Nach den Protesten: Reparaturen am politischen Arrangement

Von Hans-Henning Schröder (Berlin)

Zusammenfassung
Das System Putin ist in eine Krise geraten. Das politische Arrangement, das es über elf Jahre ermöglichte, dass eine kleine Elite die russische Politik kontrollierte, hat seine Integrationskraft verloren. Das wurde an den Dumawahlen am 4. Dezember deutlich, noch deutlicher bei den Moskauer Massendemonstrationen gegen die Fälschung dieser Wahlen . Die Putin-Medwedew-Administration steht nun vor der Aufgabe das politische System zu reformieren und einen gesellschaftlichen Konsens zu finden. Sie hat noch im Dezember 2011 erste Schritte dazu unternommen. Schlüsselpositionen des Führungsapparats wurden umbesetzt , zugleich machten Putin und Medwedew Vorschläge für einen Umbau des Systems, mit denen sie den Forderungen der Protestöffentlichkeit scheinbar entgegenkamen. Ob dies ausreicht, um einen Konsens zu schaffen, der die Putin-Administration in der nächsten Amtszeit trägt, ist aber zweifelthaft.

Die Erschöpfung des politischen Konsenses

Über elf Jahre ist es der Putin-Administration (bzw. der Putin-Medwedew-Administration) gelungen, ein fragiles politisches Arrangement aufrechtzuerhalten, in dem ein Elitenkartell im Konsens mit der Mehrheit der Bevölkerung den politischen Prozess kontrollierte. Die Grundlage war in der Privatisierung der Jelzin-Jahre gelegt worden, als sich eine Gruppe von »Oligarchen« mit Unterstützung der Politik die Masse des produktiven Kapitals aneignen konnte. Gemeinsam mit der Umgebung des Präsidenten und den regionalen »Bossen« bestimmten diese Magnaten in den neunziger Jahren das politische Geschäft. Die russische Gesellschaft war von der Teilhabe an der Macht ausgeschlossen. Der Wechsel von Jelzin zu Putin im Jahre 1999/2000 änderte grundsätzlich nichts an dieser Konstellation, allerdings verschoben sich die Kräfteverhältnisse innerhalb des Elitenkartells: Der Einfluss der regionalen Führer wurde beschnitten, die Hochfinanz aus dem politischen Entscheidungsprozess verdrängt, während gleichzeitig eine neue Schicht in den inneren Zirkel aufstieg – meist Weggenossen des neuen Präsidenten aus den Geheimdiensten und der Petersburger Stadtverwaltung. Der Staat und seine Einkünfte waren nun im Besitz eines Konglomerats aus hohen Beamten und Finanzleuten.

Die Ungerechtigkeit der Vermögensstruktur, die großen Einkommensunterschiede und der Ausschluss der Masse der Bevölkerung von politischer Partizipation führten erstaunlicherweise nicht zu Protesten, die Mehrheit nahm die Verhältnisse mit resignierter Akzeptanz hin. Es waren vor allem zwei Faktoren, die das politische Arrangement akzeptabel machten: zum einen die Steigerung der Energiepreise, die Russland ein Wirtschaftswachstum bescherte, die auch zu einer Besserung der sozialen Verhältnisse führte, und zum anderen die Erfindung einer populären Führungsfigur, die in der Bevölkerung als bescheiden, anständig und als Interessenvertreter des »kleinen Mannes« galt. Wladimir Putin füllte diese Rolle glaubhaft aus. Er war Garant eines gesellschaftlichen Konsenses trotz bestehender sozialer Gegensätze. Nach 2004 schuf sich die Führungsspitze durch Reform des Parteien- und des Wahlsystems eine dominante Partei, die die Verbindung zwischen Führung und Gesellschaft herstellen sollte – »Einiges Russland«.

Die Finanzkrise des Jahres 2008 erschütterte dieses Arrangement. Armut und Arbeitslosigkeit stiegen wieder an, die in acht »fetten Jahren« genährte Erwartung, es gehe von nun an aufwärts, wurde enttäuscht. Die Modernisierungskampagne Präsident Medwedews im Jahre 2009 war durch diese Entwicklung bestimmt. Die Hoffnungen, die ein Teil der Bevölkerung daran knüpfte, wurden jedoch nicht erfüllt, da sich die Verhältnisse nicht änderten. Der Unmut über die korrupte Oberschicht, die dominante Partei – zuletzt nur noch »Partei der Gauner und Diebe« genannt – und die wirtschaftliche Stagnation führten 2011 zu einem fortschreitenden Akzeptanzverlust. Die Ratings von Putin, Medwedew und »Einiges Russland« sanken – die »Magie« Putins verfing nicht mehr. Die Ankündigung, er werde 2012 wieder die Präsidentschaft übernehmen, hatte eher einen negativen Effekt. Der Versuch, bei den Wahlen durch verstärkte Fälschung stabile Mehrheitsverhältnisse herzustellen, löste schließlich die politische Krise aus.

