Verschwörungstheorien und Russlands Einmarsch in die Ukraine

Von Scott Radnitz (Jackson School of International Studies, Universität Washington; Seattle, WA)

Zusammenfassung
Die russische Regierung fördert seit Jahren die Verbreitung von Verschwörungstheorien. Seit Beginn des russischen großangelegten Einmarsches in die Ukraine betreibt sie dies mit besonderer Intensität. Dieser Beitrag stellt die Rolle der Verschwörungspropaganda in diesem Krieg dar: Der Kreml zielt darauf ab, zu überzeu- gen, Signale zu senden oder Verwirrung zu stiften. Darüber zeigt die Analyse auf, wie der Kreml versucht, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen innerhalb Russlands, im Ausland und in der Ukraine anzusprechen. Verschwörungstheorien mögen zwar für den Ausgang des Krieges weniger entscheidend sein, dafür bieten sie Einblicke in die Weltsicht des Kremls und liefern Hinweise, auf welche Weise dieser versucht, die öffentliche Meinung zu beeinflussen.

Der Kreml hat bereits geraume Zeit vor Russlands großangelegtem Einmarsch in die Ukraine Verschwörungstheorien befördert. Seit Mitte der 2000er Jahre, als Präsident Putin in der Außenpolitik eine Abkehr vom Westen begann, hat die offizielle Rhetorik die Verbreitung einer Reihe hartnäckiger, breit angelegter Verschwörungsnarrative gefördert. Im Kontext des Einmarsches in die Ukraine bekräftigte der Kreml einige dieser Vorstellungen, etwa dass der Westen oder die NATO beabsichtige, Russland zu zerstückeln oder zu zerstören. Oder dass Europa bestrebt sei, Russland durch die Übernahme liberaler Werte wie die Wahrung von LGBTQ+-Rechten und der Förderung der »Gender-Ideologie« zu schwächen. Darüber hinaus gebe es eine vom Westen unterstützte »fünfte Kolonne« im Land, die Russland von innen heraus untergraben will. Diese Säulen der Kreml-Rhetorik sind – genauso wie andere Verschwörungstheorien bestimmter Herkunft – sowohl bei der Rechtfertigung der Invasion im Februar 2022 deutlich geworden wie auch bei Versuchen, bestimmte kurzfristige politische Ziele zu erreichen angesichts des Umstandes, dass sich der Krieg in die Länge zieht. Verschwörungstheorien mögen zwar für den unmittelbaren Kriegsverlauf, was die militärische Strategie oder kriegerischen Fähigkeiten anbelangt, weniger wichtig sein. Sie spielen aber eine Rolle, wenn es um die Aufrechterhaltung der innerrussischen Unterstützung für das Regime und die Beeinflussung der internationalen öffentlichen Meinung geht.

Eine Verschwörungstheorie – oder der Glaube, dass mächtige Akteure mit üblen Absichten geheime Intrigen spinnen, um politische oder finanzielle Vorteile zu erzielen, wobei hinreichend glaubwürdige Belege fehlen – kann aktiv von Machthabern zu Propagandazwecken eingesetzt werden, unter politischen Akteuren und in der Bevölkerung kursieren oder auf beiden Ebenen wirksam sein. In der Sowjetunion waren Verschwörungstheorien besonders stark verbreitet, vor allem im Kontext der Konfrontation der Supermächte während des Kalten Krieges. Darüber hinaus überdauerten diese auch im postsowjetischen Russland vor der Zeit Putins. In den 1990er Jahren waren sie aber meist in der politischen Opposition verbreitet, sowie bei kommunistischen und nationalistischen Journalist:innen und diversen Intellektuellen und Kritiker:innen der Regierung unter Jelzin (s. Oushakine 2016). Die Bombardierung Serbiens gegen russischen Widerstand lieferte den vehementen Kritiker:innen des Westens weitere Vorwände und sollte später in den Narrativen über die Verlogenheit des Westens und dessen Missachtung russischer Interessen eine Rolle spielen.

