Militärmanöver: Scheinschlachten oder Vorboten des Krieges?

Von Jon-Wyatt Matlack (Universität Regensburg)

Zusammenfassung
Manöver bieten einen Blick darauf, wie Krieg in den Köpfen militärischer Akteure beginnt, abläuft und endet. Sie können somit ein Vorspiel zu konkreten Auseinandersetzungen darstellen. Im Hinblick auf die jüngste europäische Geschichte werden Schlussfolgerungen zur Deutung russischer Militärmanöver wie etwa die Sapad-Reihe gezogen, die in letzter Zeit stattfanden. Initiativen zur Vertrauensbildung durch das Wiener Dokument der OSZE wurden von Russland verhindert, da Manöver kaum vorab angekündigt wurden. Zudem scheinen Truppenübungen ein wesentlicher Bestandteil von Russlands militärischem Dispositiv zu sein, welches unter anderem auch auf das historische Erbe der Sowjetunion zurückzuführen ist.

Russland ist am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert. Aber bereits vor dieser Invasion gab es mehrere Militärmanöver der russischen Streitkräfte auf dem osteuropäischen Kriegsschauplatz. Seit dem 10. Februar haben die russischen und belarusischen Streitkräfte eine gemeinsame Übung ungewöhnlich nahe an der ukrainischen Grenze abgehalten. Angeblich probten die beiden alliierten Länder lediglich die Abwehr einer »externen Aggression« im Rahmen eines Verteidigungseinsatzes. Im Nachhinein ist diese angebliche Übung nun als ein Tarnmanöver für den kurz darauffolgenden Angriffskrieg gegen die Ukraine zu bewerten.

Um derartige Militärmanöver besser zu verstehen, müssen diese im Kontext der jüngsten europäischen Geschichte betrachtet werden. Denn schon im Kalten Krieg sprachen die Medien häufig von der angeblich »größten Truppenverlegung in der Geschichte«. Truppenstärken oder die territoriale Ausdehnung des Einsatzortes sind aber nicht immer von primärer Bedeutung. Ausschlaggebend ist die Art und Weise, wie die beteiligten Streitkräfte die Truppenübungen öffentlich begleiten.

Im Jahr 2017 hielt Russland das alle vier Jahre stattfindende Manöver Sapad 2017 (»Westen«) ab. Daran nahmen 100.000 Soldaten teil, die einen Angriff des fiktiven Landes »Wejschnorija« auf russisches und belarusisches Staatsgebiet abwehrten. Wejschnorija war von westlichen Mächten angestachelt worden, einen Regimewechsel in Russland zu forcieren, so das Narrativ des Manövers. Vier Jahre zuvor bei Sapad 2013 probten die Militärs den Einsatz gegen Terroristen. Tatsächlich wurde das Szenario eines vermeintlich faschistischen Angriffs auf Russland schon in den 1970er und 1980er Jahren im Rahmen diverser Sapad-Manöver durchgespielt (https://ecfr.eu/article/commentary_belarus_game_of_truancy_7232/). Die strategische Stoßrichtung der beteiligten Truppenverbände deutete allerdings darauf hin, dass Russland nicht nur den Verteidigungsfall übte. Mit dieser Art der Übung vermittelten Russland und Belarus ein Bild von einem Kriegsszenario, wie es damals noch der Vorstellung der relevanten Bedrohungslage entsprach.

Zwei Übungen, Peacekeeper 94 und Centrazbat 97, die in den 1990er Jahren von russischen und amerikanischen Truppen abgehalten wurden, gingen zum Beispiel von einem antiterroristischen Friedenseinsatz aus. Dieses Beispiel für eine Kooperation von Militärmächten, die sich im Kalten Krieg als Feinde gegenüberstanden, veranschaulicht, dass der Übungsaspekt im Zuge dieser Manöver nicht der alleinige Zweck ist. Bei derartigen Großmanövern streben Militärs immer auch an, politische Ziele zu erreichen und Einfluss auf die internationalen Beziehungen auszuüben. In der Rückschau ist der politische Optimismus jener Zeit, der sich auch auf den Verlauf der Manöver niederschlug, bemerkenswert. Trotz einer Stellungnahme der russischen Staatsduma, in der das russische Parlament ihre Ablehnung dieses gemeinsamen Manövers mit den USA zum Ausdruck brachte, wies der damalige General Witalij Sokolow als stellvertretender Chef der Gefechtsausbildung diese Kritik zurück. Weil er keine äußere Bedrohung für Russland wahrnahm, plädierte der General stattdessen für weitere Manöver, die dem Zweck der Friedenssicherung dienen sollten.

