»Aufruhr« auf russisch oder legaler russischer Protest?

Von Dmitrij Oreschkin (Moskau)

Zusammenfassung
Russland ist in Bewegung. Einer modernen Gesellschaft, in der das alte, sowjetisch geprägte Massendenken durch eine pragmatischere Wahrnehmung der Wirklichkeit ersetzt wird, steht die ''Putinsche Korporation'' gegenüber, deren ultimatives Bestreben der Machterhalt ist. Dieser Gegensatz birgt Konfliktpotential, zumal das Regime auf Grund eines sowjetisch geprägten Umgangs mit Protest eher auf Einschüchterung als auf Integration setzt. Doch auch für die Opposition stellen die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten in Russland und die Gegensätze zwischen Zentren und Peripherie eine große Herausforderung dar. Es ist davon auszugehen, dass der Protest bei Ausweitung aufs ganze Land seinen Charakter ändern und stärker soziale und materielle Ziele in den Vordergrund stellen wird.

Westliche Verwirrung

Der westliche Blick auf Russland heute erinnert an das Unverständnis in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg. Das »lange Telegramm« George Kennans war schon eingetroffen, und Winston Churchill hatte seine Rede in Fulton gehalten – die Vorzeichen des Eisernen Vorhangs waren schon deutlich erkennbar. Dennoch wollte keiner glauben, dass der gestrige Verbündete zum Feind geworden war.

Genau das gleiche erleben wir heute, natürlich in der »Version light«: Noch gestern gab es den »Reset«, pragmatische Projekte wie Nord- und South-Stream, Gespräche über die Abschaffung der Visapflicht und die rationalen Schritte zum WTO-Beitritt. Alles vorhersagbar im Rahmen eines rationalen Ansatzes – wenn schon kein Verbündeter, so doch ein solider und verlässlicher Partner. Muss man diese Vorstellung wirklich aufgrund der Ereignisse der vergangenen 6 bis 8 Monate über Bord werfen?

Eine Machtfrage

Es gibt einen »Checkpoint Charly«, an dem die westliche Ratio der sowjetischen und postsowjetischen Putinschen Ratio gegenübersteht, und das ist die Machtfrage. Wenn die Machtfrage geklärt ist und weiter keine Unruhe hervorruft, dann ist die Putinsche Strategie von Gelassenheit bestimmt – zumindest auf kurze Sicht. Der Rohstoffhandel, die auf korruptem Wege erkaufte Loyalität der Eliten, die akkurat berechnete Erhöhung der sozialen Standards, die Unterstützung der Stabilität: alles rational, alles makellos.

Wenn jedoch die Machtfrage gestellt wird, die in einer Rohstoffwirtschaft die Grundlage des wirtschaftlichen Wohlergehens der Elite ist, verschwindet die europäische Rationalität wie Schnee im Frühling, und eine Rationalität anderen Typs drängt sich nach vorn – die asiatische. Diese ist auch berechenbar und auf ihre Weise pragmatisch, löst jedoch eine andere Aufgabe. Eine aus Sicht des europäischen Beobachters irrationale: um jeden Preis die Kontrolle behalten! Selbst wenn es hierfür notwendig ist, die Entwicklung aufzuhalten, die soziale Aktivität einzufrieren und die staatlichen Institute zu gefährden. Unter Bedingungen eines Rohstoff- und Petro-Staates, in dem die Macht die zentrale, bedingungslose und totale Priorität darstellt, ist dies auf ihre Weise logisch.

So ist der Charakter der Putinschen Elite, der noch aus den Zeiten der UdSSR und des KGB stammt. Von aussen ist es schwierig, den genauen Moment des Zielwechsels zu erkennen. Äußerlich hat sich fast nichts verändert, im Inneren arbeitet das System jedoch bereits nach anderen Regeln.

Das Problem besteht aber darin, dass der alte, sowjetische Machtapparat auf eine neue, postsowjetische Gesellschaft trifft. Die Staatsmacht selbst ist aber bei der Wahl ihrer Unterdrückungsinstrumente nicht mehr so frei. Dafür gibt es einige Gründe – die wichtigsten sind folgende: Transparenz bei Informationen (Internet), der Eintritt einer neuen, ungleich freier aufgewachsenen Generation von Russen ins Erwachsenenalter, das gewachsene Einkommensniveau und die gestiegene Lebensqualität der Staatsbürger. In der Summe führt all dies dazu, dass die sowjetische, kollektivistische Psychologie des »bescheidenen Schräubchens in der riesigen Staatsmaschine« durch eine Psychologie des individuellen Steuerzahlers abgelöst wird, der sich als Partner und teilweise sogar als Teilhaber an der Macht versteht.

