Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko in Berlin (16. März 2015)

Merkel’s Rede

Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass Staatspräsident Petro Poroschenko heute nach Deutschland gekommen ist. Es ist nicht seine erste Reise hierher, aber sein erster offizieller Besuch – er wurde mit militärischen Ehren vom Bundespräsidenten empfangen. Wir hatten jetzt eine sehr intensive Diskussion – was aber nicht heißt, dass es eine kontroverse Diskussion gewesen wäre; vielmehr haben wir einfach sehr intensiv über die einzelnen Punkte gesprochen, die im Minsker Paket enthalten sind und die vonseiten der Ukraine umgesetzt werden wollen.

Ich möchte aber zu Beginn meinen großen Respekt über all die Anstrengungen, die Präsident Poroschenko und auch die ukrainische Regierung und das Parlament unternehmen, um zu einer friedlichen Zukunft für die Ukraine zu kommen, zum Ausdruck bringen. Ich will noch einmal daran erinnern: Petro Poroschenko ist als Präsident mit einem Friedensplan angetreten. Er hat dann die Grundlage für die Minsker Vereinbarungen im September geschaffen und hat auch dem am 12. Februar beschlossenen Umsetzungspaket, das wir im Rahmen des Normandie-Formats verhandelt haben, voll zugestimmt.

Heute ist noch einmal ein Tag, an dem daran zu erinnern ist, dass vor einem Jahr die Krim völkerrechtswidrig von Russland annektiert wurde. Ich will noch einmal deutlich machen, dass wir das nicht vergessen werden – und zwar deshalb nicht vergessen werden, weil es die europäische Friedensordnung infrage gestellt hat. Es ist aber trotzdem beziehungsweise gerade deshalb wichtig, dass wir für eine friedliche Lösung arbeiten und dass wir nicht nachlassen, ehe nicht die volle Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt ist. Das umfasst natürlich auch die Krim, aber es umfasst vor allen Dingen im täglichen Aufgabenbereich ganz besonders auch die Regionen um Lugansk und Donezk.

Wir arbeiten sozusagen mit drei Grundelementen. Das erste Element ist die Unterstützung der Ukraine. Zweitens drängen wir auf eine friedliche und diplomatische Lösung des Konflikts. Darüber sind wir auch einer Meinung, und wir haben heute auch darüber gesprochen, wie dies noch besser gelingen kann. Drittens sind wir notfalls auch zu neuen Sanktionen bereit – die aber kein Selbstzweck sind. Wir wollen sie nicht, aber wenn es unerlässlich ist, muss man sie implementieren. Dennoch ist das Herangehen jetzt so, dass wir alles daransetzen, dass die Minsker Vereinbarungen eingehalten werden können.

Die Umsetzung gestaltet sich kompliziert: Der Waffenstillstand ist nach wie vor nicht erreicht. Dennoch arbeiten wir gerade auch mit der OSZE zusammen, um diesen Waffenstillstand zu garantieren und vor allen Dingen auch den Abzug der schweren Waffen nachvollziehbar zu machen. Hier gibt es noch erhebliche Lücken bei den Separatisten, was die Spezifizierung, die Kontrolle, den freien Zugang der OSZE-Beobachter zu den Regionen anbelangt. Hierüber müssen wir also weiter sprechen.

Ich möchte an dieser Stelle den OSZE-Mitarbeitern, die vor Ort ihren Dienst tun, noch einmal ein herzliches Dankeschön sagen. Ich habe neulich selber mit dem Schweizer Herrn Hug telefoniert. Auch Herrn Apakan, der an den Gesprächen hier in Berlin teilgenommen hat, und allen Mitarbeitern ein herzliches Dankeschön! Sie tun unter schwierigen Umständen ihre Arbeit.

Wir haben darüber gesprochen, wie wir nächste Schritte stattfinden lassen können. Der Präsident kann darüber berichten, was mit Blick auf das Gesetz über einen speziellen Status geplant ist.

Wir haben natürlich auch darüber gesprochen, wie die ökonomische Situation aussieht und wie wir vor allen Dingen auch schauen können, dass das IWF-Programm gut umgesetzt wird. Deutschland ist hier zu Hilfe bereit.