In seiner Rede am 24. Februar 2022 sprach Präsident Putin kurz vor dem Einmarsch davon, dass Russland von neofaschistischen Mächten in der Ukraine bedroht wäre. Die Lage wurde angeblich wegen der Aufrüstung der Ukraine durch die NATO intensiviert, so Putin. Somit nimmt er direkten Bezug auf die damalige rhetorische Darstellung des Sapad 2017 Manövers, als ein Marionettenregime des Westens Russland gefährdete. Im Frühjahr 2021 fanden Manöver an 520 Orten in Russland statt, bei denen unter anderem die rasche Verlegung von Truppen aus den östlichen Militärbezirken nach Westen geübt wurde (https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2021A39_moskau_truppenverstaerkung.pdf). Doch waren die Absichten dieser Truppenverlegung Russlands im Frühjahr 2021 noch nicht klar. Bei einem Treffen der OSZE im April 2021 erhoben Deutschland und Frankreich Einspruch gegen diese großangelegte Truppenbewegung an der ukrainischen Grenze und riefen Russland dazu auf, den Verpflichtungen des Wiener Dokuments nachzukommen (https://wien-osze.diplo.de/osze-de/aktuelles/-/2453274). Auch der ukrainische Präsident Selenskyj bezeichnete damals im April die bevorstehende Sapad-Übung 2021 als eine Bedrohung für die Sicherheit der Ukraine. Russland hätte damals ganz einfach seine defensive Haltung unter Beweis stellen können, wenn die militärischen Entscheidungsträger ihre Manöververhalten im Einklang mit vereinbarten Verträgen gebracht hätten.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Manöver natürlich nicht immer zwangsläufig auf eine bevorstehende Invasion hindeuten. Damals hielten die russischen Truppen auch noch einen ordentlichen Abstand von 150 km zur ukrainischen Grenze ein. Ein derartiges Verhalten bei Manövern signalisiert jedoch Russlands Entschlossenheit, jederzeit Gebrauch von militärischer Gewalt machen zu können, wie wir es eigentlich nur noch aus dem 20. Jahrhundert kennen. Darüber hinaus scheint eine zentrale Erkenntnis zu sein, dass Russland Manöver systematisch instrumentalisiert, um sich für baldige Kriegseinsätze vorzubereiten. Die Manövererfahrung aus Übungen wie Sapad 2013 konnten bei der Annexion der Krim ein Jahr später teilweise in die Praxis umgesetzt werden. Auch beim Manöver Zentr 2015 gab es eine Überprüfung der Kampfbereitschaft auf ungewöhnlichem Terrain für die beteiligten Verbände. So wappneten sich die Truppen für den Einsatz in Syrien, obwohl dieser informelle Aspekt der Übung nie als solcher deklariert wurde (https://russlandverstehen.eu/fuecks-becker-faktencheck-einkreisung-russland-nato/). Daraus lässt sich ableiten, wie unverzichtbar Manöver zur Vorbereitung von möglichen militärischen Auseinandersetzungen für die russischen Verteidigungsinteressen sind.