Moderne Gesellschaft und Putins Korporation

Der Protest in Russland nimmt neue Inhalte und Töne an. Die Staatsmacht nimmt diesen jedoch weiterhin mit den Augen der 1970er Jahren wahr und fasstDemonstranten als Dissidenten, Abtrünnige und Verräter auf. Wenn sich etwas verändert hat, so allein die Rhetorik: statt »Söldner der Weltbourgeoisie« spricht man nun von »Agenten des US State Department«.

Die Kluft zwischen den neuen, soziokulturellen Anforderungen und dem alten politischen Inventar der Putin-Elite wird sich noch weiter vertiefen. Die Staatsmacht geht in ihrem nahezu marxistisch Dogmatismus davon aus, dass der soziale Protest durch die materielle Unzufriedenheit der Massen ausgelöst wurde. Dass die Protestaktionen in Moskau begannen, dem im sozialen Sinne am besten situierten und am weitesten entwickelten Gebiet in Russland, löst in der Staatsführung Ärger und Unverständnis aus. Zweifel an der Diagnose der Ereignisse führen zu einer Verunsicherung, was die angemessene Reaktion angeht. Wenn die Erhöhung der Lebensqualität dazu führt, dass der Widerstand wächst, muss man da möglicherweise zur Festigung der Macht die Lebensqualität senken?

In der Tat war dies unter Lenin und Stalin so. Eben deshalb benötigte die UdSSR einen mächtigen Apparat totaler Gewalt. Aus dessen Innersten sind die Schlüsselfiguren des Putinschen Managements hervorgegangen. Sie versuchen selbstverständlich jene in der UdSSR geschaffene, aus ihrer Sicht großartige korporative Kultur beizubehalten. Es liegt außerhalb ihrer Vorstellungswelt, dass bei normalen Entwicklungsbedingungen, in denen die Wirtschaft durch natürliche menschliche Interessen wächst, ein aufgeblasener Apparat zur Verfolgung, Unterdrückung und Gewalt (in den Begriffen Putins wird dies »Handsteuerung« genannt) zu einem Klotz am Bein wird.

Sich selbst für überflüssig zu erklären fällt schwer. Daraus erwächst der zweite, grundlegende Widerspruch: wenn eine modernisierte Wirtschaft die Dienstleistungen der Korporation nicht benötigt – um so schlimmer für die modernisierte Wirtschaft! Ausgehend von diesem Umkehrpunkt werden die krampfhaften Handlungen des Regimes verständlich und vorhersehbar: die Putinsche Korporation existiert nicht, um Russland zu schützen, zu entwickeln oder zu verbessern, Russland existiert im Gegenteil dafür, um die Putinsche Korporation zu ernähren und zu verwöhnen.

Auch dieser Konflikt wird sich verschärfen. Der kollektive Putin wird zur Last für die russische Wirtschaft, die russischen Steuerzahler und die russischen Regionen. Es ist eine andere Frage, wie viel Zeit nötig ist, diese traurige Perspektive zu erkennen und wann reale Kräfte auftreten, die fähig sind, die russische Politik im Interesse einer, im europäischen Verständnis, normalen Entwicklung umzusteuern.

Hier gibt es keine Klarheit und kann es auch keine geben. Die Ökonomen sind es leid, von der verderblichen Abhängigkeit vom Ölpreis zu sprechen. Theoretisch wird dies auch in der Staatsführung verstanden. Davon zeugt die breite Modernisierungsrhetorik Dmitrij Medwedews. Und was bringt's? Die sowjetische Elite ging auch unter, begleitet von lautstarken Reden über die Einführung der Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution in die Praxis des sozialistischen Aufbaus. Das Ergebnis ist bekannt: die Modernisierungsbemühungen Michail Gorbatschows führten zum Zusammenbruch der Staatsmaschine.

Die Putinsche Elite hat sich die negative Erfahrung Gorbatschows nur in einem Sinne zu eigen gemacht: für ihren Staat ist Liberalisierung verderblich. Dies bedeutet erneut: um so schlimmer für die Liberalisierung. Geht man davon aus, ist es leicht, die Handlungen des Staates in den kommenden Monaten und Jahren vorauszusehen. Wir treten in eine Zeit ein, in der die Daumenschrauben angezogen werden. Von der unversöhnlichen Position in der Syrienfrage bis hin zur Anprangerung von Nichtregierungsorganisationen als feindliche Agenten.

