Ukrainische "Lustration"

Von Andreas Stein (Kiew)

Zusammenfassung
Bis zu einer Million Bedienstete des ukrainischen Staats könnte bald gekündigt werden. Hintergrund ist ein im September verabschiedetes »Säuberungsgesetz«. Bürgerrechtler/innen warnen, aber die Mehrheit der Ukrainer/innen steht dahinter.

Einleitung

Kurz vor den vorgezogenen Parlamentswahlen am 26. Oktober hat die neue Macht in Kiew einer weiteren Forderung der Winterproteste formal nachgegeben. Im dritten Anlauf wurde mit einer knappen Mehrheit von 231 Stimmen am 16. September das Gesetz »Über die Säuberung des Regierungsapparates« verabschiedet. Nach der Unterzeichnung des allgemein nur »Lustration« (Reinigung/Säuberung) genannten Gesetzes durch Präsident Petro Poroschenko ist es einen Monat später am 16. Oktober in Kraft getreten. Bei vollständiger Umsetzung könnten damit Schätzungen zufolge bis zu eine Million Staatsangestellte ihren Job verlieren. Weiterer Sprengstoff für den ohnehin nur mühsam aufrechterhaltenen Frieden in der Gesellschaft. Die gesetzeswidrige Verabschiedung und der offensichtlich verfassungswidrige Inhalt des Gesetzes zeugen zudem zum wiederholten Male davon, dass auch die neuen Machthaber für den Machterhalt gewillt sind, sich über jegliche Regeln hinwegzusetzen. Auch nach den Opfern des Maidans und des Krieges im Osten hat somit kein generelles Umdenken in der politischen Klasse der Ukraine stattgefunden. Es bleibt zu hoffen, dass Venedig-Kommission und Verfassungsgericht eine generelle Überarbeitung des Gesetzes empfehlen beziehungsweise anordnen werden.

Die Forderung nach einer sogenannten Lustration des ukrainischen Regierungsapparates ist allerdings so alt wie die Unabhängigkeit des Landes. Anfänglich zielte das Vorhaben der Dissidentenbewegung auf eine Entsowjetisierung des Staatsapparates ab. Ähnlich wie auf dem Gebiet der ehemaligen DDR und anderen Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes sollten vor allem Angehörige des sowjetischen Geheimdienstes KGB, Spitzel, (führende) Mitglieder der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Jugendorganisation Komsomol aus dem Staatsdienst entfernt werden, damit diese die Entwicklung des unabhängigen Landes nicht sabotieren. Inzwischen sind allerdings 23 Jahre vergangen und die zu Sowjetzeiten bereits aktiven Mitglieder im Rentenalter oder, wie die Komsomolgeneration von Turtschynow & Co., nicht mehr weit weg davon.

Die Regierung ist selbst verstrickt

Hauptstoßrichtung des Gesetzes ist daher die Regierungszeit von Wiktor Janukowitsch vom 25. Februar 2010 bis zum 22. Februar 2014. Diese wird mit einem Federstrich zu einer Zeit des generellen Verbrechens erklärt, und demzufolge seien alle Staatsangestellten auf der oberen Ebene und in Leitungspositionen an einem Verbrechen beteiligt gewesen und zu entfernen. Dass Unterschlagung, Bestechlichkeit, Erpressung, Überschreitung der Amtsvollmachten und Mord zu Zeiten der Regierung von Janukowitsch ebenfalls strafbar waren und geahndet werden konnten, wird dabei (bewusst) ignoriert. Der Fortschritt der Ermittlungen um die Vorgänge während des Maidans aber auch während der Regierungszeit Wiktor Janukowitschs zeugt davon, dass sich die jetzige Regierungsmannschaft nicht allzu detailliert damit auseinandersetzen möchte, da die eigene Verstrickung zu offensichtlich ist.Aus der im Artikel 62 der Verfassung verankerten Unschuldsvermutung wird per Gesetz die Schuldzuweisung ohne Recht auf Verteidigung vor Gericht. Zu erwarten sind Tausende Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg mit einem massiven Reputationsverlust und hohen Kosten für den ukrainischen Staat.

Einer »Lustration« unterliegen demnach gemäß Artikel 3 insbesondere Staatsangestellte, die in dieser Zeit in der Summe länger als ein Jahr in einer leitenden Position tätig waren. Das betrifft Regierungsmitglieder, Angehörige der Staatsanwaltschaft und der Sicherheitsorgane, des Zolls und der Steuer, schließt aber auch Leiter von Kreisverwaltungen und von Staatsunternehmen ein, die »administrative Dienstleistungen« gewähren. Gekündigt werden kann zudem Angehörigen dieses Personenkreises, die in der Zeit des Euromaidans vom 21. November 2013 bis 22. Februar 2014 nicht gekündigt haben. Ihre Schuld besteht also einzig darin, dass sie weiter ihrer Arbeit nachgegangen sind und nicht, dass sie gegen Gesetze verstoßen haben. Ausgenommen von der »Lustration« sind jedoch alle Posten, die durch Wahl bestimmt werden. Somit sind alle Abgeordneten auf allen Ebenen, aber auch Präsident Petro Poroschenko, Parlamentspräsident Oleksander Turtschynow oder Bürgermeister Witalij Klitschko aufgrund ihrer Komsomolvergangenheit nicht gefährdet , wegen Mitarbeit in Regierungsorganen während der Janukowitsch-Zeit oder gar wegen falscher Angaben über Vermögens- und Einkommensverhältnisse »lustriert« zu werden.

