Reaktionen des Westens auf den Fall Tymoschenko – die ukrainische Sicht

Wegen der Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien, insbesondere im Umgang mit der inhaftierten ehemaligen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko, haben die Staatsoberhäupter mehrerer europäischer Länder ihre Teilnahme an einem von der Ukraine ausgerichteten Treffen ost- und mitteleuropäischer Präsidenten Mitte Mai 2012 in Jalta abgesagt. Des Weiteren haben Politiker der Europäischen Union sowie einzelner Länder angekündigt, die Ukraine zur Fußball-EM im Juni 2012 demonstrativ nicht zu besuchen. Auch das Assoziierungsabkommen mit der EU wurde als Druckmittel eingesetzt, um die Regierung Janukowytsch zum Einlenken zu bewegen.

Im Folgenden dokumentieren wir beispielhaft für die Haltung einiger westlicher Länder die Erklärung der EU zur Situation um Tymoschenko und die unterschiedlichen Reaktionen in der Ukraine auf die Boykottdrohungen.

Statement by the spokesperson of High Representative Catherine Ashton on the situation of Yulia Tymoshenko (26/04/2012)

The spokesperson of Catherine Ashton, High Representative of the European Union for Foreign Affairs and Security Policy and Vice President of the Commission, issued the following statement today:

“The High Representative of the European Union for Foreign Affairs and Security Policy, Catherine Ashton, is deeply preoccupied by the situation of Yulia Tymoshenko, former Prime Minister of Ukraine. Today the Ukrainian Ombudsperson’s Office confirmed that Ms Tymoshenko was subjected to physical violence during the transfer from her cell to a hospital on 20 April. The High Representative recalls the obligation of Ukraine to examine promptly and impartially any complaints of torture or other forms of cruel, inhuman or degrading treatment. The High Representative is seriously concerned by the decision of Ms Tymoshenko to begin a hunger strike to draw the attention of the international community to the situation in Ukraine.

The High Representative calls on the Ukrainian authorities to ensure the full respect of the right of Ms Tymoshenko to adequate medical assistance in an appropriate institution. The High Representative also insists on the right of Yulia Tymoshenko to have access to her lawyers without restriction, and encourages the Ukrainian authorities to allow visits by family members.

As a sign of their political will to clarify the situation, the High Representative asks the Ukrainian authorities to allow the EU Ambassador, accompanied by independent medical specialists, to visit Ms Tymoshenko in prison. The EU Ambassador has been instructed, pending agreement of the authorities, to travel to Kharkiv at the earliest opportunity.”

Quelle: http://eeas.europa.eu/delegations/ukraine/press_corner/all_news/news/2012/2012_04_26_2_en.htm

Die Ukraine darf ihre europäische Chance nicht wegen Janukowytsch verlieren – eine Erklärung der Partei Front der Veränderung,
Interfax Ukraine, 3.5.2012

Die Ukraine darf ihre europäische Chance nicht wegen der ukrainischen Führung und des Staatsoberhauptes Wiktor Janukowytsch verlieren. Dies steht in einer Erklärung der Partei Front der Veränderung […].

»Die Regierungszeit Janukowytschs ist gekennzeichnet durch den Verlust der historischen Chance der Ukraine auf ihre europäische Integration. Aufgrund des Handelns der jetzigen Führung ist unser Land in allen möglichen internationalen Ratings gesunken: Meinungsfreiheit, Unternehmerfreiheit, Investitionsanreize u. Ä.«, heißt es in der Erklärung. […]

Gleichzeitig wird innerhalb der Partei insbesondere betont, dass die Ukrainer das Recht haben ein vollwertiges Mitglied der europäischen Gemeinschaft zu sein: »Die Ukraine hat das Recht Veranstaltungen von Weltrang auszurichten, darunter auch solche wie die Fußball-EM. Unser Staat sollte nicht wegen des Fehlverhaltens einer verantwortlichen Person, und sei es die höchste im Staat, in die internationale Isolation geraten.«

Quelle: http://www.interfax.com.ua/rus/pol/103143/

In der Partei der Regionen fürchtet man sich nicht vor einem Boykott der EURO-2012,
Kommentarii.ua, 4.5.2012