Konsequenzen für den Protest

Was bedeutet das für den in den Hauptstädten anwachsenden systemischen Protest? Erstens muss man verstehen, dass dies erst der Anfang des Prozesses ist. Überstürzte Hoffnungen von »Revolutionären« vom Schlage Eduard Limonows, die ernsthaft die Erstürmung des Kremls und der Zentralen Wahlkommission diskutieren, sind offensichtlich haltlos. Das, was auf den Straßen in Moskau geschieht, unterscheidet sich prinzipiell vom libyschen, tunesischen oder ägyptischen Szenario. Die demographische, soziokulturelle und ökonomische Situation ist in Russland eine völlig andere. Auch ähnelt diese kaum dem »orangenen« Szenario nach ukrainischem Muster aus dem Jahr 2004, das wiederum an die Ereignisse in Moskau im Jahr 1991 erinnerte, als sich eine deutliche Spaltung innerhalb der Eliten herausbildete, die unterschiedliche Vorstellungen über die weitere Entwicklung hatten. Die Straßenproteste waren dabei nur ein Argument im Kampf der einen Gruppe gegen die andere. Im heutigen Russland ist es noch nicht zu einer Spaltung der Eliten gekommen, darum bleibt der gesellschaftliche Widerstand der Moskauer und St. Petersburger bodenständig, partikulär und gewinnt keinen ausreichenden Einfluss auf dem politischen Schachbrett.

Zweitens braucht es Zeit, die innovative Stimmung von den großstädtischen Zentren in weitere Großstädte und dann über das ganze Land auszubreiten.

Drittens sucht und findet der Protest bei der Ausbreitung in die Tiefen des Landes neue Formen, Losungen und neue Anführer. Moskau demonstrierte die Unzufriedenheit einer fortschrittlichen und relativ gut situierten Bevölkerungsschicht. Die Forderungen der Demonstrationsteilnehmer drehten sich nicht um Löhne, Renten und soziale Sicherung. Auf der Tagesordnung standen Fragen der Wahlfälschungen, der allgegenwärtigen Korruption und der Unfähigkeit der Staatsmacht, die Gesetze und Rechte der Staatsbürger einzuhalten. Es war ein Protest jener Bürger, die sich um ihr eigenes Wohlergehen kümmern können – so lange die Staatsmacht ihre gesetzlichen Rechte und Interessen nicht verletzt.

In der Provinz stehen viel einfachere Fragen auf der Tagesordnung: Hier wird die Staatsmacht weiterhin als Quelle der Existenzsicherung und anderer Wohltaten angesehen. Forderungen nach Lohnerhöhung sind hier realistisch und verführerisch. Die Frage nach den Rechten der Staatsbürger ist dagegen viel zu schwammig.

Das Moskauer Beispiel ist für die Provinz insofern interessant, weil man, wie es scheint, auf die Straße gehen kann, ohne dass einem etwas passiert (oder zumindest fast nichts). Worum es bei den Versammlungen geht, ist dagegen von geringem Interesse. In den Weiten Russlands kommt ein anderes Signal an: öffentlicher Protest ist möglich. Im Vergleich zur sowjetischen Mentalität ist dies eine echte Revolution des Denkens.

Die Einstellung zu den Protesten

Das Lewada-Zentrum, ein führendes soziologisches Institut in Russland, veröffentlichte gerade erst ein widersprüchliches, für eine Übergangsgesellschaft jedoch organisches Bild. 62 % der Befragten gehen davon aus, dass die massenhaften Hausdurchsuchungen mit der Angst der Eliten vor einem Anwachsen der Protestaktivitäten verbunden sind. Darüber hinaus stimmen viele der Befragten darin überein, dass die Repressionen eher von einer Schwäche als einer Stärke der Staatsmacht zeugen (45 % gegenüber 38 %). Diese löst alles in allem Verärgerung aus. Mit der Bezeichnung »Partei der Diebe und Gauner« der Partei »Einiges Russland« sind 42 % der Befragten einverstanden (dagegen sprechen sich 40 % aus). Zudem wird Putin in Zusammenhang mit der als unsympathisch empfundenen Staatsmacht gebracht. Auf konkrete Personalien angesprochen zeigt sich jedoch, dass 56 % der Befragten mit einer Ablösung Putins nicht einverstanden sind! Als wäre dies nicht schon schlimm genug – die Befragten sehen keine Alternative zu ihm.