Manöver vermessen

Militärmanöver sind aus konstruktivistischer Sicht Ereignisse, die es den beteiligten Streitkräften ermöglichen, ein gewisses Selbstverständnis zu entwickeln und gleichzeitig ihr Gegenüber klarer zu definieren. Diese Sichtweise sollte nicht als eine rein akademische Interpretation ernst gemeinter militärischer Operationen verstanden werden. Der Wert dieser Übungen für die militärische Ausbildung kann nicht einfach zu Gunsten einer rein performativen Perspektive außer Acht gelassen werden. Ganz im Gegenteil: Die Konstruktion des eigenen Selbstverständnisses in Abgrenzung zu einem Anderen war sowohl für die beteiligten Soldaten als auch für die breitere Öffentlichkeit einer der wichtigsten Aspekte militärischer Übungen. Manöverpraktiken spiegeln die entsprechenden Sichtweisen eines Landes wider, wodurch in gewisser Hinsicht auch die eigene Identität zur Schau gestellt wird. Wie Sönke Neitzel bezüglich der Bundeswehr im Kalten Krieg schrieb, litt das Militär unter dem Zwang, im Rahmen der Militärmanöver »Jahr für Jahr Theater zu spielen«. »Um gegenüber den Verbündeten zumindest den Eindruck von halbwegs leistungsfähigen Verbänden zu erwecken«, wurde nichts weniger als die Glaubhaftigkeit der Bundeswehr aufs Spiel gesetzt. Insofern bezweckten Manöver der Bundeswehr politischen Mehrwert innerhalb des NATO-Bündnisses, um wahrgenommene Defizite auszugleichen.

Die Historikerin Beatrice Heuser formulierte ein überzeugendes Argument in Bezug auf Militärmanöver. Ihrer Ansicht nach gibt es seit dem Ende des Kalten Krieges eine sogenannte »exercise gap«, in Anlehnung an das »missile gap« (die wahrgenommene Überzahl sowjetischer Langstreckenraketen im Vergleich zum Westen) der 1960er-Jahre. Aufgrund der schwachen Leistung im Krieg in Georgien im Jahr 2008 war Russland seit 2009 bestrebt, im Zuge der Neuausrichtung der russischen Streitkräfte Manöver wieder ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen. Die NATO hielt hingegen Übungen in viel bescheidenerem Ausmaß ab. Bei der NATO-Übung Defender Europe 21 waren nach Angaben der U.S. Army 28.000 Soldaten beteiligt, deutlich weniger als bei Sapad 2021. Einer Einschätzung der Bundesregierung zufolge waren 200.000 Soldaten an Sapad 2021 beteiligt. Dies könnte aus konstruktivistischer Sicht zur Fehlinterpretation verleiten, dass der Verteidigungswille der NATO-Mitglieder seit dem Ende des Kalten Krieges nachgelassen hat, etwa was die Abwehr von einer etwaigen Aggression gegen die drei baltischen Länder anbelangt. Heuser weist auch auf die möglichen Missverständnisse und deren ungewollte Folgen hin, die aufgrund der Intensität der Scheingefechte als »echte« militärische Bedrohung wahrgenommen werden könnten.

Für Russland sind Manöver eine bewährte Methode und nützliche Gelegenheit, die Bedrohung durch die NATO nicht nur rein rhetorisch, sondern auch in der Praxis aufzuzeigen. Eine Gefährdung Russlands durch die von Präsident Putin vehement abgelehnte Osterweiterung der NATO wird mit ständigen Manövern in Echtzeit demonstriert und bringt diese wahrgenommene Gefahr ganz praktisch zum Ausdruck. Damit soll erreicht werden, dass zumindest bei Übungen Russland als führende Militärmacht mit der NATO in der Wahrnehmung gleichgestellt wird, obwohl das reale Kräfteverhältnis konventioneller Kapazitäten (welches derzeit zugunsten der NATO ausfällt) durch diese Manöver verzerrt dargestellt wird. Der NATO stehen zum Beispiel 3.366.000 militärisches Personal im aktiven Dienst zur Verfügung, wohingegen Russlands Truppen sich auf lediglich 850.000 belaufen. (https://www.statista.com/statistics/1293174/nato-russia-military-comparison/). Insofern dienen Militärmanöver auch dazu, parallele Realitäten zu konstruieren.

Hintergrund Kalter Krieg

Die Vorgeschichte des Kalten Krieges ist für die Analyse heutiger Militärmanöver von großem Wert. Denn schon in der Vergangenheit waren zeitgenössische Beobachter bemüht, unterschiedliche Erklärungen für die Beweggründe in Betracht zu ziehen, die hinter solchen Militärmanövern steckten.