Drohungen des Parlamentspräsidenten

Wer glaubt, dass mit dem Ende der Janukowitsch-Administration und der Wiedereinsetzung der Verfassung von 2004 Demokratie und Parlamentarismus gestärkt würden, ist mit diesem Gesetz zum wiederholten Male eines Besseren belehrt wurden. Die Abgeordneten wurden gezwungen, blind über ein Gesetz abzustimmen, Änderungsanträge wurden ein weiteres Mal ungeprüft ignoriert. Parlamentspräsident Oleksander Turtschynow drohte offen mit der öffentlichen Anprangerung von Abgeordneten, welche die Zustimmung zum Gesetz verweigern. Gleichzeitig wurde für die Verabschiedung des Gesetzes auf das schon vor Wiktor Janukowitsch eingeführte Mittel der Abstimmung für abwesende Kollegen zurückgegriffen.

Turtschynows Drohung ist dabei vor dem Hintergrund zu sehen, dass angesichts der ausbleibenden Reformen und Änderungen nach dem Maidan und der ausufernden Korruption der gesellschaftliche Wille zur Veränderung kanalisiert werden musste. Offenbar dienen Aktionen der Selbstjustiz in Form der sogenannten Müll-Lustration als Blitzableiter, und das »Lustrationsgesetz« stellt den vorläufigen Höhepunkt der Inszenierung dar. Es soll kurz vor den Wahlen Ausdruck und Triumph des »überbordenden Willens« des ukrainischen Volkes nach einer Reinigung der oberen Regierungsorgane sein und den Sieg des Maidans repräsentieren. Umfragen, die zu einem Ergebnis von mehr als 60 Prozent Zustimmung zu diesem Gesetz (oder vielmehr zu einer »Lustration«) kommen, scheinen dies zu untermauern (s. Grafik 1 auf S. 20).

»Müll-Lustrationen«

Fernsehwirksam wurde daher am 6. September in Odessa von Aktivisten des Rechten Sektors erstmalig ein Staatsbediensteter, welcher der Unterschlagung von Mitteln verdächtigt wurde, in einen Müllcontainer geworfen. Weitere derartige Aktionen folgten landesweit. Gleichzeitig stieg auch der Grad der Gewalttätigkeit an. Mit Nestor Schufritsch wurde ebenfalls in Odessa am 30. September ein prominentes Mitglied der ehemals regierenden Partei der Regionen schwer verprügelt, nachdem er sich nicht in eine bereitstehende Mülltonne befördern ließ. Borys Filatow, der Stellvertreter des umstrittenen Dnipropetrowsker Gouverneurs Ihor Kolomojskij, warnte dabei bereits vor anstehenden politischen Morden, mit denen zu rechnen sei, wenn es keine wirkliche »Lustration« gibt. Diese wurden auch von einem Titelbild der Wochenzeitschrift »Ukrainskij tyzhden« am 4. September vorweggenommen, das Stricke mit Schlingen an einem Lüster als Symbol für anstehende Erhängungen und die Unterschrift »Soll es doch eine Lustration geben!« zeigte. Es musste also eine Lösung her.

Vernichtend ist die Kritik an dem Gesetz vonseiten von Bürgerrechtlern. In einem Beitrag für die einflussreiche Internetzeitung »Ukrajinska Prawda« konstatiert Jewhen Sacharow von der Charkower Menschenrechtsgruppe: »In der Ukraine wird das Recht des Stärkeren zur Hauptsache, und die Stärke des Rechts ist auf den Nullpunkt gesunken«. Gleichzeitig bezeichnet er die Welle der »Müll-Lustration« als »faschistische Handlung«. Der ehemalige sowjetische Dissident Semjon Glusman konstatiert enttäuscht: »Das Lustrationsgesetz, das die Werchowna Rada unter dem Druck der Straße verabschiedet hat, ist kein Rechtsdokument. Es widerspricht sogar dem Recht.«.