Im Bewusstsein der Massen liegen die Anführer der Protestbewegung weit abgeschlagen hinter Wladimir Putin. Dies liegt im Wesentlichen daran, dass ihre Namen durch die staatliche Propaganda erfolgreich diskreditiert wurden. Sie werden ernsthaft als Einflussagenten feindlicher äußerer Kräfte wie der USA, NATO und des Westens insgesamt wahrgenommen. Das sowjetische System der propagandistischen Zuschreibung ist in den vergangenen 10 bis 12 Jahren erfolgreich wieder auferstanden und äußert effektiv. Zudem sind die Namen der Oppositionsführer im Bewußtsein der Bürger fest mit den krisenhaften 1990er Jahren verbunden – und damit desavouiert.

Die Menschen sind von der Wirksamkeit der Proteste nicht sehr überzeugt und daher nicht bereit an diesen teilzunehmen. Eine Bereitschaft, sich aktiv an Protestaktionen zu beteiligen, geben unterschiedlichen Erhebungen zufolge um die 10 % der Bevölkerung zu Protokoll. Dabei ist eine stille Aushöhlung des sowjetischen Systems des »Pseudo-Kollektivismus« festzustellen: Unter den Grundwerten ist das Thema der »Interessen des Landes« kaum wahrnehmbar (6 %), dagegen dominieren Werte wie Familie, Verwandte und Freunde (69 %). Hierbei geht es offensichtlich um eine neue, »atomisierte« Struktur des gesellschaftlichen Bewusstseins, dem ein Verständnis für Solidarität fehlt. Vor diesem Hintergrund ist die Enttäuschung über die Idee des starken Staates verständlich. Denn dieser offeriert kollektive Sicherheit, kollektive Wohlstandssteigerung und kollektive Arbeit zum Wohle des Kollektivs. Und darum werden die Proteste in der Hauptstadt aus einer Konsumentenhaltung heraus betrachtet, als eine Art Show, vor deren Beginn erst einmal ein Popcornvorrat angelegt werden sollte. 49 % der Befragten gehen davon aus, dass die protestierende Intelligenz »verpflichtet ist, das Volk vor der Unterdrückung durch die Staatsmacht zu schützen.« Selbst sind sie jedoch zu sehr mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um die Protestierenden zu unterstützen. Sie haben keine Zeit, auf der Straße den Affen zu machen.

Provinz versus Moskau

Gegen die Proteste wirkt zudem noch die aus Sowjetzeiten erhalten gebliebene Ablehnung des »großen Russlands« gegenüber Moskau als privilegiertes und darum der Mehrheit fremdes Gebiet aus. Der Begriff »Moskowiter« wird in der Provinz als Etikett irgendeiner goldenen Klasse oder Kaste aufgefasst – fast wie das Wort »Bourgeois« im Ohr des »wahren Proletariats«.

Indessen verwandelte sich Putin im Verständnis der öffentlichen Meinung rasch von einem »Präsidenten der Hoffnung« (der die Ordnung herstellt, die Gesetzlichkeit wiedereinführt und Gerechtigkeit schafft) in einen »Präsidenten der Verzweiflung« – der verständlicherweise keine Begeisterung auslöst (teilweise, da er auch aus der »goldenen Kaste« stammt). Doch alle übrigen Personalien lösen noch weniger Begeisterung aus. Und wer sind die Übrigen? Die kommen auch aus Moskau…

Auf dem Weg in die Provinz steht dem Protest eine Transformation sowie die Herausbildung einer neuen Sprache mit konkreten, den Massen verständlichen Forderungen bevor. Dies ist ein weiter Weg mit unzähligen Abzweigungen. Moskau generiert einen »rechten« Protest, die Provinz will jedoch einen »linken«. Offensichtlich verbirgt sich auch hier einer der Unterschiede zwischen der alten und neuen politischen Massenkultur. In vergangenen Zeiten nahm die Provinz Veränderungen in Moskau als etwas ebenso fremdes wie unausweichliches auf. An die Stelle der alten Nomenklatur in Moskau trat Gorbatschow? In Ordnung, vielleicht erleichtert er unser Leben. Jelzin? Auch einverstanden – das Land braucht Veränderungen. Putin? Sehr gut, es ist schon lange an der Zeit, Ordnung zu schaffen…

