Der Spaßmacher als Präsident

Von Gerhard Simon (Köln)

Petro Poroschenko gewann im Mai 2014 die Präsidentschaftswahl bereits im ersten Wahlgang, mit 54,7 Prozent der Stimmen. Ein zweiter Wahlgang war daher nicht erforderlich. Fünf Jahre später erhielt Poroschenko im ersten Wahlgang lediglich 15,9 Prozent der Stimmen und landete auf Platz zwei. Platz eins belegte der professionelle Showman und Politneuling Wolodymyr Selenskyj mit 30,2 Prozent der Stimmen; er gewann am 21. April auch die Stichwahl – mit 73,2 Prozent – gegen den Amtsinhaber Poroschenko, auf den nur 24,4 Prozent entfielen.

Diese Zahlen legen nahe, dass Poroschenko ein miserabler Präsident war und die Wähler ihn deshalb mit überwältigender Mehrheit ablehnten, um den Weg für einen völligen Neuanfang freizumachen. Tatsächlich ist aber weder die Bilanz der Präsidentschaft Poroschenkos durchweg negativ, noch kann von Präsident Selenskyj der völlige Neuanfang, den seine Sprecher ankündigen, erwartet werden. Aber dieses Wahlergebnis gibt einen tiefen Einblick in den Zustand und die Mentalität der ukrainischen Gesellschaft.

Präsident und Heilsbringer

Die Ukrainer wählen nicht einen fähigen Politiker zum Präsidenten, auf dessen Programm sie vertrauen, sondern einen Heilsbringer, der verspricht, alles anders und neu zu machen. Denn die ukrainischen Wähler vertrauen niemandem, den sie kennen. Deshalb verbinden sie ihre Hoffnungen – zumindest in der Politik – mit dem, den sie nicht kennen. Die postsowjetische ukrainische Gesellschaft ist labil und depressiv. Vergleichende internationale Untersuchungen zeigen, dass in der Ukraine das Vertrauen in die Staatsmacht das niedrigste in der Welt ist: nur 9 Prozent der Menschen haben Vertrauen in sie (vgl. https://www.pravda.com.ua/news/2019/03/21/7209826/). Im Durchschnitt vertrauen in den postsowjetischen Ländern 48 Prozent der Menschen der Staatsmacht. Die Gründe für das besonders große Misstrauen in der Ukraine sind vielfältig. Das Fehlen einer eigenen Staatlichkeit vor 1991 hat dazu beigetragen, dass die Ukrainer (ähnlich wie die Polen im 19. Jahrhundert) die Obrigkeit stets als das ganz Andere wahrnahmen, als fremde Bedrohung und als Instrument des Imperiums. Hinzu kommt, dass die Ukrainer im 20. Jahrhundert im Vergleich zu den anderen großen Völkern im Osten Europas nach dem jüdischen Volk den höchsten Blutzoll zu zahlen hatten, sowohl im Krieg als auch im »Frieden« (Holodomor). In der Wahrnehmung der Menschen war die Staatsmacht stets der Henker, das eigene Volk das Opfer.

Zu den historischen Traumata kommen die aktuellen enttäuschten Erwartungen. Poroschenko wurde 2014 zum Präsidenten gewählt, um die Versprechungen nach der siegreichen Maidan-Revolution zu erfüllen: eine prosperierende Ukraine ohne Oligarchen und Korruption – integriert in EU und NATO –, Politik nicht als das Machbare, sondern als das Maximale. Aber der in dieser Erwartung zum »Vater der Nation« stilisierte Präsident enttäuschte. Schon seit Jahren sank die Zustimmung, und am Ende zählten fast nur noch seine Misserfolge und Versäumnisse – die fraglos vorhanden sind. Weder konnte Poroschenko den Krieg mit Russland im Donbas beenden, was er definitiv versprochen hatte, noch die Korruption wesentlich begrenzen. Vor allem gelang es nicht, von der Exekutive und den Oligarchen unabhängige Gerichte zu schaffen. Dass die Ukraine inzwischen in Europa und Nordamerika ein respektierter Partner ist, wie nie zuvor in ihrer Geschichte, zählt in der Wahrnehmung der meisten Wähler nicht.

So wählten die Ukrainer mit Selenskyj zum wiederholten Mal einen Heilsbringer zum Präsidenten. Zum ersten Mal geschah das im Dezember 2004, als Wiktor Juschtschenko nach der erfolgreichen Orangen Revolution zum Präsidenten gewählt wurde. Die Orange Revolution verhinderte, dass Wiktor Janukowytsch durch Wahlfälschungen ins Präsidentenamt gelangte. Die bittere Wahrheit ist allerdings, dass Janukowytsch 2010 ohne Wahlfälschungen dennoch Präsident wurde. Nach den gegen ihn gerichteten monatelangen Demonstrationen des Euromaidan 2013/14 flüchtete er nach Russland. Daraufhin wählten die Ukrainer mit Poroschenko zum zweiten Mal einen Heilsbringer zum Präsidenten.