Kaum ein Zeitungsartikel über das Militär in Deutschland war so einflussreich wie der im Jahr 1962 erschienene Spiegel-Artikel »Bedingt abwehrbereit« (https://www.spiegel.de/politik/bedingt-abwehrbereit-a-e79111b5-0002-0001-0000-000025673830). Darin wurde beschrieben, wie die Bundeswehr bei einer Stabsübung ihre Verteidigungsunfähigkeit im Falle eines sowjetischen Angriffs unter Beweis gestellt hatte. »Bedingt abwehrbereit« wurde zum geflügelten Wort und ist häufig in Schlagzeilen zu finden, wenn die mangelhafte Ausrüstung der Bundeswehr zur Debatte steht. Damals schwang aber immer noch die Anspielung mit, dass ein Manöver einen Überraschungsangriff zur Folge gehabt haben könnte, weil damit die Schwäche der Verteidigungsinfrastruktur offenkundig geworden war.

Vor allem in den 1950er- und 60er-Jahren war die Gesamtstärke der NATO dem Warschauer Pakt in fast jeglicher Hinsicht unterlegen. Eine »bedingt abwehrbereite« Bundeswehr wäre mit ihrer damaligen Kampfkraft überhaupt nicht in der Lage gewesen, gegen die Sowjetunion in die Offensive zu gehen. NATO-Übungen wie die »REFORGER-Reihe« (Rückkehr von Streitkräften nach Deutschland, jährlich von 1969 bis 1993) haben sich maßgeblich auf die erfolgreiche Durchführung einer raschen Verschiffung von amerikanischen Soldaten aus Nordamerika nach Europa konzentriert. Diese multilaterale Herangehensweise sollte der breiten Öffentlichkeit die Solidarität des atlantischen Bündnisses vermitteln und gleichzeitig zeigen, »dass die Alliierten in enger Integration fechten können« (»Befehl für die Übung ›Schwarzer Löwe‹«, 05.07.1968, BArch-MA, BH 7-2/351). Was die Identitätsfrage anbelangt, war es im deutschen Kontext äußerst wichtig, den Eindruck zu vermitteln, dass die düstere Vergangenheit der Wehrmacht dank militärischer Zusammenarbeit innerhalb der NATO der Vergangenheit angehört. Deutsche Soldaten würden im Falle eines Krieges lediglich defensiv und »Seite an Seite mit den Partnern« kämpfen (»Grundlegende Vorbemerkungen des Kommandierenden Generals«, 05.07.1968, BArch-MA, BH 7-2/351).

Im Kalten Krieg wollte die Bundeswehr durch Manöver ein gepflegtes und souveränes Auftreten signalisieren. Die Entscheidungsträger in Bonn waren sich aber der katastrophalen Folgen bewusst, die eine gezielte Provokation durch die wieder aufgerüstete Bundeswehr hätte nach sich ziehen können. Aufgrund des Prager Frühlings im Sommer 1968 verlegte die Bundeswehr ein ursprünglich in Nordbayern geplantes Manöver namens Schwarzer Löwe in den Südwesten Deutschlands, um Missverständnisse zu vermeiden, etwa dass die NATO damit einen militärischen Vorstoß zur Befreiung Prags beabsichtigen könnte. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme zur Deeskalation wurde die Übung Schwarzer Löwe in einer noch nie dagewesenen Schärfe von der Presse in der DDR und der Sowjetunion attackiert. Walter Ulbricht instrumentalisierte derartige Manöver regelmäßig, um sie als Anzeichen drohender westlicher Aggression gegen den Warschauer Pakt zu brandmarken. Die Pläne der »NATO-Kriegstreiber« wurden öffentlich gerügt, um vor aller Welt »den Charakter dieses so christlich und friedlich gebärenden Staates zu entlarven« (Referat von E. Honecker, »Auswertung des NATO-Manövers ›Winterschild‹ in der BRD«, 20.02.1960, BArch B, DY 30/93319, S. 5). An den Manövern ließe sich der vermeintlich wahre Charakter und die Gesinnung des westlichen Lagers ableiten, so Ulbricht. Angesichts der zu diesem Zeitpunkt noch schmerzhaften Erinnerungen an den verbrecherischen Vernichtungskrieg der Nazis wurden in der DDR die Militärmanöver der Bundeswehr als vermeintliches Zeugnis des deutschen Revanchismus bewertet.

