriff E-Governance ist weiter gefasst als E-Government, wird aber in der Praxis oft synonym verwendet). Hindernisse auf diesem Weg sieht er dabei nicht bei den Bürgern, sondern im "System". Auf vier Ebenen soll der Bürger zukünftig elektronisch agieren können:

  • Informative Ebene: Information über staatliche Strukturen und ihre Tätigkeiten
  • Kommunikative Ebene: Kommunikation mit allen staatlichen Strukturen
  • Transaktionelle Ebene: Transaktionen mit dem Staat
  • Partizipative Ebene: Einbindung in die staatliche Entscheidungsfindung

Selenskyj stellt sich dabei sogar eine Zukunft vor, in der jeder Bürger jederzeit Gesetzesentwürfe einsehen und Änderungsvorschläge per Handy einbringen kann. Die aktive Vereinnahmung sozialer Medien und die positive Haltung zu moderner Technologie haben sicherlich viel dazu beigetragen, dass Selenskyj als Präsidentschaftskandidat bei jungen Leuten glaubhaft "rüberkam". Aber wie realistisch sind seine Vorstellungen in der harten Wirklichkeit?

Großer Nachholbedarf vor allem in öffentlichen Sektor

Wer die Ukraine kurz nach der Revolution der Würde besuchte, erinnert sich an ein Land ohne 3G-Mobilfunknetz, in dem Kreditkarten nur ungern und selten akzeptiert wurden, E-Commerce so gut wie nicht existierte und kontaktlose Kartenzahlung oder Bezahlung per Smartphone praktisch unbekannt waren. Elektronischer Austausch mit und unter Behörden fand ebenfalls nicht statt – viele Beamte hatten keine funktionierende E-Mail-Adresse und behalfen sich im amtlichen Verkehr mit privaten E-Mail-Adressen über russische (!) oder amerikanische Anbieter. Datensicherheit war ein Fremdwort.

Heute staunt auch der oberflächliche Betrachter, welcher Fortschritt in nur fünf Jahren erzielt wurde: ein auch in der Provinz stabiles 4G-Mobilfunknetz und selbst in Fernzügen der staatlichen Eisenbahnen ein leistungsfähiges W-LAN, kontaktloses Bezahlen per Karte oder Smartphone auch an Straßenkiosken oder für den Direktzugang zur U-Bahn, funktionierende E-Mail-Adressen in allen Ämtern und mehr und mehr private oder staatliche Dienstleistungen, die online angeboten werden. In den Großstädten benutzt kaum jemand mehr ein klassisches Taxi – in Kiew konkurrieren gleich drei Fahrdienste, die hauptsächlich per Smartphone funktionieren, konkurrenzlos billig und schnell sind und ausdifferenziert jeden Transportbedarf abdecken.

Heißt das, dass die Ukraine plötzlich Speerspitze des digitalen Fortschritts geworden ist? Haben es die IT- und Telekommunikationsbranche, die neben dem Agrarsektor nach Ansicht vieler Beobachter zu den vielversprechendsten Wirtschaftszweigen der Ukraine zählen, quasi nebenbei und mit wenig staatlichem Zutun geschafft, das Land in einen digitalen Hoffnungsträger Europas zu verwandeln?

Die Antwort ist wie so oft in der Ukraine nicht eindeutig: der IT-Sektor boomt zwar, die Toptalente gehen aber ins besser zahlende Ausland. Viele (meist ausländisch finanzierte) ukrainische Start-up-Gründer lassen zwar in der Ukraine entwickeln, suchen ihr Marktpotenzial aber zunächst auf stärkeren Märkten. IT-Spezialisten arbeiten oft scheinselbständig als verlängerte Softwareentwicklungsabteilung gut zahlender, ausländischer Auftraggeber. Auch Service- und Callcenter werden zusehends aus anderen Niedriglohnländern in die (noch) billigere Ukraine verlagert und bieten ein eher geringes Wertschöpfungspotenzial. Der sichtbare digitale Wandel ist eher einem Übertragungseffekt privater Initiativen als einem planmäßigen Ansatz zu verdanken. Der öffentliche Sektor ist in der Ukraine (und nicht nur dort) noch meilenweit entfernt von Verhältnissen wie in Estland, wo außer zur Passbeantragung und Heirat/Scheidung ein persönliches Erscheinen "auf dem Amt" nicht mehr erforderlich ist und wo in Kürze ein Immobilienkauf (einschließlich Grundbucheintrag, notarieller Beurkundung etc.) bequem aus dem Lehnstuhl innerhalb eines Werktages über die Bühne gehen kann. Es fehlt noch an vielen Grundvoraussetzungen, die in der Ukraine einen derartig umfassenden digitalen Wandel nachhaltig ermöglichen könnten.