Die »Lustration« wird dabei faktisch vom Justizministerium vorgenommen. Unterliegt also der politischen Konjunktur und nicht einem unabhängigen gesellschaftlichen Organ. Öffentlich einsehbar wird ein Register sein, in dem Beginn der Überprüfung, der Stand und das Ergebnis verzeichnet werden. Sacharow kritisiert hier zurecht, dass im Hinblick auf den Datenschutz die Erfahrungen der ehemaligen Sowjetrepubliken des Baltikums ignoriert wurden. Dort konnten von der »Lustration« Betroffene freiwillig kündigen, ohne dass die Öffentlichkeit von ihrer KGB-Vergangenheit erfuhr. Lediglich über Staatsangestellte, die ihre KGB-Verstrickung zu verheimlichen suchten, wurde die Öffentlichkeit informiert. Erpressung wird damit Tür und Tor geöffnet.

Angesichts der ukrainischen Realien ist auch zu erwarten, dass massiv von dem in Punkt 7, Artikel 1 eingeräumten Schlupfloch der Beteiligung an Kampfhandlungen bei der sogenannten Anti-Terror-Operation in den Oblasten Luhansk und Donezk Gebrauch gemacht werden wird. Im Zweifelsfall wird ein entsprechender Nachweis für regierungstreue Staatsangestellte ausgestellt oder an sie verkauft werden. Gebrauch machen könnte davon beispielsweise der ehemalige KGB-Agent Walentin Naliwajtschenko, der erneut dem Geheimdienst vorsteht. Als »letzter ukrainischer Hörer« des KGB-Instituts für Auslandsspionage in Moskau fällt er bei erfolgtem Abschluss unter Punkt 3, Abschnitt 4, Artikel 3 des Gesetzes und müsste sofort mit einem zehnjährigen Einstellungsverbot entlassen werden. Ebenso unter »Lustration« und ein zehnjähriges Staatsanstellungsverbot fallen würde gemäß Abschnitt 8, Artikel 3 ein Großteil der neu ins Amt gekommenen Regierungsvertreter, die alle in ihren Einkommens- und Vermögensdeklarationen Unstimmigkeiten in Bezug auf ihre wahren Lebensverhältnisse haben, wie die Skandale um Generalstaatsanwalt Witalij Jarema und seinen Stellvertreter Anatolij Danylenko zeigen. Im Hinblick auf die bisher ausgebliebene Justizreform und die weiter übliche selektive Anwendung von Gesetzen ist damit nicht zu rechnen. Erwartbar ist daher, dass weiterhin der Wahlspruch gilt: »Für meine Freunde: alles! Für meine Feinde: das Gesetz!« (Getúlio Vargas).

Bis zu eine Million Staatsdiener/innen betroffen

Sacharows Angaben nach werden bei genauer Umsetzung des Gesetzes 500.000 Menschen aus führenden Positionen im Staatsdienst entfernt. Anderen Schätzungen zufolge könnten bis zu eine Million Staatsdiener/-innen betroffen sein. Wie dieses Personal durch besser ausgebildete und fähigere Leute ersetzt werden soll, darauf hat die scheidende Regierung von Arsenij Jazenjuk bisher keine Antwort gegeben. Eine nach dem Maidan entstandene Initiative, über die ukrainische Absolventen ausländischer Hochschulen ihre Dienste der Regierung anboten, wurde offenbar weitestgehend ignoriert. Zudem schafft sich die neue Regierungsmacht durch die große Zahl der Entlassenen, die sich ungerecht behandelt fühlen, neue Gegner. Das könnte sich angesichts der ohnehin bereits vorhandenen Unzufriedenheit als fataler politischer Fehler herausstellen.

In Anbetracht der Erwartungen, die hinsichtlich der Ergebnisse dieser »Lustration« geweckt wurden, kann jede nach dem 26. Oktober ins Amt gelangte Regierung auch kaum hinter dieses Gesetz zurück. Selbst wenn es zu der großen Zahl an Entlassungen kommt, wird das Korruptionsniveau kaum sinken. Im Gegenteil dürfte sich die Qualität der staatlichen Dienstleistungen noch weiter verschlechtern und – auch wenn nur schwer vorstellbar – das Korruptionsniveau noch weiter erhöhen. Niemand garantiert den neuen Staatsangestellten, dass sie nach dem nächsten Machtwechsel nicht auch zu »Verbrechern« erklärt werden. Daher gilt es für sie, schnell ihre Rente aus dem Angestelltenverhältnis einzustreichen. Denn bisher ist die Postenvergabe weiterhin nicht nur eine Frage von Beziehungen, sondern auch von einem konkreten Preis. Die von Präsident Poroschenko in Aussicht gestellten Korrekturen nach einer Bewertung durch die Venedig-Kommission oder das Verfassungsgericht dürften vor allem von nationalistischen Kräften als Verrat interpretiert werden und den Druck von dieser Seite wieder erhöhen. Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes könnten sich die Post-Maidan-Kräfte in eine Sackgasse manövriert haben, die sie politisch eventuell nicht überleben.

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