Die Evolution von Verschwörungstheorien im Dienst russischer Politiker:innen und russischer Politik

Was die Verschwörungsrhetorik anbelangt, haben Vertreter:innen der Regierung unter Putin anfangs keinen scharfen Bruch zu ihren Vorgänger:innen erkennen lassen, da Putin sich als fähiger Reformer darstellte und die Zusammenarbeit mit dem Westen suchte. In den nachfolgenden Jahren erlebte Russland jedoch Terroranschläge in Moskau und dem Nordkaukasus und sah sich mit den »Farbrevolutionen« konfrontiert, die zu prowestlichen Regierungen in Georgien und der Ukraine führten, woraufhin sich die Rhetorik des Kremls wandelte. Bis 2005 hatten sich Regierungsvertreter:innen und mitunter auch Putin selbst die Rhetorik nationalistischer Kritiker:innen des Westens zu eigen gemacht und vertraten die Ansicht, dass die Herausforderungen, vor denen Russland stand, die Folge einer bewussten Verschwörung gegen Russland seien. Letztere werde von den USA, der EU, der NATO und westlichen Geheimdiensten betrieben – häufig unter Einbeziehung russischer Liberaler oder tschetschenischer militanter Kräfte (s. Radnitz 2021). Diese Vorwürfe gingen über konventionelle Analysen hinaus und behaupteten, dass die NATO Russlands Sicherheitsinteressen bedrohe. Hochrangige Offizielle in feindlichen Staaten würden angeblich insgeheim die Strippen ziehen, um Aktionen zu provozieren, die den Niedergang Russlands beschleunigen. In dieser Phase glitt Russland in Richtung Autokratie ab und nahm gegenüber dem Westen eine stärker konfrontative Haltung ein.

Sobald diese Narrative Fuß gefasst hatten und regelmäßig von Regierungsvertreter:innen, Sprecher:innen, kremlfreundlichen Journalist:innen, Expert:innen und Dumaabgeordneten sowie im staatlichen Fernsehen verbreitet wurden, konnten anschließend destabilisierende Ereignisse, die das Putin-Regime herausforderten, auf zweckdienliche Art in die bestehenden Verschwörungsnarrative eingebettet werden. So wurde beispielsweise der Euromaidan, der Aufstand einer Graswurzelbewegung in der Ukraine gegen die Entscheidung von Präsident Janukowytsch, ein Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen, als ein Aufstand interpretiert, der vom Westen eingefädelt wurde, um gewaltsam eine prowestliche und antirussische Regierung zu installieren. Putin rechtfertigte damit die Annexion der Krim und den Einmarsch im Donbas mit Verweis auf rechtsextreme Unterstützer:innen des Euromaidan: Es wurde behauptet, dass an der neuen ukrainischen Regierung von den USA unterstützte Faschist:innen beteiligt seien, die angeblich in der Ukraine ethnische Russ:innen bedrohen (s. Schuster 2014). Der vermeintliche Einfluss von Faschist:innen oder Neonazis in der Ukraine ist in all den Jahren der Kämpfe in der Ostukraine ein prominentes Motiv geblieben.

Als es an der Zeit war, das Feld für den großangelegten Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 zu bereiten, reaktivierte Russland bestehender Narrative und passte sie den neuen Umständen an. Putin veröffentlichte im Sommer 2021 ein Traktat, das als eine neue verschwörungsbasierte Lesart der Geschichte gelesen werden kann. Dort wird behauptet, die Ukraine sei ein künstliches, von den Bolschewiki geschaffenes Gebilde und sei Russland später durch westliche Länder, »radikale nationalistische Gruppen« und Neonazis entrissen worden (s. Putin 2021). Am Vorabend der Invasion führte Putin diese Linie fort und verkündete die Notwendigkeit, die Ukraine zu »entnazifizieren«. Er wiederholte die Vorwürfe, dass russische Landsleute im Ausland sich in unmittelbarer Gefahr befänden, und bekräftigte die Logik, die bei den Invasionen in Georgien 2008 und in der Ukraine 2014 angelegt worden war (s Radnitz, 2022 Casus Belli). Putin vertiefte auch die verschwörungstheoretische Behauptung, dass die Ukraine ein Bestandteil des westlichen Expansionismus sei. Er argumentierte, dass die Integration mit westlichen Militärapparaten und ein vermeintlicher Beitritt zur NATO die Ukraine zu einer Basis machen würde, von der aus die NATO Russland angreifen könnte, was diese Frage für Russland »existenziell« macht. Diese Motive sind seitdem in verschiedenen Variationen wiederaufbereitet worden, je nachdem, wie es der aktuelle Augenblick erforderte.