In der Realität erwies sich jedoch das genaue Gegenteil. Rhetorisch waren Manöver des Warschauer Paktes darauf ausgerichtet, vertrauensbildende Maßnahmen zur Vertiefung einer engen, sozialistischen Waffenbrüderschaft beizutragen. Während die NATO-Übung Schwarzer Löwe aufgrund politischer Ereignisse vorerst verschoben wurde, fand im Juli 1968 die Übung Šumava des Warschauer Pakts nahe an der nördlichen tschechoslowakischen Grenze statt, um zunächst die Regierung Dubčeks einzuschüchtern und die Umsetzung seines Liberalisierungsvorhabens zu verhindern. Nach mehr als zwanzig Jahren marschierte in die Tschechoslowakei keine Neuauflage der Wehrmacht der Bonner Republik ein, sondern die Nationale Volksarmee und die Rote Armee. Zuvor war die für die Intervention des Prager Frühlings notwendige Infrastruktur heimlich während des Manövers von Šumava von den Sowjets ausgebaut worden. Die Parallelen zur Vorbereitung auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine sind bemerkenswert.

Gefechtsübungen oder Kriegsvorbereitung?

Es wäre allerdings übermäßig deterministisch zu behaupten, die Manöver Russlands hätten von Anfang an die russischen Kriegsabsichten entlarvt. Nichtsdestotrotz zeigen Übungen wie die Serie von Sapad-Manövern Russlands Entschlossenheit, konventionelle Streitkräfte als Werkzeug der Politik einzusetzen. Seit 2009 investierte die russische Regierung 730 Milliarden US-Dollar in die Modernisierung der Streitkräfte. Die größere Schlagkraft und Leistungsfähigkeit des Militärs waren dann auch bei den Sapad-Übungen deutlich zu erkennen, woraus Russland wiederum sein gestiegenes Selbstbewusstsein in die eigenen Streitkräfte suggerierte.

Laut wissenschaftlichem Dienst des Deutschen Bundestags stellte das Sapad-Manöver im Jahr 2017 einen Aufbruch dar (https://www.bundestag.de/resource/blob/529936/f745b66845c9f7a7929b189aefe5fec1/WD-2-076-17-pdf-data.pdf). Im Nachhinein ist es sogar als ein Wendepunkt zu bezeichnen. Ursprünglich fanden in den Jahren 1973, 1977, 1981, 1984 und 1985 die Sapad-Übungen im Rahmen des Warschauer Paktes zur Stärkung des Bündnisses statt. Allerdings sind zwischen 1999 und 2009 keine Sapad-Manöver durchgeführt worden, vermutlich aufgrund fehlender politischer Notwendigkeit, die eigene Macht in Richtung Westen zu projizieren. Sapad 2013 ging noch von einem terroristischen Angriff aus, auch wenn die eingesetzte Truppenstärke schon weit über Kapazitäten hinausging, die für die Durchführung eines lokal begrenzten Einsatzes zur Bekämpfung von Terroristen notwendig gewesen wäre.

Das 1990 von Mitgliedsstaaten der OSZE verabschiedete Wiener Dokument (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/abruestung-ruestungskontrolle/-/203012) regelt unter anderem die Manöveraktivitäten der unterzeichnenden Parteien. Seit 1990 wurde das Dokument mehrfach (1992, 1994, 1999 und 2011) immer mit aktiver Teilnahme Russlands, überarbeitet. Sapad 2013 war gleichzeitig das erste und wohl letzte Großmanöver, das von Russland im Geiste dieses Wiener Dokuments dem NATO-Russland-Rat gemeldet wurde.

