Arbeitsprotest, Organisation und Klassenpolitik in Russland

Von Jeremy Morris (Universität Aarhus)

Zusammenfassung
Zusammenfassung Das russische Arbeitsgesetzbuch von 2001 hat zwar die Wirkung von Arbeitsprotesten und ähnlichen Aktionen in Russland eingeschränkt, doch stellen Aktivitäten dieser Art weiterhin ein wichtiges Barometer für wirtschaftliche Unzufriedenheit dar. Insbesondere im Automobilsektor haben kämpferische Gewerkschaften nach 2007 einige Erfolge feiern können. Arbeitsproteste haben sich auch auf den Dienstleistungssektor und den öffentlichen Bereich ausgeweitet, am markantesten im Gesundheitswesen und in der Transportbranche. Das ist nicht nur auf einen sozialen und wirtschaftlichen Wandel zurückzuführen – etwa die Schwäche der russischen Wirtschaft seit 2009 –, sondern auch auf die nivellierenden Folgen von Reformen, die die Professionalität der Arbeit im öffentlichen Sektor reduziert und Proteste dieser Art wahrscheinlicher gemacht haben. Allerdings spielen auch die informelle Wirtschaft und die Klassenpolitik im Allgemeinen eine Rolle und haben auf die Wahrscheinlichkeit von Protesten weitgehend eine dämpfende Wirkung.

An die Oberfläche treten

Klassenpolitik in Russland sticht sehr stark durch ihre Abwesenheit in den Mainstream-Medien und sogar in der akademischen Forschung hervor. Daher erhalten sozialer Aufruhr, insbesondere Arbeitsproteste, entweder nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen, oder sie werden derart dargestellt und interpretiert, dass sie auf todgeweihte Industrien aus der Sowjetzeit und nicht lebensfähige Monostädte beschränkt sind. Letztere sind ein Überbleibsel und Produkt der sowjetischen Städteplanung, bei dem in einer Stadt ein einziger Industriezweig den Großteil der Beschäftigten ernährte. Hinzu kommt, dass durch das Arbeitsgesetzbuch von 2001 Streiks erschwert wurden: Für Aktionen dieser Art ist eine Abstimmung aller Beschäftigter und nicht nur unter den Gewerkschaftsmitgliedern erforderlich. Zudem sind Streiks in vielen Wirtschaftssektoren illegal. Die Gesetzgebung behinderte auch den Prozess einer Ablösung der verbliebenen, konservativen Gewerkschaften, die die Sowjet-Ära hinterlassen hat, durch aktivere Gewerkschaften.

Sozialer Unmut ist dabei niemals gänzlich verschwunden. Das Monitoring des Zentrums für soziale und Arbeitsrechte (www.trudprava.ru) zeigt interessante Entwicklungen auf, die in den letzten Jahren entstanden sind: Arbeitsauseinandersetzungen gehen über die traditionellen Industrien hinaus und finden jetzt auch im Dienstleistungssektor und im Bereich der öffentlichen Wohlfahrt, vor allem bei Ärzten und medizinischem Personal statt. Diese Proteste machen deutlich, dass sehr unterschiedliche Gruppen von Beschäftigten zunehmend über die gleichen Probleme klagen, angefangen bei einer Intensivierung der Arbeit und den Autonomieverlust, der mit dem technologischen Wandel und neoliberalen Reformen einhergeht, bis hin zu den traditionellen Sorgen wie geringer Bezahlung, schlechten Arbeitsbedingungen sowie Gesundheits- und Sicherheitsfragen. Während ein drastischer Sozialdarwinismus sogar den alltäglichen Diskurs zu beherrschen scheint, wobei ein Portrait von Verlierern der langfristigen sozio-ökonomischen Veränderungen gezeichnet wird, die es nicht anders verdient hätten, haben die Klagen von qualifizierten Fachkräften und einfachen Arbeitern zunehmend etwas gemein. Dies verweist auf die fundamentalen Unzulänglichkeiten der staatlichen Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Industriepolitik. Arbeitskonflikte sind in den vergangenen Jahren sichtbarer geworden, weil sie sich von den traditionellen Schauplätzen wie etwa den Bergwerken oder den Fabriken in die öffentlichen Räume der Städte verlagert haben, wo die Aktionen von Mitarbeitern des Gesundheitssystems, von Taxifahrern oder Kurieren schwerer zu übersehen sind. Das restriktiv ausgelegte Arbeitsgesetzbuch hatte ironischerweise zur Folge, dass die Konflikte, die ausbrechen, nun stärker sichtbar werden: Da formale Aktionswege versperrt sind, greifen frustrierte Beschäftigte auf soziale Medien zurück, die zunehmend Resonanz schaffen. Auch setzt man nun auf (legale) Demonstrationen von Einzelpersonen, die leicht zu organisieren sind und wenig Kosten verursachen.