Zwecke von Verschwörungserzählungen

Verschwörungstheorien können vielen Zwecken dienen. Wir können zwar nicht in den Kopf eines Menschen schauen, der Verschwörungstheorien verbreitet, doch haben Studien zur Propaganda gezeigt, dass Äußerungen dieser Art auf verschiedene, nicht immer geradlinig verlaufende Weise eingesetzt werden können. Die Entwicklung einer bestimmten Behauptung kann vom Zielpublikum, von kurzfristigen Zielsetzungen und – auch wenn dies schwieriger zu belegen ist – von den eigentlichen Überzeugungen des Akteurs abhängen. Was den Krieg in der Ukraine anbelangt, können wir mehrere Gründen identifizieren, warum Putin und seine Unterstützer:innen glauben könnten, dass verschwörungstheoretische Behauptungen für sie wertvoll sind. Während die unterschiedlichen Gruppierungen im Kreml öffentlich die gleiche Generallinie vertreten, gibt es einige Akteur:innen – etwa den stellvertretenden Vorsitzenden des russischen Sicherheitsrates, Dmitrij Medwedjew, Patriarch Kyrill oder der Sekretär des Sicherheitsrates, Nikolaj Patruschew –, die sich stärker mit bestimmten Narrativen hervortun. Das könnte auf Anweisung geschehen oder aus freien Stücken erfolgen. Kremlnahe Fernsehfiguren sorgen dann dafür, dass diese Narrative ein breites Publikum erreichen.

Überzeugen. Der direkteste Zweck von Verschwörungstheorien zielt darauf ab, eine Änderung bei den Ansichten des jeweiligen Zielpublikums zu bewirken. Seit Beginn des Krieges hat Russland versucht, seine Zuhörerschaft davon zu überzeugen, dass das Vorgehen des Landes gerechtfertigt ist und deshalb unterstützt werden muss. Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass Russland nicht als Aggressor, sondern Opfer dargestellt wird. Was auch dazu führt, dass die Dimension des Konflikts neu gedacht wird (s. Toal 2017). Würden Russland und die Ukraine als die einzigen Konfliktparteien dastehen, würde das angesichts der Sinnlosigkeit und des Umstands, dass der Einmarsch durch nichts provoziert wurde, zu dem Schluss führen, dass Russland der Aggressor ist. Wenn allerdings Russland in einem Kampf gegen die vereinten Kräfte der USA und Europas verwickelt wäre und die Ukraine dabei nur als Stellvertreterin fungiert, dann wäre Russland der Underdog mit dem Recht, sich zu verteidigen. Putin hat den Großteil der Zeit nach seinem Machtantritt versucht, diese Version der Geschichte zu verkaufen. Diese Argumente sind für Rezipient:innen nicht notwendigerweise überzeugend, doch zeigen Studien, dass Wiederholungen über einen längeren Zeitraum und der Mangel an alternativen Darstellungen dazu beitragen, den beabsichtigten Effekt zu erzielen (s. Enikolopov et al. 2011).

