Die Ukraine als europäische Wohlstandsoase – Wasyl Holoborodkos Vision hat überzeugt

Von Miriam Kosmehl (Bertelsmann Stiftung, Berlin)

Deutlich mehr als zwei Drittel der Wähler trauen Wolodymyr Selenskyj zu, dass er die Ukraine – wie die Serienfigur Holoborodko in Selenskyjs TV-Produktion »Diener des Volkes« – auf dem Weg zu einem modernen Staat entscheidend voranbringt. Die Ukrainer wählten damit zum dritten Mal seit der Unabhängigkeit einen Amtsinhaber ab. Der kompetitive Wahlkampf sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wirklicher Pluralismus noch nicht existiert. Fünf Jahre nach der Zäsur des Euromaidan konnten die Ukrainer bei den Präsidentschaftswahlen kaum zwischen »alten« und »neuen« Politikern wählen. Dabei zeigen Umfragen schon lange, dass die Bürger der Ukraine neue Repräsentanten wollen. Letztere sind auf nationaler Ebene aber noch selten oder haben keine Macht. Reichweitenstarke TV-Kanäle von Oligarchen und ein Wahlrecht, das Millionensummen und Politik intransparent miteinander verflicht, versperren den Weg zu Bekanntheit und Ämtern.

Revolution an der Wahlurne

Selenskyj hatte, was Neupolitiker sonst kaum haben: Zugang zu den Medien. Über das Fernsehen erreichte er Wähler im ganzen Land. Und als erfolgreicher TV-Produzent mit eigenem Vermögen konnte er mit einer professionellen Kampagne auf YouTube und Instagram auch junge Leute zur Stimmabgabe motivieren. Er brach so aus dem Stand alte Abstimmungsmuster: mit Ausnahme von Lwiw gewann er in allen Regionen.

Das lag auch daran, dass der kurz »Se« genannte Politneuling sich gegen »unaufgeklärten« Patriotismus wandte. Damit hatten einige die weitere Konfrontationslinie »Sicherheit gegen Freiheit« (Angelina Karjakina, siehe https://www.eurozine.com/security-over-liberty/) eröffnet. Das Ziel: eigenes Fehlverhalten rechtfertigen. Das Narrativ: Die Regierung müsse von allen unterstützt werden, Kritik schwäche die Ukraine und spiele dem Kreml in die Hände. Letzteres stimmt leider, sollte aber kein Grund sein, Defizite zu verschweigen. Ukrainische Journalisten, die aus von Russland besetzten Gebieten berichteten und neben der russischen Aggression auch ukrainisches Fehlverhalten ansprachen, wurden als parteiisch oder gefährlich abgestempelt, kurz: als unpatriotisch. Diese Haltung gipfelte in Poroschenkos Wahlslogan »Armee, Sprache, Glaube«. Es ist das Verdienst der ukrainischen Bürger, dass sie diesem Betrug nicht aufgesessen sind.

Selenskyj hat es nicht geschadet, dass er die ukrainische Sprache und Kultur aufs Korn genommen hat. Das dürfte daran liegen, dass er auch sich selbst auf die Schippe nimmt: Als ein Politiker seinen Patriotismus in Frage stellte, drohte er damit, seine jüdische Mutter auf den Ankläger zu hetzen.

Hohe Erwartungen

Der Wunsch der großen Mehrheit ist euroatlantische Integration. Davon zeugt die Europafahne, die in der Ukraine häufig neben der Nationalflagge weht. Die EU gilt als Rettungsanker, mit dem Korruption und schlechter Regierungsführung begegnet werden soll. Diese beiden Probleme sehen die Ukrainer als größte Herausforderung neben dem Krieg.