Ein Blick hinter die Kulissen lässt für den privaten Sektor Hoffnung keimen, bietet aber im öffentlichen Bereich trotz vieler Fortschritte vielfach ein eher deprimierendes Bild. Zum einen wurde dort die Modernisierung der Infrastruktur jahrelang sträflich vernachlässigt, sei es aus Geld- oder Personalmangel oder aus anderen, mit geschäftlichen Partikularinteressen zusammenhängenden Gründen. In vielen Ministerien und Behörden sind die Grundvoraussetzungen für nachhaltiges digitales Arbeiten nicht gegeben. Veraltete Hardware, nicht (mehr) lizensierte oder vom Hersteller nicht mehr unterstützte Software sowie mangelhafte Vorkehrungen für den Notfallbetrieb sind häufig anzutreffende Probleme, die es verhindern, neue Dienste einzurichten oder digitale Verbesserungen überhaupt einzuführen.

Eine zweifelhafte Rolle spielen auch staatliche Unternehmen, die zwar rechtlich unabhängig sind, aber symbiotisch den Ministerien und Behörden angegliedert sind. Diese Unternehmen sollen sich um die Definition und Beschaffung der IT-Lösungen kümmern und haben in der Regel ein engmaschiges Netz an persönlichen Beziehungen in die Ministerien geknüpft, die das Risiko von Vorteilsnahme, illegalen Rückvergütungen ("kick-backs") und anderen Spielarten der Korruption potenzieren. Präsident Selenskyjs Annahme, dass die Hindernisse weniger bei den Bürgern, sondern eher im System liegen, dürfte sich also als richtig erweisen. Zum anderen hat sich, ähnlich wie in Deutschland, auch in ukrainischen Behörden erst spät die Erkenntnis durchgesetzt, dass "ohne IT nichts geht" und die IT-Abteilung nicht nur aus merkwürdigen und nachgeordneten Nerds besteht, die den Drucker einrichten, aber ansonsten bitte alles beim Alten lassen sollen, sondern richtig geleitet Produktivität und Bürgerfreundlichkeit potenzieren können. Mit anderen Worten: IT ist Chefsache geworden, aber es hat gedauert. Der Nachholbedarf ist deshalb riesig.

Rechtlicher Rahmen vs. praktische Umsetzung

Der rechtliche Rahmen für E-Governance in der Ukraine ist weitgehend in Kraft – schon seit Anfang der 2000er Jahre gibt es Gesetze zu Datenschutz und elektronischem Dokumentenmanagement. Aber erst seit der Revolution der Würde findet eine auch durch die Zivilgesellschaft beschleunigte Entwicklung statt, die zum Gesetz über Cybersicherheit und der Annahme zweier rechtlich verbindlicher "Konzepte" zu E-Governance und der Digitalen Wirtschaft führten. Im Großen und Ganzen entsprechen diese rechtlichen Grundlagen dem, was sich in ähnlichen Ländern etabliert hat. Eine Ausnahme bilden die sogenannten Basisdatenbanken (in der Ukraine oft etwas irreführend "staatliche Register" genannt), auf die noch zurückzukommen sein wird.

Es hapert aber nicht bei den rechtlichen Rahmenbedingungen, sondern bei der Umsetzung des Digitalen Wandels. Nach der letzten Weltbank-Untersuchung von Juni 2018 "fanden Bemühungen, E-Gov-Maßnahmen umzusetzen, nicht in der richtigen Abfolge statt und wurden auch nicht koordiniert". Dies erstaunt zunächst deshalb, weil es nach der Revolution der Würde viele Ideen und Initiativen der Zivilgesellschaft und einzelner Aktivisten gab, wie die Ukraine sich moderne IT zunutze machen könnte, um Reformen voranzutreiben. Manche dieser Ideen konnten zum Teil über Hackathons (einer Wortschöpfung aus dem englischen Wort "hack" und "Marathon", die eine kollaborative Softwareentwicklungsveranstaltung meint) kanalisiert und verwirklicht werden. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich die Prozorro-Plattform für elektronische Ausschreibungen, die dem ukrainischen Haushalt enorme, ansonsten in dunklen Kanälen versickernde Summen gespart hat (nach Angaben von Aktivisten ca. 2,4 Millionen Euro pro Tag). Auch die Ideen zu "Open Data" wurden kraftvoll vorangetrieben. Gleichwohl verpuffte mangels Koordinierung auf Seiten der staatlichen Stellen viel Energie. Innovative Ideen wie z. B. die eines einheitlichen, offenen Regierungsportals, in die Freiwillige viel Zeit und Energie gesteckt haben, zerfaserten zunächst wegen unterschiedlicher Auffassungen über Zuständigkeiten und kostenfreien Zugang.