Protest der Arbeiterklasse

Ungeachtet des Rückgangs in der Industrie und dem relativen Anstieg des Lebensstandards, den die meisten Menschen in Russland nach 2000 erfuhren, hat es weiterhin, bis heute, kollektive Protestaktionen in Fabriken gegeben. In der Tat hat es seit 2007 – besonders in der Automobilindustrie – eine Zunahme von neuen aktivistischen Gewerkschaften gegeben, die effizient neue Mitglieder rekrutieren und organisieren und die sich dem Kapital entgegenstellen. Ironischerweise war es der international aufgestellte Volkswagen-Konzern – zu Hause ein Musterbeispiel für Mitbestimmung über Betriebsräte –, wo diese Gewerkschaften am wirksamsten waren. Für den Erfolg war eine Reihe von Faktoren wichtig: der Versuch der Eliten und des ausländischen Kapitals, die Löhne während der Finanzkrise (nach einer Phase wirtschaftlichen Wachstums in den 2000er Jahren) niedrig zu halten; die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt, wo junge, gesunde und qualifizierte Fabrikarbeiter gefragt sind; die Struktur des Automarkts, wo Fahrzeuge allein für den Binnenmarkt produziert werden und die einheimische Produktion nicht durch Importe kompensiert werden kann; die Verwundbarkeit der Industrieparks, in denen Zulieferbetriebe und Montageanlagen geographisch eng beieinander liegen und Streiks leicht übergreifen können; der Umstand, dass erfolgreiche Strategien aus anderen Werken leicht von entschlossenen Aktivisten wiederholt oder aufgegriffen werden können; und das schnelle »institutionelle Lernen«, also das Phänomen, dass Institutionen genau wie Menschen von den Erfahrungen anderer lernen können, das hier auf neue Gewerkschaften zutrifft, die nicht durch ideologische oder organisatorische Altlasten gebremst werden.

Zu betonen ist, dass diese Streiks in den Autowerken sich qualitativ von den Protesten in anderen Fabriken unterschieden, die im gleichen Zeitraum stattfanden und in den Medien sehr viel mehr Aufmerksamkeit erfuhren. 2009 und 2010 hatten spontane Proteste von Bewohnern kleiner Monostädte mit nur einer Fabrik für Aufmerksamkeit gesorgt, weil ein Eingreifen durch Präsident Putin inszeniert wurde. Bei diesen Protesten kam es zu Straßenblockaden und Petitionen an die Regierung wegen Rückständen bei der Lohnauszahlung in fast bankrotten oder höchst unwirtschaftlichen Werken, denen es an Investitionen mangelte. Rückstände bei Lohnauszahlungen waren zwar in den 1990er Jahren der wichtigste Grund für sozialen Unmut, doch ist dieses Phänomen nie gänzlich verschwunden. In der Zeit der weltweiten Finanzkrise war es zunehmend zu Arbeitsniederlegungen, Streiks ohne Anführer, Straßenblockaden, Hungerstreiks und anderen »unorganisierten« Arbeitsprotesten gekommen, die dann wieder abnahmen. Sie pendelten sich dann auf einem Niveau von landesweit rund einem Konflikt jede zweite Woche ein, das bis heute Bestand hat. Da diese Konflikte in Monostädten weit weg von Moskau erfolgten, erfahren sie wenig Beachtung. Darüber hinaus werden sie leicht mit dem Versprechen bewältigt, dass sich der Staat einschalten werde, auch wenn es dann für gewöhnlich nur zu kosmetischen und kurzfristigen Veränderungen kommt. Mit der Zeit lösen sich diese Proteste auf und verlieren an Wirksamkeit, weil sich die demographische Situation ändert, Menschen aus kleineren Städten wegziehen und jene, die nicht wegziehen können, durch eine Betätigung in der »informellen Wirtschaft« die extrem geringen Löhne zu kompensieren versuchen.