Was die Fragen des Minsker Paketes anbelangt, will ich noch einmal darauf hinweisen: Neben Waffenstillstand und Rückzug der schweren Waffen ist es auch wichtig, die humanitäre Hilfe endlich anlaufen zu lassen. Leider ist es noch nicht gelungen, dass das Internationale Rote Kreuz ausreichend Zugang zu den Gebieten um Donezk und Lugansk hat. Das muss sich verbessern.

Wir unterstützen die Arbeit der Trilateralen Kontaktgruppe. Frau Tagliavini und allen, die in der Trilateralen Kontaktgruppe sitzen, möchte ich ein herzliches Dankeschön für ihre Arbeit sagen.

Wir wollen auch den Austausch der Gefangenen voranbringen.

Wenn einmal der Abzug der schweren Waffen zertifiziert ist, der Waffenstillstand vollkommen eingehalten wird und die Gefangenen freigelassen sind, dann haben wir natürlich auch bessere Möglichkeiten, den politischen Prozess voranzutreiben, der ja auch in dem Papier beschrieben ist.

Alles in allem habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Ukraine alles daransetzen wird, den Plan von Minsk, das Paket von Minsk umzusetzen. Wir werden von deutscher Seite – aber ich kann das auch für Frankreich sagen – alles tun, um dieser friedlichen Lösungsmöglichkeit eine Chance zu geben, auch wenn noch sehr, sehr viel Arbeit vor uns liegt – das ist nach den Erfahrungen, die wir zwischen dem 12. Februar und heute gemacht haben, schon absehbar.

Noch einmal herzlich willkommen!

Quelle: <http://www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/03/215-03-16-merkel-poroschenko.html>

Poroschenko’s Rede

Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin! – Meine Damen und Herren, in erster Linie möchte ich Ihnen erklären, dass ich der Bundeskanzlerin für die ständige Aufmerksamkeit, für die ständige Unterstützung, die die Ukraine im Kampf gegen die schwierige Situation im Donbas und in ihrem Kampf um die territoriale Integrität des Landes von der deutschen Regierung bekommt, sehr dankbar bin.

Obwohl wir einen sehr intensiven Dialog mit der Frau Bundeskanzlerin pflegen – wir haben vorhin festgestellt, dass wir bereits über 60 Telefonate miteinander geführt haben und dass wir uns seit meiner Amtseinführung bereits elfmal getroffen haben –, war dies heute mein erster Besuch in Deutschland. Ich möchte mich für die hervorragende Organisation dieses Besuches und für die sehr intensiven und effektiven Gespräche bedanken.

Ich kann sagen, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine noch niemals auf einem so hohen Niveau waren. Die Unterstützung, die Deutschland und die gesamte Europäische Union gegenüber der Ukraine zeigt, freut uns sehr. Die Frau Bundeskanzlerin und auch der französische Präsident haben an den Verhandlungen über die Minsker Vereinbarungen, die wir letztlich nach langwierigen und schwierigen 17-stündigen Gesprächen am 12. Februar getroffen haben, teilgenommen. Es gibt eine eindeutige einheitliche Meinung unsererseits: Es gibt keine Alternative zu Minsk; beide Seiten müssen alle übernommenen Verpflichtungen vollständig erfüllen.

Die Ukraine unterstreicht, dass wir das Regime der Feuerpause einhalten. Die Streitkräfte der Ukraine haben am 15. den Befehl erhalten, sich zurückzuziehen. Sie wissen, dass es danach noch erhebliche Angriffsoperationen gegen die Ukraine gegeben hat. Zu dem angegebenen Termin, nach der vorgegebenen Prozedur und unter Aufsicht der speziellen Monitoring-Mission der OSZE haben wir unsere Verpflichtungen erfüllt. Wir haben genau angegeben, von wo Waffen abgezogen werden, wo sie gelagert werden. Wir geben die Möglichkeit, die entsprechenden Inventarnummern der schweren Technik, der Artillerie, durch die OSZE-Beobachter aufzunehmen. Das ist sehr wichtig und wird von uns genau eingehalten.

