Ausgeschlossen

Von Jens Siegert (Moskau)

Es gibt keinen direkten Luftverkehr mehr zwischen Russland und dem Westen. Die Eisenbahnverbindungen nach EU-Europa sind unterbrochen. Schiffe verkehren nicht mehr zwischen russischen und EU-Häfen in der Ostsee. Auch Reisebusse können die wenigen Grenzübergänge nach Lettland, Estland, Finnland und Norwegen nicht mehr passieren, nur noch Privatautos. Dort sind Fußgänger:innen zum sichtbarsten Ausdruck der unterbrochenen Verbindungen geworden. Sie kommen mit PKWs oder Kleinbussen von der einen Seite an die Grenze, ziehen dann ihre Rollkoffer und Kinder die 300 oder 500 Meter zwischen den Grenzposten hinter sich her, um auf der anderen Seite zur Weiterfahrt wieder in wartende Autos zu steigen.

War es bisher eher des Kremls Bestreben, das seit 1990 ziemlich offene Land Stück für Stück wieder vom Rest der Welt abzuschließen, geht seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine die Initiative vom Westen aus. Die unterbrochenen Verkehrsverbindungen sind Teil der Sanktionen. Für russische Bürger:innen gilt seither, unabhängig davon, ob sie den Krieg unterstützen oder nicht: mitgefangen, mitgehangen. Das ist erst einmal verständlich. Die Sanktionen mussten schnell verhängt werden und für Differenzierungen war wenig Zeit. Es gibt aber durchaus Rufe, Russland noch weiter abzuschotten, praktisch zu blockieren. Anfang April 2022 legte der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki einen Zehn-Punkte-Plan vor, demzufolge auch alle Grenzübergänge an Land geschlossen werden und russische Staatsbürger:innen keine EU-Visa mehr erhalten sollten (https://tvpworld.com/59265872/polish-pm-unveils-10point-plan-to-stop-the-war-in-ukraine).

Immer mehr EU-Institutionen und -Organisationen, staatliche, staatlich finanzierte, aber auch private, stellen die Zusammenarbeit mit russischen Partnern ein. Russische Sportler:innen werden von internationalen Wettbewerben ausgeschlossen. Kooperationen mit russischen Wissenschaftler:innen werden beendet. Auslaufende Verträge nicht verlängert. Vieles davon muss geschehen, weil es die Sanktionen vorschreiben. Das Engagement geht aber nicht selten darüber hinaus. Privatunternehmen ziehen sich aus Russland zurück oder müssen sich umständlich erklären, wenn sie das nicht tun, wie jüngst der Chef des Medizinkonzerns Fresenius, Stephan Sturm, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/fresenius-chef-sturm-kein-rueckzug-aus-russland-17980170.html).

Auch für Russ:innen, die sich schon in der EU aufhalten, egal, ob sie nun schon vor dem Krieg dort waren oder nach Kriegsausbruch gekommen sind, ist die Luft rauer geworden. Russlanddeutsche berichten davon, immer wieder nach ihrer Loyalität gefragt zu werden. Verträge mit Künstler:innen werden gekündigt, wenn sie sich nicht deutlich genug gegen den Krieg aussprechen. Anfang des Krieges gab es Berichte von Restaurants und Läden, in denen Russ:innen nicht willkommen waren. Einige Universitäten relegierten aus Russland stammende Studierende. Solche Berichte gibt es inzwischen glücklicherweise weniger.

Das alles hat natürlich gute moralische und politische Gründe. Es geht wohl allen in erster Linie darum, so gut es eben geht, zu versuchen, der russischen Aggression gegen die Ukraine Einhalt zu gebieten. Da ist das Kappen oder zumindest das Unterbrechen vieler Verbindungen ein einfaches, schnelles und praktisches Mittel, auch, um zu zeigen, dass man es ernst meint. Aber spätestens jetzt, nachdem der Krieg schon mehr als zwei Monate dauert und der erste Schock abgeklungen ist (oder sein sollte), ist dieses flächendeckende Vorgehen nicht mehr klug. Vielmehr sollten wir es uns leisten, auf den Einzelfall zu schauen und darauf zu achten, dass es auch in Russland nicht wenige Menschen gibt, die gegen diesen Krieg sind, ja, sich öffentlich gegen ihn aussprechen und engagieren – und damit Geldstrafen riskieren und sogar im Gefängnis zu landen. Über 1.000 Verfahren zählen die Polizeibeobachter:innen von OWD-Info schon aufgrund des sogenannten Fake-News-Gesetzes.