Weder ein EU-Beitritt noch eine NATO-Mitgliedschaft sind in der kommenden Amtszeit realistisch. Das liegt auch an den Strukturen und am Zustand der EU. Die Unaufrichtigkeit mancher Politiker in der EU und der Ukraine belastet die Beziehungen, auch wenn Brüssel unterhalb der Beitrittsschwelle viel für die Ukraine tut. Reformen sind vor allem dort gelungen, wo die Interessen mächtiger Eliten nicht berührt wurden. Die Ausnahmen im Banken- und Energiesektor oder im Gesundheitsbereich zeigen aber, dass der Druck der ukrainischen Zivilgesellschaft und der internationalen Partner wirkt.

Das überzeugende Wahlergebnis ist ein schwieriges Mandat. Die Erwartungen der Wähler sind nicht nur hoch, sondern auch divers: Es gibt zum Beispiel große Unterschiede zwischen den Erwartungen der Wähler in Kiew und in ländlichen Gegenden oder auch zwischen den Erwartungen derjenigen, denen es wirtschaftlich gut geht, und denen, die kaum über die Runden kommen. Manche betonen, dass in der Ukraine zurzeit schwierigste Bedingungen herrschen und dass nachhaltige Reformen Zeit brauchen. Andere sind enttäuscht darüber, dass nach wie vor Partikularinteressen die Politik bestimmen, dass der wirtschaftliche Aufschwung ausbleibt, und darüber, dass Verantwortliche nicht für Fehlverhalten zur Rechenschaft gezogen werden.

Ausblick auf die Parlamentswahlen

Die erste Herausforderung für den neuen Präsidenten ist das Parlament. Das semipräsidentielle Regierungssystem der Ukraine erfordert in vielen Fällen sowohl die Zustimmung des Präsidenten als auch des Parlaments oder des Premierministers. Beispielsweise ernennt der Präsident die Gouverneure, die für die Regierungsführung in den Regionen eine wichtige Rolle spielen, aber der Premierminister muss zustimmen.

Nachdem sich die Wahlkommission mit der Verkündung des amtlichen Endergebnisses am 30. April sehr lange Zeit gelassen hat, muss die Werchowna Rada nun innerhalb von 30 Tagen das Datum der Vereidigung Selenskyjs bestimmen. Danach kann dieser seine Vertreter in die Präsidialadministration, den Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat, die Nationalbank und das Verfassungsgericht berufen und den Posten des Generalstabschefs besetzen. Den Verteidigungsminister, den Außenminister, den Chef des noch immer mächtigen Sicherheitsdienstes und den Generalstaatsanwalt kann er nominieren, aber diese Nominierungen erfordern die Bestätigung durch das Parlament.

Wenn die neue Rada gewählt ist, gilt es, eine Koalition zu bilden, die den Premierminister, der vom Präsidenten vorgeschlagen wird, mit einfacher Mehrheit bestätigt. Der aktuelle Premier Wolodymyr Hrojsman hat sich schon lange von Poroschenko distanziert. Wie andere einflussreiche Politiker wird er abwägen, ob er eine eigene Partei gründet oder sich auf andere Art und Weise vernetzt Einfluss verschafft.

Aktuelle Versuche, noch rasch Gesetze zu verabschieden, die die Kompetenzen des Präsidenten beschneiden, dürften für Selenskyj keine Gefahr darstellen. Denn immerhin ist das klare Wahlergebnis auch eine Botschaft an die Rada, deren Beliebtheit gering ist. Für Selenskyj ist es wichtig, sich bis zur Parlamentswahl respektabel zu halten und dann eigene Abgeordnete zu gewinnen, unabhängig davon, ob es bei der Parlamentswahl im Oktober bleibt oder ob die Wahl vorgezogen wird.