Signale senden. Verschwörungstheorien können derart gestaltet sein, dass sie implizit Botschaften über ihre:n Verfasser:in transportieren. Zum einen kann der Verweis auf eine Verschwörung ein Mittel sein, um die eigene Macht zu demonstrieren, weil die angeblichen Informationen zur vermeintlichen Verschwörung oft den Zugang zu geheimen, nachrichtendienstlichen Informationen oder technischen Fähigkeiten voraussetzen. Zweitens wird durch ein enormes Aufblähen der Dimensionen einer Verschwörung und den Hinweis, dass existenziell viel auf dem Spiel steht, eine entsprechend starke Reaktion für notwendig erklärt. Damit kann Entschlossenheit signalisiert und beim Zielpublikum Angst geschürt werden (s. Radnitz 2021). Das ist auch bei den widerwärtigen Behauptungen über ukrainische Nazis der Fall, indem auf einen universellen Bösewicht verwiesen wird, der auch eine der Grundlagen für den seit dem »Großen Vaterländischen Krieg« in der UdSSR und Russland dominierenden Mythos bildet. Diese Logik steckt auch hinter unregelmäßig wiederkehrenden Behauptungen über eine aktuell drohende Gefahr, etwa die angeblichen Pläne der Ukraine für den Einsatz einer schmutzigen Bombe unter falscher Flagge oder die Produktion US-finanzierter Biowaffen in der Ukraine (s. Qiu 2022). Es ist schwer einzuschätzen, auf welche Weise Rhetorik die Wahrnehmungen der Öffentlichkeit hinsichtlich der Macht und Entschlossenheit der Regierung beeinflusst. Schließlich kann das Fehlen abweichender Ansichten auch auf den demonstrativen Einsatz von Repression zurückgeführt werden. So kann sowohl Repression als auch das Signalisieren bei Meinungsumfragen zu Selbstzensur bei den Befragten führen (siehe unten).

Verwirrung stiften. Wenn sie im Übermaß eingesetzt werden, können Verschwörungstheorien eine weitere Funktion erfüllen: Sie können die Fähigkeit der Menschen beeinträchtigen, in widersprüchlichen Informationen einen Sinn zu erkennen. Hier geht es nicht um den böswilligen Aspekt von Verschwörungstheorien, sondern deren schwache Verbindung zur Wahrheit. Wenn schlüssige und wiederholt verbreitete Narrative bestimmte Überzeugungen hervorbringen sollen, dann sorgt eine Vielzahl nicht schlüssiger und widersprüchlicher Narrative eher für Verwirrung. So etwas kann der Ablenkung dienen: Wenn Russland glaubhaft eine Gräueltat vorgeworfen wird, sind Behauptungen, die die Schuld in verschiedenen Richtungen suchen, ein Weg, von der Verantwortung abzulenken. Der Kreml hatte diese Taktik verfolgt, nachdem 2014 die von Russland unterstützten Separatisten glaubhaft mit dem Abschuss der Boeing des Fluges MH17 in Verbindung gebracht wurden. Und er hat dies in diesem Krieg seither viele Male getan, unter anderem nach dem Beschuss der Geburtsklinik in Mariupol (s. Ber 2022). Mit der Zeit, so argumentieren einige, neigen die Menschen dazu, die Suche nach der Wahrheit aufzugeben und einfach abzuschalten. Sie dürften allerdings möglicherweise noch stärker dazu neigen, zu anderen Informationsquellen zu wechseln oder auf eigene Erfahrungen zurückzugreifen (s. Szostek 2018).