Heute ist die Situation jedoch eine andere. Moskau – das ist entferntes politisches Theater. Wir aber wohnen hier, und uns interessiert mehr, was bei uns passiert. Es nützt nichts, auf Verbesserungen aus dem Zentrum zu warten. Sie feiern dort ihre Hochzeit, auf der Nawalnyj und Nemzow aus irgendeinem Grund mit Putin raufen, wir haben aber unsere eigene Hochzeit. Unsere Korruption und unsere Gesetzlosigkeit. Wenn sie nur zu uns kämen und alle Diebe und Gauner ins Gefängnis stecken würden – wir wären ihnen dankbar. Sie kommen aber nicht! Und unser Leben selbst zu organisieren kam uns bisher noch nicht in den Sinn… Das können wir nicht, und dazu fehlen uns zudem die Mittel. Wenn man sich versammeln würde, um von den Eigentümern der lokalen Fabriken eine Gehaltserhöhung zu fordern oder von der lokalen Bürokratie die Ausbesserung der Straßen – das wäre löblich. Wir sind aber nicht Moskau. Bei uns gibt es noch nichts.

Und wann ist es mit diesem »noch nicht« vorbei? Nicht, bevor das »Große Russland« erkennt, dass es aus kleinen Gebieten besteht, in denen auch eine Staatsmacht agiert, die der Bevölkerung gegenüber verantwortlich ist (genauer gesagt sein sollte). Bis jetzt ist dies noch nicht zu sehen. Eher beobachten wir eine langsame Aushöhlung des einheitlichen und autoritären Massendenkens und dessen Ersetzung durch eine konkretere und pragmatischere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Das bedeutet, dass unter dem Fundament der Putinschen »Vertikale« ein von außen nicht erkennbares Bächlein plätschert, das den Monolith der obersten Staatsgewalt allmählich aushöhlt. Abhängig vom lokalen soziokulturellen Substrat verläuft dieser Prozess in sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten.

Bewegung in den Regionen

Die Regionalwahlen in Jaroslawl, das sich schon immer durch eine stabile, städtische Tradition des Freidenkertums auszeichnete, gewann der »nicht-systemische« Bürgermeister Jewgenij Urlaschow. Bei ähnlichen Wahlen im deutlich konservativeren Astrachan wurde der Wahlsieg bei groben Verletzungen des Wahlgesetzes dem Protegé von »Einiges Russland«, Michail Stoljarow (60 %), zugesprochen. Sein populärer Gegenkandidat Oleg Schein (30 %), von der Partei »Gerechtes Russland« sammelte eine riesige Anzahl an Beweisen über grobe Verstöße bei der Organisation der Wahl und der Auszählung der Stimmen – die Beweise wurden jedoch von der lokalen Wahlbehörde und den Justizbehörden demonstrativ ignoriert. Der folgende Hungerstreik durch Schein und seine Anhänger machte aus Astrachan einen ganzen Monat lang ein regionales Zentrum politischer Aktivität – die jedoch nicht von juristischem Erfolg gekrönt war.

Die Bürgermeisterwahlen in den sibirischen Großstädten Krasnojarsk und Omsk wurden durch die rekordverdächtig niedrige Wahlbeteiligung von 21 % bzw. 17 % entschieden. In beiden Fällen gewannen die Vertreter von »Einiges Russland«. Die »Abstimmung mit den Füßen« zeigte jedoch, dass die Enttäuschung unterschwellig in die urbanen Zentren des Landes vordringt. Der Protest ist noch passiv, im Anfangsstadium seiner Entwicklung. Seine Unumkehrbarkeit ist jedoch offensichtlich. Die Frage ist nun, wie schnell er sich entwickelt.

Ausblick

Die »Putinsche Stabilität« wird sich bei einem solchen Verlauf der Ereignisse kaum noch mehrere Jahren halten können. Vor diesem Hintergrund reagiert die Staatsmacht wie sie es kann – mit dem Versuch, dass sowjetische System der totalitären Einschüchterung zu reanimieren. Allerdings wird dies den Prozess der Delegitimisierung nur noch weiter vorantreiben. Im Oktober, wenn sich an einem einheitlichen Wahltag vier Gouverneure, eine ganze Reihe regionaler Gesetzgebungsorgane und Stadtversammlungen dem Wahltest unterziehen, wird die Artikulierung des Protests von unten noch deutlicher ausfallen.

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