Die Rolle der informellen Wirtschaft

Wenn wir verstehen wollen, wie es in Russland zu Protesten unter den Schwächsten der Gesellschaft kommt, oder vielmehr, warum diese eher nicht an den prekärsten und hoffnungslosesten Orten des Landes stattfinden, lohnen sich einige Worte über den informellen Bereich der Wirtschaft. Der Begriff »informelle Wirtschaft« umfasst eine Anzahl recht unterschiedlicher wirtschaftlicher Tätigkeit, einschließlich dessen, was gewöhnlich als »schwarze Wirtschaft« oder »Schwarzarbeit« bezeichnet wird. Wichtig ist, dass sie in Russland nicht nur sehr umfangreich ist – mit 30 – 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die nur teilweise oder überhaupt nicht vom Staat registriert werden –, sondern auch eine große Menge unterschiedlicher Menschen aus verschiedenen sozio-ökonomischen Segmenten der Gesellschaft in ihren Bann zieht. Archetypisch ist der Taxifahrer in der Provinz, der eine »Zigeunerkutsche« hat und in seiner Freizeit Taxi fährt. Er zahlt eine Gebühr an den Besitzer einer halblegalen »Taxizentrale«, die ihm die Bestellungen weiterleitet. Er selbst hingegen arbeitet ausschließlich gegen bar, ohne Anstellung, Steuern oder Versicherung. Während die Regierung ständig Kampagnen und Maßnahmen zur Bekämpfung unversteuerter Einkommen ankündigt, lässt sich unterhalb der Ebene der Zentralregierung leicht erkennen, warum für Kommunalverwaltungen und sogar für Regionalregierungen wenig Kapazitäten oder Anreize, ja in der Tat sogar eher erhebliche negative Anreize bestehen, gegen informell Selbständige oder Beschäftigte vorzugehen. Ein Vorgehen irgendeiner Art würde sehr bald offenlegen, wie dicht viele Millionen Menschen an der Schwelle zur völligen Armut leben. Zweitens bietet dieses Vorgehen zur Legalisierung oder Bestrafung bislang für eine Kommunalregierung keine einnahmebezogene Rechtfertigung, Mittel für deren Durchsetzung aufzubringen. Schließlich sind sie mit sehr viel Verantwortlichkeiten belastet, die sie nicht hinreichend finanzieren können.

Angehörige der Mittelschicht stellen zwar nur einen geringen Teil der Bevölkerung (vielleicht nur 10 – 15 %), doch sind sie in Bezug auf unversteuerte Einkommen von Bediensteten aus der »Arbeiterklasse« ein erheblicher Faktor. So sind bei vielen gut ausgebildeten Fachkräften Babysitter, Reinigungskräfte, Nachhilfelehrer, Köche und Fahrer angestellt – auf Teilzeitbasis sowie gegen bar und ohne schriftliche Verträge. Hier lohnt es sich, erneut der bedingten Bedeutung von »Klassen«-Zuordnung im heutigen Russland nachzugehen. Viele Fachkräfte aus der Mittelschicht in anderen europäischen Ländern sind mit ihrem Gegenüber in Russland nicht vergleichbar, da in Russland die »echte« Mittelschicht sich eher als eine »Oberschicht« herausgebildet hat. Sie kann sich jetzt eine ganze Reihe von Bediensteten leisten, allerdings nur Kraft der sozialen Norm der informellen Beschäftigung. Das schafft wiederum eine große Gruppe prekär beschäftigter informeller Arbeiter, von denen die meisten gleichzeitig woanders eine weitere miserabel bezahlte Arbeit haben. Dieses Beschäftigungs-Portfolio ist Soziologen wohlbekannt: Es war seit Beginn der postsowjetischen Ära ein Weg, die wirtschaftliche Ungewissheit zu bewältigen. Man kann sich leicht vorstellen, wie Bewohner kleiner Industriestädte trotzt ausbleibender Lohnzahlungen zurechtkommen, indem sie informell arbeiten. Zu diesem Problem habe ich seit geraumer Zeit geforscht.