»Von Boykott kann keine Rede sein, weil ein Boykott entsprechend des Statuts der UNO eine teilweise oder völlige Aufhebung der Beziehungen zu einem Land ist, wenn also nicht nur Beamte, sondern auch Bürger nicht in das Land reisen usw. Wir denken, dass es heute in der EU zwei Kategorien von Beamten gibt: Die einen hatten gar nicht vor zu fahren…Es gab Informationen, dass die gesamte EU-Kommission nicht fahren wird, aber dies hatte sie ja auch gar nicht vor. Das heißt, man muss die Frage richtig stellen: Hatte die betreffende Person wirklich vor zu fahren und hat sie ihren Plan geändert? Die EU-Kommission hatte nicht vor zu fahren. Warum sollte die EU-Kommission zum Fußball fahren? Es gibt aber auch Politiker aus wichtigen Ländern, die erklärten, dass sie aus politischen Gründen nicht fahren würden. Aus Sicht der internationalen Politik und des internationalen Rechts ist das aber kein Boykott, das ist bloß die Absage einzelner Politiker, die EURO-2012 zu besuchen«, sagte Leonid Koschar [Abgeordneter der Partei der Regionen und Stellvertretender Vorsitzender des parlamentarischen Komitees für auswärtige Angelegenheiten].

Quelle: http://politics.comments.ua/2012/05/04/337069/pr-boyatsya-boykota-evro2012.html

Der Erste Stellvertretende Präsident des Europaparlamentes Gianni Pittella: »Mit der Sache Tymoschenko soll die Ukraine allein zurechtkommen«,
Komsomolska prawda, 28.4.2012

Das Visaregime, der Kampf gegen die Korruption, die anstehenden Parlamentswahlen, die Bürgermeisterwahlen in Kiew – das sind die Themen, die als erstes auf der Sitzung des Klubs der Freunde der Ukraine im Europaparlament am 25.4.2012 in Brüssel hätten angegangen werden sollen.

Diplomatische Akzente in der Diskussion um das Thema Verurteilung und Misshandlung Julija Tymoschenkos setzte der Erste Stellvertretende Präsident des Europaparlamentes Gianni Pittella. Der Politiker äußerte die Meinung, dass die Ukraine die Sache Tymoschenko selbst regeln und auf dem Weg der Integration in die EU bleiben solle. Denn es stünden ihr noch alle Wege offen, Vollmitglied der EU zu werden.

»Es ist doch ganz offensichtlich, dass ein Strafverfahren gegen einen einzelnen Politiker kein Grund ist, den Integrationsprozess umzudrehen. Die Ukraine ist wichtig für die Europäische Union«, sagte er. »Freunde, wir sollten uns auf die Fragen konzentrieren, die einer Annäherung der Ukraine dienen.«

Nach diesen Worten begannen die Europaabgeordneten die Möglichkeiten einer Einführung des visafreien Reiseverkehrs zwischen der EU und unserem Land zu diskutieren. Einige Politiker sprachen sich für eine möglichst schnelle Aufhebung der Visumspflicht für Ukrainer aus. […]

Übrigens, wenn man das Verhalten der europäischen Politiker beobachtet, drängt sich der Eindruck auf, dass sie der wiederholten Skandale um Julija Tymoschenko längst überdrüssig sind. In den Fluren des Europaparlamentes konnte man häufiger Folgendes hören: Jedes Mal, wenn es um die Integrationsprozesse geht, muss es irgendeinen Skandal geben.

Quelle: http://kp.ua/daily/280412/335750/

Das offizielle Kiew hält die Information über den Aufruf zum Boykott der EURO-2012 für überzogen
Korrespondent.ua, 1.5.2012

Der Leiter der Delegation der Ukraine bei der EU Konstjantyn Jelisejew hofft, dass die Informationen über den Aufruf zum Boykott der Fußball EM 2012 überzogen sind.

»Gleichzeitig denke ich aber auch, dass einzelne Hinweise auf die sehr harten Bedingungen, dass nämlich die Meisterschaft in der Ukraine nur besucht und der Assoziierungsvertrag nur unterzeichnet wird, wenn die Situation um die sogenannte gelenkte Rechtssprechung geklärt ist, nicht gerade einer konstruktiven Entwicklung der Beziehungen dienen und den politischen Dialog in die Sprache von Ultimaten überführen«, sagte Jelisejew.