Neuartiger kreativer Wahlkampf

Die Ukraine hat mit den Massendemonstrationen auf dem Maidan ein ungewöhnliches Instrument des politischen Machtwechsels entwickelt, das bislang zweimal erfolgreich war. Der jetzige Erdrutschsieg Selens­kyjs ist als »Maidan an der Wahlurne« (siehe Artikel von Jewhen Holowacha auf https://www.pravda.com.ua/articles/2019/04/18/7212520/) bezeichnet worden. Die Strategie Selenskyjs im Wahlkampf unterschied sich jedoch grundlegend von jener der Maidan-Demonstrationen. Sie war allerdings ebenso neu und unerprobt. Die politische Kreativität ist erstaunlich.

Selenskyj gab erst am 31. Dezember 2018 seine Kandidatur bekannt, nachdem er allerdings schon seit Monaten gute Werte in inoffiziellen Umfragen erzielt hatte. Sein Wahlkampf verlief ganz anders als derjenige der anderen Kandidaten. Auch im internationalen Vergleich lässt sich nichts der politischen Technologie Selenskyjs an die Seite stellen. Er hielt keine Wahlkundgebungen ab, bereiste nicht die Ukraine, gab keine Pressekonferenzen, nahm nicht an Talkshows teil, vermied persönliche Begegnungen mit Wählern und Konkurrenten. Er kommunizierte fast ausschließlich digital über kurze Videoclips ohne Rede und Gegenrede. Er forderte seine Wähler auf, für ihn ein Wahlprogramm zu schreiben und in den sozialen Netzwerken ihre Fragen an ihn zu formulieren. Diese Fragen wurden dann von Hundertausenden Volontären mithilfe eines E-Books, das gesammelte Antworten enthielt, beantwortet (vgl. https://en.hromadske.ua/posts/zelenskiys-head-digital-marketer-on-their-winning-election-campaign). Jedem Sympathisanten wurde so vermittelt, dass der Kandidat genau seine Wünsche und Erwartungen teilt, ohne dass irgendwelche Inhalte spezifiziert wurden. Weil Selenskyj sich nicht auf politische Inhalte festlegen oder gar in Kontroversen verwickeln ließ, identifizierten sich viele Wähler mit dem »Diener des Volkes« – so der Name von Selenskyjs beliebter TV-Serie und seiner bislang weitgehend virtuellen politischen Partei –, auch wenn sie ganz unterschiedliche Meinungen vertraten.

Diese Wahlkampfstrategie hatte überwältigenden Erfolg, der wohl nur vor dem Hintergrund der spezifisch ukrainischen Bedingungen zu verstehen ist. Das Gros der das System Poroschenko hassenden Protestwähler stimmte nicht in erster Linie für Selenskyj, sondern gegen den Amtsinhaber. Ein weiterer Faktor spielt eine Rolle, wenn man versucht zu erklären, warum beinahe drei Viertel der Wähler Selenskyj ihre Stimme gaben: Die meisten Bewerber um das Präsidentenamt waren wie der Amtsinhaber Altpolitiker, die seit zwanzig Jahren das Sagen in der ukrainische Politik haben. Die von allen Seiten geforderte Elitenerneuerung hatte kein Gesicht unter den aussichtsreichen Kandidaten – außer eben das eine.

Ausblick

Der »Diener des Volkes« vertritt in zentralen Fragen den Konsens: Westbindung der Ukraine, Wiederherstellung der Staatsgrenzen von 2013, Widerstand gegen den Aggressor Russland. Aber bislang ist nicht zu erkennen, welche neuen Initiativen Bewegung in die festgefahrenen Bereiche – Kampf gegen die Korruption und die Oligarchen, Frieden im Donbas und Wirtschaftsreformen – bringen könnten. Auch von einer totalen Elitenerneuerung durch Selenskyj kann nicht die Rede sein. Ein Beispiel: Rechtsanwalt Andrij Bohdan ist eine zentrale Figur im Team von Selenskyj (vgl. https://www.pravda.com.ua/articles/2019/04/25/7213591/). Er arbeitete für verschiedene politische Lager und war in der Zeit von Janukowytsch stellvertretender Justizminister. Er vertritt heute als Anwalt den Oligarchen Ihor Kolomojskyj, der eng mit dem neuen Präsidenten verbunden ist. Kolomojskyj fordert 2 Milliarden Dollar Entschädigung vom ukrainischen Staat, die er 2016 durch die angeblich gegen ihn gerichtete Verstaatlichungspolitik verloren habe.

Aber kein Zweifel: Selenskyj ist der demokratisch gewählte Präsident, und er hat jetzt alle Chancen, die eine Demokratie bietet.

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Kommentar

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Von Claudia Kamke, Kristin Wesemann
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