Lange gab es überhaupt keine ressortübergreifende Koordinierungs- und Implementierungszuständigkeit. Es ist der persönlichen Initiative des Ministerpräsidenten Wolodymyr Hrojsman zu verdanken, dass es seit Ende 2014 ein Amt für E-Governance gibt, das ressortübergreifend E-Governance-Maßnahmen koordiniert. Nach einigen Startproblemen (Budget, Besetzung der Führungsposten etc.) hat sich das Amt erfolgreich etabliert. Mit tatkräftiger Hilfe von EU- und US-Experten wurden zunächst die grundsätzlichen Probleme identifiziert, die der großflächigen Einführung von E-Governance im Wege stehen. Das Ergebnis bilden fünf große Zielsetzungen als Grundlagen für erfolgreiche E-Governance-Maßnahmen: 1) der gesetzliche Rahmen, 2) Interoperabilität, 3) elektronische Bürgerdienste und Basisdatenbanken, 4) Open Data und Transparenz, sowie 5) Kapazität und (Verbreitung) digitaler Grundfertigkeiten ("Digital Literacy") sowie Kommunikation.

Diese Grundlagen sollen nach dem Konzept der Regierung vom September 2017 für die Entwicklung von E-Governance in der Ukraine bis 2020 gelegt worden sein. Unbestritten gibt es in jedem dieser Bereiche erhebliche Fortschritte. Es dürfte aber unrealistisch sein, bis 2020 alle Ziele zu erreichen. Was den rechtlichen Rahmen betrifft, wartet ein Gesetzesentwurf über Basisdatenbanken, der in einigen Bereichen einen Datenaustausch erst ermöglicht, bereits seit längerer Zeit auf seine Annahme. In der Ukraine gibt es knapp 300 Basisdatenbanken, die in unterschiedlichen Behörden und Bereichen Daten bereithalten, miteinander aber oft nicht in Verbindung stehen und deshalb keinen Datenabgleich ermöglichen. Dies ist einer der Gründe dafür, dass es kein stringentes Meldewesen gibt oder die Eigentumsverhältnisse an Grundstücken und Gebäuden nicht vollständig und zweifelsfrei erfasst werden können. Letzteres wiederum hat negative Auswirkungen auf die (völlig unzureichende) Praxis der Überprüfungen der elektronischen Erklärungen ("E-Declarations"), in denen jährlich mehr als eine Million Staatsbedienstete Angaben über ihre Vermögensverhältnisse machen müssen. Dadurch kann ein wichtiges Werkzeug zur Korruptionsbekämpfung nicht effektiv zum Einsatz kommen. Ein automatisierter Datenaustausch würde es auch erlauben, den "once only"-Grundsatz zu verwirklichen, demzufolge persönliche Daten nur einmal erhoben und nicht bei jeder erneuten Antragstellung mühsam erneut angegeben werden müssen. Viele Beobachter jedoch sind skeptisch, ob es wegen der Vielzahl der Partikularinteressen, die an die Verwendung dieser Basisdatenbanken geknüpft sind, in absehbarer Zeit möglich sein wird, den Gesetzesentwurf durch die Werchowna Rada zu bringen und die Situation der Basisdatenbanken zu verbessern.

Immerhin, und damit kommen wir zur zweiten der fünf großen Zielsetzungen, wurde im Bereich Interoperabilität durch die erfolgreiche Einführung von Trembita ein Zeichen gesetzt. Trembita baut auf einem estnischen Vorbild auf und ist ein standardisiertes Gesamtsystem aus technischen Abläufen und Vorgaben. Es ermöglicht einen automatisierten und manipulationsgeschützten, dezentralen Datenaustausch über das Internet. Am 22. Mai 2019 wurden erstmals Daten zwischen dezentralisierten Datenbanken im Bereich des Gesundheitswesens über Trembita ausgetauscht. Mit finanzieller Unterstützung der EU sollen innerhalb des nächsten Jahres alle Ministerien und Behörden die Möglichkeit erhalten, Trembita in der Praxis anwenden zu können. In einer Querverknüpfung zur parallel laufenden Reform des öffentlichen Dienstes ist die Einführung von Trembita sogar ein Leistungsindikator ("key performance indicator") für alle Staatssekretäre geworden. Entscheidend dürfte allerdings sein, ob es in allen Bereichen gelingt, die immensen Vorteile, die (das kostengünstige) Trembita bringen kann, durch konkrete Anwendungen umzusetzen – ansonsten wird Trembita ein Hammer ohne Nagel bleiben.