Proletarisierte Fachkräfte

Für ein stärker nuanciertes Verständnis über arbeitsbezogene Proteste ist es unumgänglich, die verschiedenen Entwicklungen bei der objektiven Zuordnung zu Klassen zu analysieren. Zwar ist die Resonanz der Gewerkschaft »Ärzteallianz« (die 2018 gegründet wurde und hauptsächlich jenseits der großen Städte arbeitet) und deren Politisierung seit der Coronakrise offensichtlich, da die Ärzteallianz zunehmend von den Behörden attackiert wird (https://meduza.io/en/feature/2020/04/03/russian-doctors-union-leader-arrested-twice-and-beaten-by-police-for-delivering-masks-to-medical-staff-fighting-covid-19). Allerdings möchte ich hier auf die Entprofessionalisierung hinweisen, die es in den vergangenen Jahren beim medizinischen Personal gegeben hat, weil die russische Regierung neoliberale Reformen des öffentlichen Sektors vorantrieb, wie sie auch in vielen anderen Ländern zu beobachten sind. Mein Argument ist hier, dass Ärzte, Lehrer und einige andere staatliche Angestellte sich wohl als Teil der Mittelschicht wahrnehmen mögen, während sich ihre tatsächlichen Arbeitsbedingungen und ihre Bezahlung seit den 2010er Jahren derart verschlechtert haben, dass dies praktisch einer Proletarisierung gleichkam.

Was bedeutet das und warum ist es wichtig? Während die überwiegend weiblichen Berufe der Krankenschwester und der Lehrerin in der UdSSR und in Russland stets schlecht bezahlt waren, hat es in den 2000er Jahren einige Bemühungen gegeben, die Gehälter über das Inflationsniveau anzuheben. Diese Reform war allerdings nur Stückwerk; in jüngerer Zeit sehen sich viele öffentliche Angestellte den Folgen eines tückischen Deals gegenüber: Das Grundgehalt, das zuvor oft nur in der Nähe des Existenzminimums lag und kaum zum Überleben reichte, wurde zwar erheblich angehoben, doch werden andere Komponenten des Gesamtpakets – die sogenannten nadbawki (»Zuschläge«), die traditionell einen erheblichen Teil des Gesamteinkommens ausgemacht hatten und wie selbstverständlich gezahlt wurden – nun sehr viel willkürlicher gewährt. Sichtbarstes Beispiel hierfür waren die »Bonuszahlungen«, die dem medizinischen Personal, das während der Coronakrise arbeiten musste, versprochen wurden. Es gibt Belege, dass die regionalen Gesundheitsbehörden (die größten Arbeitgeber für Ärzte) durch den Einsatz von Abrechnungstricksereien bei der Vielzahl von Gehaltskomponenten in der Lage waren, die Gehälter niedrig zu halten, während die Zentralregierung große Gehaltserhöhungen verkünden konnte. Wir haben es hier mit einem weiteren Beispiel systemimmanenter Widersprüche der Regierungsführung in Russland zu tun: Das Ministerkabinett stellte im April 2020 Gelder für Bonuszahlungen an medizinisches Personal bereit (über eine halbe Milliarde US-Dollar) und einen Monat später gab es bereits viele Berichte, dass Zahlungen ausgeblieben sind. Es ist ein Zeichen der Schwäche und nicht der Stärke der Zentralregierung, dass das Ermittlungskomitee (im Grunde eine Antikorruptionsbehörde) nur in einigen wenigen Fällen und nur stückchenweise Strafermittlungen eingeleitet hat.

Die anhaltende Praxis extrem geringer Bezahlung im öffentlichen Sektor, die nicht dazu angetan ist, die soziale Reproduktion zu befördern, ist der wichtigste Faktor. Weniger bekannt ist jedoch die fortschreitende Erosion der Autonomie und der Arbeitsplatzsicherheit. Dies sind weitere wichtige Aspekte, deren kompensatorische Wirkung die früher fehlende Protestneigung dieser Beschäftigten erklärt. »Kontrolle über jemandes Arbeit« ist ein starkes Merkmal zur Unterscheidung von Gruppen, selbst wenn die finanzielle Entlohnung nicht mehr so differenziert ist. Die Reformen jedoch, die seit 2012 zur »Optimierung« der Sozialpolitik unternommen wurden, gingen mit drastischen Entlassungen und der Schließung von Schulen und Krankenhäusern, größerer Arbeitsbelastung, verstärkter Reglementierung der Arbeit und einer Beschäftigung auf Vertragsbasis anstelle von Arbeitsplatzsicherheit einher. Darüber hinaus führen die anhaltenden ökonomischen Probleme der russischen Wirtschaft und die fortgesetzten Haushaltseinschnitte durch die Regierung beim öffentlichen Sektor zu einer intensiveren Konkurrenz um »gute« Jobs. Um eine Arbeit zu finden, ist es schon immer wichtig gewesen, die richtigen Verbindungen zu haben. Jetzt ist es aber so, dass selbst sehr qualifizierte Fachkräfte – wenn sie nicht »die richtigen Leute kennen« – ihre Jobs an andere verlieren können, die nepotistisch von ihren Vorgesetzten eingestellt werden.