Mit der Rückkehr der NATO als primärer Antagonist der russischen Streitkräfte bei Sapad 2017 wurde die aufgeheizte politische Stimmung im Manöververlauf deutlich zum Ausdruck gebracht. Vertragsparteien des Wiener Dokuments sind verpflichtet, Manöver über 13.000 Soldaten ordnungsgemäß anzukündigen. Ein weiteres wichtiges Detail ist, dass innerhalb eines Kalenderjahres »kein Teilnehmerstaat gleichzeitig mehr als sechs der vorherigen Ankündigungen unterliegende militärische Aktivitäten durchführen« soll, »bei denen an jeder mehr als 13.000 Mann« beteiligt sind (VIII. Beschränkende Bestimmungen, 67.2). An Sapad 2017 nahmen allerdings mehr als 100.000 russische und belarusische Soldaten teil. Warum Russland oft von den Bestimmungen des Dokuments abwich, hatte also zwei Gründe. Erstens: Russland wollte Inspektionen des eigenen Militärs durch andere Vertragsparteien verhindern, welche bei einer Truppenstärke über 13.000 durchgeführt werden müssen. (https://www.pircenter.org/media/content/files/14/15754830230.pdf). Zweitens: Weil das Dokument keine Regelungen für spontane Übungen (sogenannte »snap exercises«) vorsah, wurden die neuesten Sapad-Manöver scheinbar ad hoc durchgeführt (https://brill.com/view/journals/shrs/30/1-4/article-p100_100.xml?language%3Den). Durch eklatante Missachtung dieser Bestimmungen wich Russland von der Ankündigungspflicht ab und unterwanderte damit Rechtsgültigkeit dieser Grundlagen insofern, als dass die russische Militärführung das Manöver in kleinere Übungen unter 13.000 Mann unterteilte. Die Weigerung Russlands, Manöver wie Sapad 2017, Sapad 2021 und die Übungen in Belarus im Februar 2022 anzukündigen, ist daher ein aussagekräftiger Beweis für den russischen Großmachtanspruch.

Fazit

Wenn Krieg eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, welche Rolle spielt dann die Generalprobe eines Krieges bei Militärmanövern? NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekräftigte die Relevanz dieser Problematik in Bezug auf die unangekündigten Militärmanövern Russlands. Stoltenberg bezeichnete die bisherige Regelung der Ankündigung von Militärmanövern als »veraltet«. In Zukunft könnte es dazu kommen, dass Manöver als genauso gefährlich wie Mittelstreckenraketen eingestuft werden. Ähnlich wie im Bereich der Rüstungskontrolle müssten sich hier die relevanten Akteure auf neue Regeln einigen. Der Aufmarsch von russischen Verbänden in Divisionsstärke im Februar 2022 im Rahmen einer angeblich gewöhnlichen Militärübung, auf die kurz darauf die russische Invasion der Ukraine folgte, unterstreicht die Wichtigkeit dieser Problematik deutlich.

In Bezug auf die nationale Identität lässt sich festhalten, dass Russland bei Manövern wie Sapad 2017 und 2021 auf der Weltbühne in einer Art und Weise auftrat, die die Vision Wladimir Putins von seinem Land untermauern sollten: Russland sollte in der Welt als eine bis an die Zähne bewaffnete Großmacht mit schlagkräftigen konventionellen Kapazitäten wahrgenommen werden, die bereit ist, sich gegen äußere Bedrohungen, so wie sie von Putin wahrgenommen werden, mit militärischer Gewalt vorzugehen. Russlands Invasion in die Ukraine gingen Artikel und Reden von Putin voran, aus denen seine geschichtsrevisionistische Begründung für den Einmarsch in die Ukraine offengelegt wurden. Diese fiktive Begründung Russlands steht allerdings in klarem Kontrast zu den sehr realen Folgen für die Ukraine.

Lesetipps / Bibliographie

  • Matlack, Jon-Wyatt (2021): Operation Barbarossa 2021: Practices (Re)Rendering the Myth of the ‘clean’ Wehrmacht in Contemporary Grand Strategy Computer Gaming. In: Frictions (28.07.2021), DOI: 10.15457/frictions/0007.
  • Neitzel, Sönke (2020): Deutsche Krieger: Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte, Propyläen, Kapitel IV, »Friedensarmee im Kalten Krieg«.
  • Holas, Lukáš (2018): Prospects for Russia-NATO Relations, in: Communist and Post-Communist Studies 51:2, Special Issue: NATO, Russia, and Regional Security in Europe and Eurasia, S. 151–160.
  • Zisk, Kimberley (1999): Contact Lenses: Explaining U.S.-Russian Military-to-Military Ties, in: Armed Forces & Society 25:4, S. 579–611.
  • Shakirov, Oleg (2019): The Future of the Vienna Document: Prospects for the Further Development of Confidence- and Security-Building Measures in Europe, in: Security Index Occasional Paper Series 5:1, S 1–27.

Zum Weiterlesen


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