Weiterhin gilt es, die Kapazitätsprobleme zu lösen. Dies betrifft zunächst den Bau von leistungsfähigen Datenzentren, die erhebliche Finanzmittel binden und bei denen im Augenblick noch keine Tendenz zur kostensparenden Zusammenlegung zu erkennen ist. Nach wie vor will jede Institution ein eigenes Datenzentrum haben, auch wenn es immerhin wie im Innenministerium Bestrebungen gibt, wenigstens die Datenzentren der einem Ministerium unterstellten Behörden zusammenzulegen, um Synergieffekte zu nutzen. Neben der Frage der benötigten finanziellen Mittel ist insbesondere die personelle Ausstattung der IT-Abteilungen ein Problem. Der IT-Sektor boomt und Gehälter im öffentlichen Dienst sind trotz jüngerer Gehaltsanhebungen nicht konkurrenzfähig mit der Privatwirtschaft, in der erfahrene IT-Projektmanager ohne Probleme mindestens 4.000 Euro pro Monat fordern und erhalten können. Von einem CDO (Chief Digital Officer) in jedem Ministerium kann deshalb im Augenblick nur geträumt werden.

Die Lösung der aufgezählten Probleme im Bereich der IT-Infrastruktur wird wesentlich dafür sein, ob es tatsächlich gelingen wird, den "Staat im Smartphone" zu verwirklichen. Elektronische Bürgerdienste bleiben nämlich ein Potemkinsches Dorf, wenn das sogenannte "back end" nicht funktioniert, sprich die im Hintergrund ablaufenden Verfahrensprozesse. Mit anderen Worten: eine intuitive App mit schicker Benutzeroberfläche oder eine attraktiv gestaltete Website sind schnell entwickelt, nutzen aber beide wenig, wenn die Abläufe im Hintergrund nicht automatisiert sind und verschlankt werden. Mit Unterstützung der EU werden deshalb im Rahmen der Dezentralisierungsreform Dienste bei sogenannten "one-stop"-Schaltern gebündelt, bei denen Dienstleistungen bürgerfreundlich bei nur einer Stelle beantragt werden können. Ein weiteres Beispiel ist das ebenfalls EU-geförderte Projekt "yeMaliatko" ("E-Baby"), bei dem zukünftig alle Amtsgänge, die bei einer Geburt typischerweise anfallen, bereits im Krankenhaus und innerhalb einer halben Stunde erledigt werden können.

Auch hier besteht das Problem vorrangig darin, Hintergrundprozesse zeitnah erledigen zu können. Trotz dieser Probleme hat es das Amt für E-Governance geschafft, die Digitalisierung vieler elektronischer Bürgerdienste zu koordinieren. Die Zahl von 125 Bürgerdiensten, die bereits digitalisiert sind (Ende 2018), kann sich durchaus sehen lassen, zumal sich diese Zahl im Vergleich zu 2017 verdreifacht hat. Die beliebtesten Dienste sind dabei Grundbuchauszüge, Führungszeugnisse sowie die Beantragung von Wohngeld.

Projekte wie E-Baby sind in der Bevölkerung beliebt, weil sie bürgernah sind und den praktischen Nutzen der Reformen sichtbar machen. Gleichwohl stoßen sie dann an ihre Grenzen, wenn die technischen Grundlagen nicht vorhanden sind. Ein Problem ist hierbei insbesondere die elektronische Identifikation: Ohne diese ist es nicht möglich, bestimmte elektronische Bürgerdienste per Internet beantragen zu können oder per elektronischer Signatur zu zeichnen. Das Amt für E-Governance arbeitet seit geraumer Zeit an einer Lösung, stößt aber durch das lückenhafte Meldewesen und den mangelnden Datenabgleich zwischen Behörden und Basisdatenbanken schnell an Grenzen. Im Augenblick erhalten alle Ukrainer bei Geburt und dann, wenn sie sich einen Reisepass ausstellen lassen, eine einheitliche Identifikationsnummer, die funktional etwa der amerikanischen "Social Security Number" entspricht. Diese bislang an ca. 13,5 Millionen Personen ausgegebene Nummer soll jede Bürgerin und jeden Bürger ein Leben lang begleiten und Grundlage für die elektronische Signatur sein. Nach der gegenwärtigen Anzahl der monatlich ausgestellten Reisedokumente dürfte es allerdings noch Jahre dauern, bis alle Bürgerinnen und Bürger ihre Identifikationsnummer erhalten haben. Es gibt deshalb Bestrebungen, den Vorgang zu beschleunigen und ein zentrales, biometriegestütztes Bevölkerungsregister einzuführen.