Gegenwärtig liegt Selenskyjs Partei, benannt nach seiner Serie »Diener des Volkes«, in Umfragen bei über 20 Prozent. Das entspricht etwa dem Wert, mit dem 2014 die Präsidentenpartei nach Verhältniswahlrecht (nach dem zurzeit die Hälfte der Abgeordneten gewählt wird) abschnitt. Zur stärksten Fraktion wurde die Partei nur, weil ihre Kandidaten in den Einzelwahlkreisen (über die zurzeit die zweite Hälfte der Abgeordneten per Mehrheitswahlrecht gewählt wird) überwiegend gewannen. Mit Geld und Einfluss Abgeordnete befördern – das kann nun auch Selenskyj. Das von Poroschenko 2014 versprochene neue Wahlrecht – ein reines Verhältniswahlrecht mit offenen Parteilisten, das den Wählern erlauben würde, gezielt Abgeordnete zu bestimmen – wurde nicht eingeführt. Reformpartner der Ukraine sollten hieraus lernen und den Neupräsidenten »Se« rechtzeitig vor der Parlamentswahl 2024 an eigene Versprechungen für ein neues Wahlrecht erinnern.

Der unberechenbare Präsident

Innenpolitisch wird »Se« am Kampf gegen die Korruption und am wirtschaftlichen Aufschwung gemessen werden. Das ist folgerichtig, denn an gesicherten Eigentumsrechten hängen Investitionen, ausländische wie inländische, die der Wirtschaft fehlen. Die Gretchenfrage ist, ob Selenskyj zuverlässig für das steht, was er verspricht: Transparenz, Fairness, Teilhabe an politischen Entscheidungen, das Aufbrechen von Monopolen sowie Rechtsstaatlichkeit und Justizreform. Seine Beziehungen zum berüchtigten Oligarchen Ihor Kolomojskyj lassen zumindest daran zweifeln, dass Selenskyj unabhängig ist. Den Aufbau seiner Partei jedenfalls hat er nicht demokratisch gestaltet, obwohl es für sein Team ein Leichtes gewesen wäre, 10.000 Unterschriften zu sammeln und so den in der Ukraine vorgegebenen Prozess der Parteigründung umzusetzen. Stattdessen bediente er sich einer alten Parteihülle (Partei des entscheidenden Wandels) und widmete diese um. Und was Selenskyjs Kommunikationsstrategie angeht, kann man festhalten: »Se« kommuniziert virtuell mit den Bürgern, die er über die sozialen Medien zum Mitmachen aufruft, bislang unverbindlich zu seinem eigenen Nutzen.

Im Kreml lacht keiner über Selenskyj

Für den Kreml ist Selenskyj, der in Russland als Schauspieler gut bekannt ist, eine Herausforderung. Russische Bürger verfolgen seine Auftritte in den sozialen Medien mit neidvollem Interesse. Noch am Wahlabend verkündete Selenskyj – für den Kreml ein Alptraum –: »Ich bin noch nicht Präsident, ich kann mich noch als Bürger an alle Länder der früheren UdSSR wenden und sagen: Alles ist möglich!«

Dass in der Ukraine ein Jude durch einen friedlichen Machtwechsel Präsident werden konnte, widerspricht dem Feindbild von der Faschistenhochburg und vom »failed state«. Und Putins Offensive, Ukrainern russische Pässe anzubieten, demaskierte Selenskjy als Einladung, sich in die russische Unfreiheit zu begeben.

Dass der Verteidigungsexperte Iwan Aparschyn nun zu Selenskyjs Team gehört, lässt auf die weitere Professionalisierung der ukrainischen Armee hoffen und auf mehr Transparenz im Verteidigungssektor, insbesondere im undurchsichtigen staatlichen Rüstungskonzern UkrOboronProm.

Ihre innenpolitischen Herausforderungen müssen die Ukrainer in erster Linie selbst bewältigen. Was den Krieg angeht, den Russland gegen die Ukraine führt, kann Europa mehr tun. Ein Anfang wäre damit gemacht, die zentrale Rolle Russlands als Kriegspartei klar zu benennen. Es ist perfide, wenn Putins Sprecher die Legitimität der Wahl anzweifelt, weil drei Millionen Ukrainer in von prorussischen Separatisten besetzten Gebieten nicht hätten abstimmen können.

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