Zum Pussy Riot-Prozess

Margarita Poljanskaja: »Beim Gericht hat der übliche, staatliche Instinkt gearbeitet – die junge Generation versteht dies nicht«.

Interview mit Alexander Zipko, Politologe, erschienen am 17.08.2012 im Kommersant (Moskau)

Ja, in dieser Situation hätte es ein anderes Urteil überhaupt nicht geben können. Natürlich gibt es hier eine menschliche Seite – allen tun die Kinder, die Familie leid. Aber diese jungen Leute benahmen sich ehrlich gesagt frech. Sie baten meiner Meinung nach doch selbst – durch ihren Auftritt und ihr Verhalten vor Gericht – um dieses Urteil.

Beim Gericht hat der übliche (staatliche) Instinkt gearbeitet, den die neue Generation leider nicht versteht. Mich regt das Urteil ehrlich gesagt nicht so sehr auf wie das Verhalten der jungen Leute. Das ist ein allgemeines Problem der jungen Generation Russlands: Sie haben nichts Russisches mehr, sie haben keinen Respekt gegenüber den nationalen Heiligtümern.

Quelle: http://www.kommersant.ru/doc/2004586?isSearch=True

Iwan Jegorew: Was denken Sie?

Erschienen am 20.08.2012 in der Rossijskaja Gaseta (Moskau)

Jan Waslawski, Dozent am Lehrstuhl für politische Theorie am staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen über den Prozess:

Ich denke, dass die ursprüngliche Situation sehr stark aufgebauscht wurde, die Ausmaße des Konflikts wurden übertrieben. Ganz konkret geht es in der Situation um eine Gruppe von Frauen, die sich entschieden haben in der zentralen Kathedrale des Landes einen Rechtsbruch zu begehen. Eben deshalb wurde diese Situation vor Gericht betrachtet und ebendeshalb wurde auch ein Urteil gefällt. Und wenn man darin eine große Spaltung sieht – das bleibt denen überlassen, die die Situation für ihre politischen Ziele ausnutzen und deshalb alles durch eine bestimmt Brille sehen.

Quelle: http://www.rg.ru/2012/08/20/primirenie.html

Andrei Kolesnikow: »Der Spiegel ist zersprungen«.

Erschienen am 17.08.2012 in der Novaja Gazeta (Moskau)

Die Kirche zu kritisieren heißt auch den Staat anzugreifen und umgekehrt. Die persönlichen, intimen und geheimen religiösen Gefühle stehen damit in keinerlei Zusammenhang. Die Spaltung der Gesellschaft hat begonnen, als die Regierung sich den Bürgern gegenüberstellte. Der Schuldspruch festigt diese Spaltung, schränkt die sozialen Grundlagen des Regimes ein. Der Spiegel, in dem sich der »Präsident aller Russen« betrachtete, ist zersprungen.

Quelle: http://www.novayagazeta.ru/politics/54028.html

Olga Wolkowa: »Der Skandal um die Pussy Riots wurde ein Kriterium für die Beziehung der Menschen zueinander«.

Erschienen am 20.08.2012 im Kommersant (Moskau)

Der Soziologe Wladimir Rimski darüber, welche Auswirkungen der Pussy Riot-Prozess auf die Bevölkerung hat:

»Als der Skandal politisch wurde, als er in Schwung kam, wurde er ein Kriterium für die Beziehung der Menschen untereinander. Die Gesellschaft begann sich danach aufzuspalten, welche Einstellung sie zu den Pussy Riots hatte. Obwohl, wie sie verstehen, dort ursprünglich gar nichts Politisches war. Ich würde natürlich wollen, dass die Politik uns nicht spalten, sondern vereinen würde, weil die Politik noch eine wichtige Funktion hat: Die Leute zu vereinen um über allgemein wichtige für alle relevante Probleme zu entscheiden und sie zu lösen,« meint Rimski.

Quelle: http://www.kommersant.ru/doc/2005297?isSearch=True

Katja Tichomirowa: Blanker Irrsinn.

Kommentar erschienen am 17.08.2012 in der Frankfurter Rundschau (Frankfurt/M.)

Wer beobachtet, wie alle Prozessbeteiligten nach Stunden, die sie im Stehen die Ausführungen des Gerichts verfolgen mussten, erschöpft ins Wanken geraten, bekommt ein anschauliches Bild vom Zustand des Landes. Es ist aus dem Gleichgewicht geraten, nicht weil drei junge Frauen die Staatsmacht herausgefordert oder die Gefühle von Gläubigen verletzt haben, sondern weil die Ideen- und Perspektivlosigkeit einer kleinen herrschenden Clique sich wie ein Alpdruck über das Land gelegt hat.

Quelle: http://www.fr-online.de/politik/pussy-riot-kommentar-blanker-irrsinn,1472596,16911048.html

Zusammengestellt und übersetzt von Sophie Schmäing

Zum Weiterlesen

Artikel

Belarus: From the old social contract to a new social identity

Von Nadja Douglas
ZOiS Report 6/2020 State-society relations in Belarus have been tense for many years. The presidential elections in August 2020 and the mishandling of the ongoing Covid-19 pandemic have proved to be the catalyst that brought these fragile relations to a complete breakdown. Over the years, the widening gap between a new generation of an emancipated citizenry and a regime stuck in predominantly paternalistic power structures and reluctant to engage in political and economic reforms has become increasingly evident. The deteriorating economy during the last decade and the perceived decline of the country’s social welfare system have been important factors in these developments. At the same time, the regime has continued to invest in its domestic security structures to a disproportionate extent compared with neighbouring states, allowing the so-called silovye struktury (“state power structures”) to gain influence at the highest level of state governance. (…)
Zum Artikel auf zois-berlin.de
Analyse

Kündigen die Bürger den Gesellschaftsvertrag?

Von Hans-Henning Schröder
Am 10. Dezember 2011 kam es in Moskau zu einer Massenkundgebung, an der an die 40.000 Menschen teilnahmen. Die Demonstration richtete sich gegen die Fälschung der Dumawahlen, die am 4. Dezember stattgefunden hatten. Der Massenprotest brach mit der »resignativen Akzeptanz« und dem Rückzug ins Private dar, der die Haltung der Bevölkerung in den letzten Jahren gekennzeichnet hatte. (…)
Zum Artikel

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