Wahlen in der »Protestregion« Chabarowsk in Online- und sozialen Medien

Von Tatiana Golova (Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, Berlin)

Die Wahl des Gouverneurs in der Region Chabarowsk galt angesichts der Massenproteste nach der Verhaftung des »Volksgouverneurs« Sergej Furgal im Juli 2020 als brisant. Deswegen waren auch die Diskurse in den russischsprachigen sozialen Medien vielfältig und kontrovers. Soziale Medien bieten auch unter restriktiven Bedingungen Gelegenheiten für politisches Handeln und geteilte regionale und russlandweite Erfahrungsräume. In diesem Kommentar erläutere ich am Beispiel der Region Chabarowsk, wie in sozialen Medien und in regionalen Online-Medien über Wahlen und insbesondere über Gouverneurswahlen gesprochen wird und welche Diskursstränge und Interpretationen dort vorzufinden sind.

Die Region Chabarowsk zog 2020 viel Aufmerksamkeit auf sich: Die Verhaftung des damaligen Gouverneurs Sergej Furgal (LDPR) provozierte massive und anhaltende Proteste, bei denen politische und kremlkritische Parolen mit einer starken regionalen Identität und einem Diskurs über einen guten Gouverneur kombiniert wurden. Die sozialen Medien waren eine wichtige Sphäre für diese Mobilisierung. Der von Putin als Interimsgouverneur eingesetzte Michail Degtjarjow (LDPR) hatte alles andere als einen leichten Start in der Region.

Was spielte sich nun im Vorfeld der Wahlen in dieser vermeintlichen »Protestregion« ab? Um dies zu untersuchen, habe ich Posts und Kommentare in sozialen Medien über stichwortbasierte Textsuche mithilfe des Webdienstes Medialogia (schwerpunktmäßig Odnoklassniki, VKontakte, Facebook, Youtube) von Internetnutzer:innen und kollektiven Seiten erhoben, die in der Region Chabarowsk lokalisiert werden konnten. Regionale bzw. lokale Online-Medien (inkl. Webseiten von hybriden Medien) bildeten die zweite Gruppe von Quellen, die ebenfalls über Medialogia erhoben wurden. Mithilfe von statistikbasierten Computermodellen wurden anschließend Cluster ähnlicher Texte identifiziert. Um ein tieferes Verständnis dieser Muster zu erzielen, wurde die automatisierte Textanalyse durch qualitative Interpretation ausgewählter Beiträge ergänzt. Ich konzentriere mich auf den 2. bis zum 18. August (den Zeitraum kurz vor und nach der Frist für die Registrierung von Kandidierenden am 04. August) und auf den 13. bis 20. September (die Gouverneurswahl fand an drei Tagen vom 17. bis 19. September statt).

In beiden Zeiträumen gibt es jeweils einen großen Cluster von Texten, die zu einem Drittel bzw. zur Hälfte aus regionalen Online-Medien stammen und die Degtjarjows Tätigkeit im Amt des kommissarischen Gouverneurs positiv darstellen: Beispielsweise überprüft er persönlich, wie die Verschönerung der Höfe in Chabarowsk voranschreitet (»neue Bänke aus ökologisch unbedenklichen Materialien gibt es nun in einem Hof«) oder übergibt neue Feuerwehrautos. Zum PR-Cluster gehören auch inszenierte Kommentare von »einfachen Menschen«, die sich beim näheren Hinsehen als identische Troll-Publikationen entpuppen (wie: »Ich habe den Eindruck, dass sich Menschen bei uns auf das Negative fokussieren, sie merken aber das Positive gar nicht! Bitte nicht so!«). Zusammen mit einem ähnlichen Cluster stellt dieser Cluster etwa ein Drittel des untersuchten Samples im August dar.

Die Gouverneurswahl ist der Mittelpunkt eines weiteren Clusters im August, dessen Tonfall allerdings anders ausfällt: Darin sind wenig mediale Texte enthalten, aber dafür viele Posts und Kommentare in sozialen Medien (d. h. höhere User:innen-Aktivität), viel Alltagssprache, gegensätzliche Positionen. Demgegenüber spielen Trolle mit identischen Kommentaren eine geringere Rolle. Die zentrale Spaltung verläuft zwischen jenen, die für oder gegen Degtjarjow sind: »Stimmt nicht für Degtjarjow ab. Er ist ein verlogener Populist und Putins Sklave. Am Ende wird er alle hinters Licht führen, so wie Putin« vs. »Degtjarjow arbeitet wirklich, ohne PR zu machen!«. Ebenfalls wird diskutiert, dass keine alternativen Kandidierenden zur Wahl zugelassen wurden. Neben Degtjarjow wurden nur drei unglaubwürdige technische Kandidierende registriert, deren Aufgabe darin bestand, politischen Wettbewerb zu imitieren, ohne jedoch eine wirkliche Herausforderung für Degtjarjow darzustellen. Pjotr Perewesenzew (KPRF), der die Stimmen von unzufriedenen Wähler:innen hätte bündeln können, scheiterte am »kommunalen Filter« (Kandidierende müssen Unterschriften von kommunalen Abgeordneten und Staatsbediensteten sammeln, um zur Wahl antreten zu dürfen. Die jeweilige Anzahl und Verteilung über die Kommunen sind von Region zu Region unterschiedlich, Anm. d. Redaktion). Perewesenzew ist im Diskurs jedoch nicht sehr präsent gewesen.