Des Weiteren geht es um humanitäre Fragen. Die Ukraine wird gemeinsam mit der Europäischen Union und unter Aufsicht des Internationalen Roten Kreuzes ständig humanitäre Hilfstransporte durchführen; denn die humanitäre Situation ist in den besetzten Gebieten der Ukraine, in einigen Kreisen der Gebiete Donezk und Lugansk, im Moment sehr schwierig. Am 14. März – 30 Tage, nachdem wir die Bedingungen laut Minsker Vereinbarungen erfüllt haben – habe ich als Präsident bei der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, einen Erlass eingereicht, in dem genau aufgeführt ist, welche Regionen dieser beiden Gebiete von einem speziellen Regime der Selbstverwaltung betroffen sind. Die Fragen der Zusammenarbeit auf kulturellem Gebiet werden gesondert behandelt werden.

Wir müssen heute leider konstatieren, dass Russland und die von Russland unterstützten Kämpfer die Verpflichtungen, die sie übernommen haben, nicht vollständig erfüllen. Das betrifft unter anderem die Zusammenarbeit mit den Beobachtern der OSZE-Mission. Was den Abzug schwerer Waffen betrifft, werden die Prozeduren nicht eingehalten.

Was die sogenannten Hilfskonvois angeht, die von Russland in die nicht von der Ukraine kontrollierten Gebieten eintreffen und nicht über von uns kontrollierte Grenzübergänge geschickt werden, so verlangen wir, dass diese in Übereinstimmung mit den ukrainischen Grenzregelungen durchzuführen sind. Die Gefangenen sind bis heute nicht freigelassen worden. Kriegsgefangene werden durch die Stadt geführt und ihre Würde wird verletzt. Sie werden zu Arbeiten gezwungen. Ukrainische Fernseh- und Rundfunkkanäle sind in diesem Gebiet nicht zu empfangen. Wir möchten unterstreichen, dass wir verlangen, dass die von der russischen Seite übernommenen Verpflichtungen gegenüber den Separatisten durchgesetzt werden.

Ich kann sagen, dass die Ukraine sagen kann, dass wir unseren Kampf nicht nur für unseren Frieden und für unsere Unabhängigkeit und Freiheit führen, sondern dass es ebenso um die europäische und globale Sicherheit geht. Wir erwarten vom Rat der Europäischen Union, der unter Teilnahme der Frau Bundeskanzlerin durchgeführt werden wird, entsprechende und effektive Entscheidungen.

Außerdem habe ich heute während meines Treffens mit dem Bundespräsidenten daran erinnert, dass vor 25 Jahren – am 18. März 1990 – die ersten freien Wahlen in der DDR stattgefunden haben. Wir hoffen sehr darauf, dass die Wahlen, die wir jetzt in einigen Gebieten der Oblaste Donezk und Lugansk vorbereiten, auch den Standards der OSZE entsprechen und entsprechend effektiv durchgeführt werden können.

Wir haben auch die Möglichkeit gehabt, mit der Frau Bundeskanzlerin über Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu sprechen. Wir sind sehr froh darüber, dass es eine Entscheidung gibt, 500 Millionen Euro Wirtschaftshilfe für die Ukraine bereitzustellen, von denen 200 Millionen Euro für makroökonomische Hilfen vorgesehen sind. Wir hoffen darauf, dass in absehbarer Zeit die entsprechende Vereinbarung unterschrieben werden kann. Wir erwarten morgen in Kiew eine Delegation aus Deutschland.

Ein Thema, das innerhalb der Europäischen Union nicht allzu oft angesprochen wird, ist, dass die Ukraine nicht nur für eine Deeskalation der Situation im Osten kämpft, sondern wir führen parallel große Anstrengungen durch, um Reformen durchzuführen. Wir haben mit dem Internationalen Währungsfonds Vereinbarungen getroffen. Wir kämpfen gegen die Korruption. Wir haben mit der Reform des Gerichtswesens begonnen. Ich habe nicht nur einmal unterstrichen, dass der Krieg keine Rechtfertigung dafür sein kann, in den Reformbemühungen nachzulassen. Wir sind sehr froh über die Unterstützung, die wir dabei von Deutschland und der Europäischen Union bekommen. Sie ist für uns außerordentlich wichtig.