Der Diplomat geht davon aus, dass diesem Ansatz die »strategische Sicht« fehlt, weil er es der EU nicht erlaubt das »Transformationspotenzial der Ideen der europäischen Integration und die Fußballdiplomatie zu nutzen.« […]

Des Weiteren ist er der Auffassung, dass es »ungerecht ist, von der Ukraine die Erfüllung politischer Mitgliedschaftskriterien zu verlangen und diese zu einer Bedingung für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zu machen.«

Quelle: http://korrespondent.net/ukraine/politics/1345558-oficialnyj-kiev-schitaet-informaciyu-o-prizyvah-bojkotirovat-evro-2012-preuvelichennoj

Schub zurück: Die Ukraine treibt von der EU zur Eurasischen Union,
Liga.net, 7.5.2012, Pjotr Oleschtschuk

In der Krise der ukrainisch-europäischen Beziehungen, die jetzt in ihre heiße Phase gekommen ist, gibt es noch ein dritte Seite. Auch Russland hat Chancen seine Ziele in Bezug auf die Beziehungen zur Ukraine durchzusetzen. Die Aufgaben sind ganz klar: Die ukrainische Führung dazu zwingen, den neuen Strukturen im postsowjetischen Raum beizutreten, den Russen damit einen weiteren geopolitischen Sieg Putins präsentieren, die Integration vertiefen, sie unumkehrbar machen.

Dafür müsste sich die Ukraine letztlich entschieden von den Versuchen abwenden, ihre Multivektoralität demonstrieren zu wollen. Oder mehr noch – ihre prowestliche Einstellung. Das könnte geschehen, wenn die ukrainische Seite versteht, dass sie in europäischer Hinsicht keine Chancen mehr hat. Deshalb ist die internationale Isolierung der Ukraine für den Kreml sehr vorteilhaft, er kann hier eine Alternative anbieten – die Eurasische Union. Derzeit gehören Russland, Belarus und Kasachstan dazu, Beitrittskandidaten sind Kirgisien und Tadschikistan. […]

Die internationale Lage der Ukraine erinnert an die Belarus’. Der Algorithmus der Entstehung dieser Situation ist folgender: 1) Versuche in der EU ein Gegengewicht zur EU zu finden; 2) ein Skandal, der in Europa Unzufriedenheit auslöst; 3) internationale Isolierung im Westen; 4) Einbeziehung in das russische geopolitische Projekt.

Quelle: http://liga.net/opinion/33717_obratnaya-tyaga-ukrainu-otnosit-ot-evrosoyuza-k-evraziyskomu.htm

Außenministerium kritisiert europäische Politiker, die EM boykottieren
Ukrainska prawda, 3.5.2012

Das Außenministerium der Ukraine bezeichnet die Versuche, sportliche Ereignisse zu politisieren, als destruktiv. Dies sagte der Pressesekretär der Behörde Oleksandr Dikusarow […].

»Der Aufruf zum Boykott der EM wird in der Praxis einen Imageschaden dieses grandiosen sportlichen Ereignisses bedeuten und auch den Verlust des Interesses an diesem Ereignis bei Millionen normaler Ukrainer, die für unterschiedliche Parteien stimmen oder sich überhaupt nicht für Politik interessieren. Diejenigen, die versuchen die EURO-2012 zur Zielscheibe zu machen, helfen damit nicht der Reformierung des ukrainischen Rechtssytems und auch nicht der Stärkung von demokratischen Institutionen und der Rechtshoheit«, sagte er.

Im Außenministerium ist man überzeugt, dass sich all diese Fragen objektiv betrachtet auf einer anderen Ebene befinden als das Fußballfest, das von Natur aus jenseits der Politik steht und nicht für die Lösung politischer Fragen verwendet werden kann.

Quelle: http://www.pravda.com.ua/rus/news/2012/05/3/6963885/

In Polen wundert man sich über die Deutschen,
1.5.2012, Welt.Online, Gerhard Gnauck

Oksana Sabuschko, die bekannteste Schriftstellerin des Landes, sagte »Welt Online«: »Ein Boykott würde die Ukraine international isolieren und restlos unter den Einfluss Russlands bringen, wogegen wir ja kämpfen«, so Sabuschko. »Er würde die Zone des Autoritarismus im Osten Europas ausweiten. Dagegen würde die EM die Informationsmauer, die unser Land vom Westen trennt, durchbrechen und zu mehr Gemeinsamkeit und gemeinsamer Sicherheit in Europa beitragen.« Ihr Kollege Juri Andruchowytsch urteilt weniger kategorisch: »Zum Boykott habe ich keine klare Meinung. In die Isolation rutschen wir, Dank dem regierenden Klüngel, sowieso. Ob vor oder nach der EM, macht dann keinen großen Unterschied.«