Zielpublikum von Verschwörungstheorien

Inland. Russland richtet verschwörungstheoretische Behauptungen an verschiedene Zielgruppen, und zu bestimmten Zwecken. Wie bei anderen autoritären Regimen auch sind Teile der Öffentlichkeit im Lande selbst seit langem die wichtigsten Adressaten für die Propaganda des Kreml (s. Guriev und Treisman 2022). Die russische Regierung versucht, die öffentliche Unterstützung für den Krieg aufrechtzuerhalten und den Ausbruch von Massenprotesten zu verhindern. Sie ist daher bestrebt, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die NATO in Russland einmarschieren würde, wenn Russland nicht in der Ukraine kämpfte. Um hörbarem Widerspruch entgegenzutreten und kriegsfreundliche Aktivist:innen zu mobilisieren, hat Putin vor »fünften Kolonnen« gewarnt, deren westliche Orientierung die Solidarität innerhalb des Landes bedrohe (s. Mylonas und Radnitz, 2022). Auch eine überzogene Rhetorik über die schwerwiegenden Folgen eines russischen Nachgebens soll signalisieren, dass Putin es ernst meint. Der Zweck könnte sein, potenzielle Kritiker:innen dazu zu bringen zweimal nachzudenken, bevor sie aktiv werden. Oder es sollen Rekruten davor abgeschreckt werden, sich dem Militärdienst zu entziehen.

Die Regierung verfügt über die notwendigen Kapazitäten, um ihre Botschaften über eine Vielzahl von Kanälen zu propagieren. In erster Linie erfolgt dies über das staatlich kontrollierte Fernsehen, das wichtigste Medium, über das die Russ:innen Nachrichten beziehen. Die verschwörungstheoretischen Sichtweisen werden direkt über die Nachrichtensendungen verbreitet und von kremlfreundlichen Kommentator:innen und Expert:innen verstärkt, die in den populären abendlichen Talkshows auftreten. Auch im Internet, auf vom Kreml kontrollierten Internetseiten und auf sozialen Medien wie VK und Telegram kursieren Verschwörungstheorien (s. Cottiero et al. 2015). Wenn Menschen also unschlüssige und mehrdeutige Ansichten zum Krieg ausdrücken, ist das nicht zwingend darauf zurückzuführen, dass sie nicht den Botschaften der Regierung ausgesetzt waren.

International. Ein weiteres Zielpublikum ist international angesiedelt und umfasst zwei Gruppen, die den strategischen Interessen des Kreml dienen sollen. Zum einen sind das die Staaten im Mittleren und Nahen Osten, Lateinamerika, Asien und Afrika, deren Eliten der US-amerikanischen Macht skeptisch gegenüberstehen und versuchen, in ihren Außenbeziehungen unabhängig zu bleiben. Verschwörungstheorien, die über Fernsehkanäle wie RT und Sputnik in der jeweiligen Landessprache verbreitet werden und sich gegen den Westen richten, könnten dort auf fruchtbaren Boden fallen, wo die Bevölkerung der vom Westen und den USA dominierten internationalen Ordnung ablehnend gegenübersteht. Der Kreml hofft, dass die dortigen Regierungen dazu gedrängt oder darin unterstützt werden, Russland bei der Umgehung von Sanktionen zu helfen oder US-amerikanischen und europäischen diplomatischen Initiativen entgegenzuwirken.

Die andere Gruppe im Ausland besteht aus unzufriedenen und insbesondere rechten Wähler:innen in demokratischen Ländern. Menschen, die von ihrem politischen System entfremdet und über die EU-Politik wütend sind, könnten für die Rhetorik des Kremls über Fragen wie Diversität, Immigration und traditionelle Werte sowie für russische Verschwörungstheorien über die Ukraine und Länder des Westens empfänglich sein. Auch Bürger:innen, die wegen der hohen Energiepreise oder den Kosten für die militärische Unterstützung der Ukraine aufgebracht sind, könnten angesprochen werden. Eine Mobilisierung sympathisierender Teile der demokratischen Öffentlichkeit kann dazu beitragen, dass es zu Störungen der Politik kommt, prorussische Regierungen gewählt werden oder die öffentliche Unterstützung für die Ukraine erodiert (s. Roonemaa et al. 2022).