Ein letzter Punkt: Ich möchte der Frau Bundeskanzlerin ganz herzlich für die umfangreiche humanitäre Hilfe danken, die Deutschland der Ukraine erweist. Ich hatte gestern in Dresden die Möglichkeit, unsere Soldaten und Offiziere zu sprechen, die in deutschen Krankenhäusern eine Behandlung erfahren. Dafür möchten wir unseren deutschen Partnern ganz herzlich danken. Wir werden medizinische Ausrüstungen bekommen, die wir im Namen der Bundesregierung einem Militärhospital im Gebiet Saporischschja übergeben können. Erst vor Kurzem haben wir uns deswegen an die Bundesregierung gewandt. Ich bin sehr froh darüber, dass so kurzfristig Hilfe erfolgen konnte. Das wird uns helfen, unsere Helden, unsere Soldaten möglichst schnell wieder gesund zu pflegen.

Wir haben auch über den Gipfel der Östlichen Partnerschaft gesprochen, der am 18. Mai dieses Jahres in Riga stattfinden wird. Das war auch ein Thema, das ich mit dem Bundespräsidenten besprochen habe. Ich hoffe dort sehr auf die Unterstützung vonseiten der Bundeskanzlerin. Wir hoffen auch, dass es dort zu Entscheidungen kommen wird, um einen visafreien Reiseverkehr für ukrainische Bürger zu ermöglichen. Natürlich ist das nur möglich, wenn alle 28 Mitgliedstaaten sich einig sind.

Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, ich möchte Ihnen noch einmal herzlich für die Unterstützung danken, die Sie uns erweisen.

Quelle: <http://www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/03/215-03-16-merkel-poroschenko.html>

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Analyse

Zur außenpolitischen Orientierung des neuen ukrainischen Präsidenten und der Partei der Regionen

Von Wilfried Jilge
Unmittelbar nach seiner Wahl zum Präsidenten reiste Viktor Janukowitsch zur EU-Kommission nach Brüssel, wo er seinen ersten Antrittsbesuch im Ausland absolvierte. Der früher häufig als prorussisch eingestufte Janukowitsch, für den 2004 die Präsidentenwahlen gefälscht wurden, gab sich in der Pressekonferenz mit José Manuel Barroso ausgesprochen proeuropäisch: Für die Ukraine werde, so Janukowitsch, die europäische Integration ebenso wie die Realisierung systematischer sozioökonomischer Reformen Priorität haben. Experten haben bereits im Wahlkampf darauf hingewiesen, dass der neue Präsident einen auf die Integration der Ukraine in die Strukturen der EU zielenden Kurs – wenn auch vorsichtiger als sein Vorgänger – fortsetzen könnte. Hatte die westliche Berichterstattung Janukowitsch früher meist als moskauhörigen Kandidaten eingestuft (was in dieser Eindeutigkeit schon 2004 nicht ganz richtig war), werden er und seine Rivalin Julia Timoschenko heute immer häufiger als gleichermaßen »prorussisch« wie »proeuropäisch« eingeschätzt. Dies ist keineswegs ausgeschlossen: Bei der Bewältigung der die Ukraine heftig treffenden Finanzkrise ist die Ukraine nicht nur auf Hilfe aus Moskau, sondern auch aus der EU dringend angewiesen. (…)
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Analyse

Rückkehr zum Multivektoralismus? – Eine Bilanz der Außenpolitik Janukowytschs

Von Inna Melnykovska
Die Debatten über die Außenpolitik des Präsidenten Janukowytsch sind stark mit den Debatten über die Innenpolitik verknüpft und normativ geprägt. Beobachter erwarten eine Korrelation zwischen der Annäherung an Russland und einem Anwachsen der autoritären Tendenzen in der ukrainischen Innenpolitik; für Erfolge in der Kooperation mit der EU wird hingegen Demokratie vorausgesetzt. Die Bilanz der einjährigen Amtszeit Janukowytschs zeigt, dass es in den beiden wichtigsten Bereichen der Außenpolitik – Zusammenarbeit mit der EU und mit Russland – Kooperationserfolge, aber auch Konflikte zu verzeichnen gibt. Auf den ersten Blick ähnelt die Außenpolitik Janukowytschs der multivektoralen Außenpolitik des ehemaligen Präsidenten Leonid Kutschma. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass sie im Gegensatz zur Politik Kutschmas nicht primär darauf ausgerichtet ist, die Einflüsse der beiden genannten externen Akteure gegeneinander auszuspielen. (…)
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