Quelle: http://www.welt.de/politik/ausland/article106241516/In-Polen-wundert-man-sich-ueber-die-Deutschen.html

Im Außenministerium hofft man, dass die Position Merkels in Bezug auf Tymoschenko nur eine »Zeitungsente« ist
ZN,UA, 30.4.2012

»Man möchte glauben, dass es sich hierbei um eine Zeitungsente handelt.« […] »Es ist doch schwer vorstellbar, dass die politischen Akteure in Deutschland in der Lage sind, die Methoden aus Zeiten des Kalten Krieges wiederzubeleben und den Sport zu einer Geisel der Politik zu machen«, sagte er [der Leiter der Informationsabteilung des Außenministeriums Oleh Woloschyn].

Er erinnerte auch daran, dass noch vor einigen Jahren, als ernsthafte Bedenken bezüglich der Fähigkeit der Ukraine, rechtzeitig auf die Durchführung der EURO-2012 vorbereitet zu sein, geäußert wurden, in den Medien aktiv darüber diskutiert wurde, dass gerade Deutschland sich um die Austragung bewerben würde, falls sich die UEFA gegen die EM in der Ukraine entscheidet.

»Es ist schon erstaunlich, dass es bisher überhaupt keine Unstimmigkeiten zwischen deutschen Politikern und den Regierungen anderer Länder unserer Region gegeben hat. Niemand erwähnt auch nur mit einem Wort einen Boykott von sportlichen Großereignissen, die in den kommenden Jahren in diesen Ländern geplant sind«, sagte Woloschyn.

Quelle: http://news.zn.ua/POLITICS/v_mid_nadeyutsya,_chto_pozitsiya_merkel_v_otnoshenii_timoshenko__gazetnaya_utka-101367.html

Merkel »mischt sich ohne viel Federlesen« in die Politik der Ukraine ein – Partei der Regionen
ZN,UA, 29.4.2012

Der Abgeordnete der Partei der Regionen Wasilij Kiselew meint, dass sich Angela Merkel ohne viel Federlesen in die inneren Angelegenheiten der Ukraine eingemischt hat. Außerdem erklärte er, dass die Gesetzgebung der Ukraine die Behandlung von Inhaftierten im Ausland nicht vorsieht. Der Abgeordnete schlug vor, Merkel solle neben Tymoschenko auch noch 150 weitere Frauen aus der Strafkolonie zur Behandlung nach Deutschland holen.

Quelle: http://news.zn.ua/POLITICS/merkel_bestseremonno_vmeshivaetsya_v_politiku_ukrainy,_-_partiya_regionov__-101361.html

Zusammengestellt und übersetzt von Judith Janiszewski

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Artikel

Zweieiige Zwillinge. PiS und Fidesz: Genotyp und Phänotyp

Von Kai-Olaf Lang
Die regierenden Parteien in Polen und Ungarn haben vieles gemeinsam. Beide streben einen neotraditionalistischen Umbau von Staat und Gesellschaft an. Demokratie verstehen sie als Mehrheitsherrschaft, das Mandat, das sie vom Volk an den Wahlurnen erhalten haben, soll nicht durch „checks and balances“ beschränkt werden. In der EU setzen PiS und Fidesz auf die Sicherung und den Ausbau nationalstaatlicher Hoheitsbereiche. Aufgrund außen- und europapolitischer Differenzen – insbesondere in der Sicherheits- und Russlandpolitik – ist allerdings keine nationalkonservative Achse in Ostmitteleuropa entstanden. (…)
Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de
Analyse

Wie weiter? Das Assoziierungsabkommen der EU im Spannungsfeld von Wirtschaft und Menschenrechten

Von Thomas Vogel
Die Politik der EU gegenüber der Ukraine wird von unterschiedlichen Ansichten und Hoffnungen verschiedener Akteure angetrieben, allen voran den einzelnen Mitgliedstaaten. Da sind einerseits jene, die vor allem eine stärkere und schnellere Anbindung des Landes an die EU forcieren, und andererseits die Skeptiker, die die Staaten in der EU-Nachbarschaft auf Distanz halten wollen. Das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ist das mit Abstand wichtigste und effektivste Instrument, um ernsthafte Reformen in der Ukraine voranzutreiben, sagen die Befürworter. Bevor es unterzeichnet oder ratifiziert wird, müssen sichtbare positive Signale aus der Ukraine kommen, argumentieren die Skeptiker.
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