Ja, laut Umfragen ist in Russland die Zustimmung für Putin und den Krieg groß. Und selbst wenn man in Betracht zieht, wie zweifelhaft Umfragen in einem immer autoritärer regierten Land sind, gibt es gute Gründe anzunehmen, dass sie tatsächlich hoch ist. Egal wie der Krieg ausgeht, Russland wird dann immer noch da sein. Wenn sich in Russland nichts ändert, ob nun mit oder ohne Putin, wird auch die gegenwärtige Bedrohung weiter bestehen. Um die Bedrohung, die momentan von dem Land ausgeht, zu verringern, muss sich das Land verändern. Diese Veränderung wird letztendlich nur von innen kommen können. Meine inzwischen mehr als 30 Jahre lange Erfahrung mit Demokratieförderung in Russland hat mich vor allem Demut gelehrt, wie wenig Einfluss wir von außen haben und wie sehr es darauf ankommt, was die Menschen im Land selbst wollen und können.

Die besondere Gewalt, die heute von Russland ausgeht, ist Aggression und Autoaggression in einem. Sie ist – jetzt wird es ein wenig dialektisch – Ausdruck, Grund und Folge eines autoritären Staates gleichzeitig, in dem die Menschen Gemeinschaft, aber nicht Gesellschaft sein dürfen. Tragen die Menschen in Russland dafür zumindest eine Mitverantwortung? Aber natürlich. Sind alle Menschen in Russland so? Natürlich nicht! Eine langfristige Lösung für Russland kann aber nur darin liegen, den Menschen zu helfen, die dazu bereit sind, das Land zu verändern. Das klingt gegenwärtig vielleicht etwas utopisch, ja gar naiv oder ein wenig verrückt. Es gibt aber keine Alternative, wollen wir einst wieder einigermaßen sicher in Europa leben.

Es gibt keine genauen Zahlen, aber nach unterschiedlichen Schätzungen haben seit Kriegsbeginn wohl mindestens 250.000 Menschen das Land verlassen. Gleichzeitig sind viele, die gegen den Krieg sind (und das auch, mehr oder weniger laut, sagen) geblieben und einige sogar zurückgekehrt. Beide, die Ausgereisten wie die Gebliebenen, brauchen unsere Unterstützung. Die beste Unterstützung ist, die Zusammenarbeit mit ihnen fortzusetzen, sie nicht zu unterbrechen, so gut gemeint die Motive auch sein mögen.

Die Verlegerin Irina Prochorowa berichtet zum Beispiel von westlichen Verlagen, die die Zusammenarbeit mit dem von ihr gegründeten und geleiteten Verlag Nowoje Literaturnoje Obosrenije eingestellt haben, um ein Zeichen der Solidarität mit der Ukraine zu setzen. Das hilft niemandem, sondern ist wohlfeil. Prochorowa popularisiert seit 30 Jahren mit ihrem Verlag internationale geisteswissenschaftliche Literatur auf Russisch. Solange auch immer so etwas in Russland noch möglich ist, sollten wir es wo immer und wie immer möglich unterstützen.

Es gibt übrigens noch einen Grund, gerade jetzt nicht nachzulassen und in demokratische russische Kräfte zu investieren. Auch wenn die russische Affäre mit Demokratie noch ganz am Anfang steht, lässt sich doch schon eine Gemeinsamkeit vieler Demokratisierungsschübe in Russland sehen: Sie geschahen oft nach oder in einem verlorenen Krieg: die Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 nach dem Krimkrieg; die Revolution von 1905 nach dem Russisch-Japanischen-Krieg; die Februarrevolution von 1917 im Ersten Weltkrieg; die Perestroika in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre am Ende des Kalten Kriegs. Umso mehr sollten wir besser vorbereitet sein als beim letzten Mal 1990, vor allem aber den Menschen in Russland, die das auch wollen, dabei helfen, sich und das Land selbst besser vorzubereiten.

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