Insgesamt ist bei der wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung in den vergangenen Jahren eine Nivellierung nach unten zu beobachten gewesen. Das bietet umtriebigen Politikern eine Gelegenheit, auf die allgemeine Verelendung einer riesigen Bevölkerungsmehrheit in Russland zu verweisen. Der populistische Oppositionelle Alexej Nawalnyj hat sich erst spät dieser »Partei« angeschlossen. Dass er sich seit kurzem auf Gewerkschaftsthemen und die Bezahlung im öffentlichen Sektor konzentriert, ist eine rationale Antwort auf die Gleichgültigkeit, die Inkompetenz und den Zynismus der politischen Elite. Nawalnyj ist allerdings nur schwerlich als Figur vorstellbar, um die sich unterschiedliche Interessen und Klassenpositionierungen scharen würden. Er ist weiterhin nur für eine Minderheit eine Gallionsfigur, und sogar nur für einen Teil der urbanen Mittelschicht. Wahrscheinlicher ist da, dass – verspätet – die Fesseln für den Haushalt gelockert und gewisse echte Anreize geschaffen werden. Allerdings ergibt sich, wie erwähnt, aus der Inkohärenz der russischen Regierungsführung und den ineffizienten Mechanismen zur Umsetzung von Politik (die weit von der »Handsteuerung« entfernt sind, auf die der Kreml gern verweist), eine eher geringe Wahrscheinlichkeit, dass die nun proletarisierte Mehrheit der russischen Arbeiter – sei es nun in der Fabrik oder im Büro – bei ihren Lebens- oder Arbeitsstandards irgendwelche realen Verbesserungen erleben werden. Arbeitsbezogene Proteste dürften also intensiver werden, wie auch die Reaktion der Behörden hierauf, die eher in Zwangsmaßnahmen denn in Zugeständnissen bestehen dürften. Bislang ist auf keiner der Seiten institutionelles Lernen zu beobachten – mit der teilweisen Ausnahme der Arbeiter in der Autoindustrie und in anderen Unternehmen, die in einem Bereich arbeiten, der von der Gewerkschaft MPRA (Interregionale Gewerkschaft »Arbeitervereinigung«) abgedeckt wird (https://www.opendemocracy.net/en/odr/union-busting-russian-style-mpra/). Kuriere von Essenslieferdiensten und Taxifahrer der Uber-Kategorie haben in den vergangenen Monaten ihre potenziellen Fähigkeiten zur Selbstorganisation unter Beweis gestellt. Sie sind lediglich eine extreme Variante von Arbeitern in höchst unsicherer Lage. Aktivisten von Organisationen, die bei der Entwicklung von Gewerkschaften in der Autoindustrie eine zentrale Rolle gespielt haben, dürfen sich zwar formal nicht an Aktionen von Ärzten oder Mitarbeitern von Fastfood-Restaurants beteiligen. Ihr aktives Eingreifen ist aber auch gar nicht nötig, da neue Gewerkschaften von dem Ansatz der MPRA lernen.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

  • Christensen, P. T.: Labor Under Putin, in: New Labor Forum, 26. 2017, Nr. 1, S. 64–73.
  • Crowley, S.; I. Olimpieva: Labor Protests and Their Consequences in Putin’s Russia, in: Problems of Post-Communism, 65.2018, Nr. 5, S. 344–358.
  • Morris, Jeremy; S. Hinz: Trade Unions in Transnational Automotive Companies in Russia and Slovakia: Prospects for Working class power, in: European Journal of Industrial Relations, 23. 2017, Nr. 1, S. 97–112.
  • Morris, Jeremy: Everyday Post-Socialism: Working-Class Communities in the Russian Margins, Basingstoke: Palgrave 2016.

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