Der Diskurs über die Gouverneurswahl in der Region steht mit anderen Wahlen im Zusammenhang, die in ganz Russland auf föderaler, regionaler und kommunaler Ebene bevorstanden. So ergibt sich ein Cluster von Texten in sozialen Medien, die diese Wahlen im Ganzen als unfair und manipuliert kritisieren (wie das viel geteilte Team-Nawalnyj-Video »Hat die Wahlen verkauft, dafür eine Datscha gekauft. So bereichern sich Mitglieder der Zentralen Wahlkommission«). Außerdem wurde das zentrale Dilemma aller unzufriedenen Wähler:innen kontrovers diskutiert, ob an der Wahl teilgenommen oder diese boykottiert werden sollte (»Aber wenn du nicht selbst abstimmen gehst, tun sie es für dich für EdResnja [pejorativ für Einiges Russland, Anm. d. Redaktion] und für Putin«). Soziale Medien ermöglichen es, dass unter restriktiven Bedingungen, wenn die Repräsentation nicht im Mittelpunkt des Wählens steht, die Teilnahme selbst als politisches Handeln interpretiert wird.

Hinsichtlich der Duma-Wahlen thematisieren kritische Diskurse unter anderem den Druck auf die KPRF und ihre Kandidierenden wie Pawel Grudinin oder Nikolaj Bondarenko. Große stilistische Vielfalt und Verwendung der Alltagssprache, zum Beispiel beim Kommentieren von Reposts aus Medien, zeugen von einem lebendigen Diskurs, der weit über die Region Chabarowsk hinausgeht. Die regionale Komponente der Duma-Wahlen wird hergestellt, indem kontrovers diskutiert wird, dass die Registrierung von Sergej Furgals Sohn als Kandidat von der Wahlkommission abgelehnt wurde.

Unmittelbar vor den Wahlen gewinnt das eigene politische Handeln an Bedeutung. Das vom Team Nawalnyj propagierte »Smart Voting«-Projekt, das die Stimmen von Unzufriedenen vor allem bei den aussichtsreichsten oppositionellen Kandidierenden für Direktmandate bündeln und dadurch Einiges Russland schwächen soll, kommt sowohl positiv (u. a. durch das Teilen seiner Wahlempfehlungen) als auch negativ zur Sprache. Bemerkenswert ist, dass es einen unabhängigen Cluster von Texten gibt, in denen zur Wahl der KPRF aufgerufen wird. Diese sind nach derselben Logik der rationalen Abstimmung gestrickt, ohne dass sich jedoch Hinweise auf Nawalnyjs »Smart Voting« finden lassen (»Die KPRF ist nur auf dem Papier links. […] Man sollte nicht für sie stimmen weil sie links oder rechts sind, sondern weil sie Chancen gegen ER haben«).

Fälschungen bei den Wahlen auf verschiedenen Ebenen bzw. in verschiedenen Regionen stehen im Zentrum eines weiteren Clusters im September, bei dem ebenfalls soziale Medien klar dominieren. Dieser überregionale politische Raum, der online konstruiert wird, ist von Entfremdung geprägt. In einem Diskursstrang werden die eigenen Erfahrungsräume der Wähler:innen und ihre persönlichen Netzwerke den offiziellen Wahlergebnissen gegenübergestellt, sodass diese Ergebnisse als unglaubwürdig dargestellt werden (»Alle unsere Freunde und Verwandte haben dagegen gestimmt. Wären die Wahlen gesetzmäßig verlaufen, wären solche Zahlen gar nicht möglich«).

Die Proteste des Jahres 2020 spielten keine zentrale Rolle in den untersuchten Online-Diskursen. Dennoch war auch dieses Jahr noch ihr Echo zu vernehmen. Der Protestcharakter der Abstimmung zeigte sich vor allem bei den Duma-Wahlen nach Parteilisten. Die Region Chabarowsk gehört zu jenen vier Regionen, in denen die Protestwähler:innen-Partei KPRF besser abschnitt als Einiges Russland. Degtjarjow hatte als kommissarischer Amtsinhaber in einem autoritären Regime immense Vorteile und wurde gewählt, allerdings mit vergleichsweise geringen 57 Prozent (die Spoiler-Kandidatin Marina Kim erreichte dabei beachtliche 25 Prozent). Letztendlich lässt sich aber feststellen, dass in den sozialen Medien ganz unabhängig von den Wahlergebnissen sowohl gemeinsame Erfahrungsräume als auch Möglichkeiten politischen Handelns konstruiert worden sind. Das unterscheidet sie von lokalen Online-Medien, die in erster Linie eine PR-Bühne für den amtierenden Gouverneur boten.

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