Ukrainer:innen. Das dritte Zielpublikum ist in der Ukraine angesiedelt. Die meisten Menschen in der Ukraine dürften den Verschwörungen wohl nicht auf den Leim gehen, da ihr Land gerade von Russland besetzt wird. Der Kreml hat aber versucht, Menschen in den historisch prorussischen Gegenden der Ost- und Südukraine davon zu überzeugen, dass sie in Wirklichkeit von der ukrainischen Zentralregierung in Kyjiw angegriffen werden. Moskau kann diesen Versuch zur Ausweitung der Reichweite seiner Verschwörungstheorien unternehmen, weil die Menschen in den Grenzregionen eher russisches Fernsehen schauen, das Kyjiw nicht blockieren kann (s. Gall 2023). Russland versucht somit, in der Ukraine eine »fünfte Kolonne« zu schaffen oder zumindest die Geschlossenheit der Ukraine zu beeinträchtigen. Es gibt sporadische Berichte, dass Menschen, die bereits dazu neigen, Russland zu vertrauen, diesen Behauptungen dann auch glauben. Allerdings machen die Umstände vor Ort – die ja zeigen, dass die historisch russischsprachigen Gegenden die Hauptlast der Brutalität Russlands zu tragen hatten – es schwieriger, die Herzen und Köpfe dort zu gewinnen (s. Gibbons-Neff und Yermak 2022).

Schlussfolgerungen

Die Frage, ob Verschwörungstheorien »funktionieren« können, ist nur schwer zu beantworten. Einerseits haben viele Studien, die Jahre zurückreichen, festgestellt, dass antiwestlichen Verschwörungstheorien durchaus Glauben geschenkt wird: dass die NATO eine Bedrohung darstellt, dass der Westen versucht, russische Werte zu zersetzen, und dass der Euromajdan ein insgeheim vom Westen betriebener Staatsstreich war (s. Levada 2016). Berichte während des Krieges besagen, dass diese Einstellungen weiterhin bestehen, auch wenn sie nicht direkt mit der Unterstützung für den Krieg korrelieren (s. Meduza 2023). Meinungsumfragen in einem autoritären Regime und in Kriegszeiten werden wohl kaum ehrliche Antworten hervorbringen, und die Daten zur Unterstützung für Putin und den Krieg lassen Raum für unterschiedliche Interpretation (s. hierzu die Russland-Analysen Nr. 430: https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/430/).

Andererseits ist es eher das Verhalten und weniger die vorgetragenen Ansichten, die Hinweise liefern, dass Verschwörungstheorien als Mittel zur Überzeugung oder Einschüchterung versagen. Im September 2022 verkündete die Regierung eine massive Mobilmachung für Wehrpflichtige für den Kriegseinsatz. Hunderttausende Männer im wehrpflichtigen Alter flohen lieber aus dem Land als das Risiko einzugehen, in den Krieg gegen die Ukraine geschickt zu werden. Eine Interpretation ist hier, dass das auf schlichten Selbsterhalt hindeutet. Aber wenn Putins Rhetorik, dass der Krieg für das Überleben Russlands notwendig ist, glaubwürdiger wäre, wäre nicht eine derart weit verbreitete Entscheidung für ein Exil zulasten des Dienstes am Vaterland zu beobachten gewesen (s. Radnitz 2022, Propaganda). Es deutet zumindest darauf hin, dass es viele Russ:innen gab, die von der Propaganda des Kremls nicht überzeugt waren.

Verschwörungstheorien sind seit langem Teil des politischen Repertoires und sind weltweit eine beliebte rhetorische Form, auch in Demokratien. Da sie als Propaganda in Erscheinung treten, ist es wenig überraschend, dass sie in Kriegszeiten in Ergänzung zu den militärischen Operationen eingesetzt werden. Ihre Wirkung sollte nicht überschätzt werden, da andere Faktoren – unter anderem militärische Stärke, Strategie, Moral und die Stabilität des Regimes – eine viel größere Rolle für den Kriegsverlauf spielen. Doch spiegeln Verschwörungstheorien wenigstens die geopolitische Weltsicht der russischen Regierung wider. Auch liefern sie im Kontext einer militärischen Auseinandersetzung eine strategische Unterfütterung. Es wäre also fahrlässig, Verschwörungstheorien außer Acht zu lassen.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

 

 

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