Staat im Smartphone – Wunschtraum oder bald schon Wirklichkeit?

Ob Präsident Selenskyjs Vision Realität werden wird, hängt zunächst im Wesentlichen von einem ganz untechnischen Faktor ab: für die Umsetzung vieler Maßnahmen, die dazu erforderlich wären, ist laut Verfassung nicht der Präsident zuständig, sondern die Regierung. Wesentliche Voraussetzung wird also sein, dass eine Regierung ins Amt kommt, die im Bereich der E-Governance identische oder zumindest stark ähnliche Ziele wie der Präsident verfolgt. Ansonsten bliebe Präsident Selenskyj nur die Möglichkeit, seine Vision öffentlichkeitswirksam zu kommunizieren, um so den Druck auf die Regierung zu erhöhen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

Zudem wird es ganz wesentlich sein, ob Präsident Selenskyj auch bereit ist, "dicke Bretter zu bohren" und im grundlegenden Bereich der Basisdatenbanken und des Datenabgleichs partikularinteressengesteuerte Widerstände – auch und gerade im Parlament – aus dem Weg zu räumen. Auch dies dürfte nur dann möglich sein, wenn die Vision des Präsidenten auch hinreichend in der breiteren Öffentlichkeit verankert sein und durch die Regierung unterstützt werden wird. Der Weg in die Öffentlichkeit, und das weiß Präsident Selenskyj spätestens seit seiner erfolgreichen Wahlkampagne in den sozialen Medien, führt dabei auch über unkonventionelle Kommunikation und partizipative Modelle neuer Prägung. Jedenfalls dürfte auszuschließen sein, dass sich der Präsident in diesem Politikbereich von jugendlichen Aktivisten treiben lassen wird – im Gegenteil, er sieht und stellt sich selbst an die Spitze der Bewegung. Mit dem Ende Mai online gestellten Projekt "LIFT" des Präsidenten, bei dem jeder Ukrainer per Internet seine innovativen Projekte und Vorschläge für Dienstleistungen, "die das Leben der Bürger verbessern", einbringen kann, wurde dies erneut unter Beweis gestellt.

Wenn zudem eine wie angekündigt zügige und großflächige Einführung des schnellen Mobilfunkstandards 5G ermöglicht wird, sind die Voraussetzungen gegeben, dass die Ukraine auf der guten Grundlage, die in den letzten Jahren bereits geschaffen wurde, tatsächlich eine Vorreiterstellung einnehmen kann. Entscheidend sind dabei neben den technischen Voraussetzungen ein nachhaltiger politischer Führungswille, eine breite Verankerung in der innovativen und dynamischen IT-Szene des Landes, eine intensiver als bisher geführte gesellschaftliche Diskussion über Datenschutz und eine Infrastruktur, bei der vielfach nicht auf vorhandene Strukturen Rücksicht genommen werden muss, weil diese gar nicht vorhanden sind – eine der Grundvoraussetzungen für einen großen technologischen Sprung ("technology frog-leap").

Einer der positiven – und im ukrainischen Kontext vielleicht sogar wesentlichen – Nebeneffekte wäre die erhöhte Transparenz staatlicher Dienstleistungen und damit einhergehend eine verringerte Korruptionsgefahr, was sich neben spürbaren Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger des Landes auch in einem verbesserten Investitionsklima niederschlagen könnte. Allein schon aus diesem Grund verdienen die Bemühungen des Präsidenten und des Landes, eine führende Rolle im Bereich der E-Governance einnehmen zu wollen, die volle Unterstützung durch die internationalen Partner der Ukraine. Das Assoziierungsabkommen mit der EU bildet dabei den Rahmen für die weitere Unterstützung, die die EU in den nächsten Jahren in diesem Bereich zukommen lassen wird, um der Ukraine zu helfen, seine ehrgeizigen Reformpläne auch im Bereich des digitalen Wandels verwirklichen zu können.

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