Krisenmanagement und politische Aufgaben

Die Administration war von der Heftigkeit des Protests offensichtlich überrascht, sie brauchte eine gewisse Zeit, um sich zu orientieren. Indes ist die Zeit begrenzt – zwischen den Dumawahlen am 4. Dezember 2011 und den Präsidentenwahlen am 4. März 2012 liegen gerade 13 Wochen, von denen zwei wegen des russischen Weihnachtsfestes für die Werbekampagne ausfielen. In der Präsidentenwahl geht es nun nicht nur darum, für Putin eine Mehrheit zu erreichen, sondern auch darum, die Wahlen so ehrlich zu gestalten, dass sie dem Präsidenten für die nächsten sechs Jahre eine echte Legitimation verschaffen. Gerade letzteres ist angesichts der Tatsache, dass man die regionalen Apparate über Jahre hinweg darauf eingestellt hat, hohe Mehrheiten für »Einiges Russland« und Putin bzw. Medwedew zu erzielen, kaum zu erreichen.

Neben dem kurzfristigen Ziel, die Wahlen für Putin zu gewinnen, stellt sich jedoch noch eine weitergehende Aufgabe. Die Putin-Administration hat nur in wenigen Fällen hart durchregiert – Tschetschenien 1999 ist ein solcher Fall gewesen –, sondern stets darauf Wert gelegt, die Gesellschaft zu integrieren. Der Massenprotest in den Großstädten zeigt nun, dass der Konsens zwischen Führung und Bevölkerung erschöpft ist. Es gilt, das politische System so umzugestalten, dass die gesellschaftlichen Gruppen wieder eingebunden sind. Dabei müssen unterschiedliche Interessen berücksichtigt werden. Nach wie vor ist die große Mehrheit der Bevölkerung arm. Um ihr entgegenzukommen, sind eine Steigerung der Einkommen, Entwicklung des Wohnungsbaus, Verbesserung der Sozialversorgung und eine Reform des Gesundheitswesens notwendig. Die neuen urbanen Mittelschichten, die in der Zeit des ölpreisgenährten Wirtschaftswachstums hervorgetreten sind, und die im Dezember 2011 die Mehrzahl der Protestler gestellt haben, gilt es in das politische System einzubinden und ihnen Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen. Dabei geht es nicht nur um die Schaffung einer neuen liberalen Partei, die Wjatscheslaw Surkow bereits am Tag nach den Dumawahlen gefordert hat, sondern auch um eine ‚Normalisierung‘ des öffentlichen Lebens – mit weniger Korruption, funktionierenden Gerichten und größeren Entfaltungsmöglichkeiten.

Schließlich darf die Führung auch die Interessen der Finanz- und Wirtschaftseliten nicht außer acht lassen. Seit September 2010 übertreffen die russischen Investitionen außerhalb Russlands den Zufluss von Kapital aus dem Ausland, und dieser Nettokapitalabfluss hat bis Ende des Jahres 2011 stetig zugenommen. Das schlechte Investitionsklima in Russland, das durch die politischen Unsicherheiten vermehrt wird, und die internationale Finanzkrise lassen die russischen Finanziers verstärkt nach sicheren Anlageländern suchen. Da eine mögliche russische Modernisierungs- und Investitionspolitik aber dieser Gelder bedarf, muss die Führung nach Wegen suchen, den Abfluss zu stoppen und das Kapital wieder zurückzuholen.

Die Putin-Gruppe muss also zunächst die Wahlen gewinnen. Dann gilt es in den ersten Jahren der Präsidentschaft, das politische Arrangement so umzugestalten, dass ein breiter gesellschaftlicher Konsens und eine Zusammenarbeit zwischen politischer Leitung und Finanzeliten unter Einbeziehung der neuen urbanen Mittelschichten möglich werden. Eine schwierige Aufgabe.

Neuaufstellung des Personals

Das Personaltableau, das im Vorfeld der Dumawahlen präsentiert worden war – Putins Rückkehr in das Präsidentenamt und Medwedews Umsetzung in das Amt des Ministerpräsidenten –, hatte die Mehrheit der Wähler offensichtlich nicht überzeugt. Über 50 % haben der »Partei der Macht«, »Einiges Russland«, ihre Stimme verweigert. Der Führungszirkel ist aber nicht bereit, die Niederlage einzugestehen und über personelle Alternativen nachzudenken. Prioritäres Ziel der Administration bleibt es, die Präsidentschaftswahlen am 4. März mit Putin zu gewinnen. Dazu muss sie ein Programm entwerfen, das die Wähler anspricht, und diese motiviert, trotz allem ihre Stimme Putin zu geben. Und sie muss eine Mannschaft zusammenstellen, die glaubwürdig macht, dass die neue Politik auch umgesetzt wird.

Die Personalrochaden in den Wochen nach den Wahlen und hatten allerdings wohl nur zum Teil den Sinn, die Öffentlichkeit zu beeindrucken. In den Tagen direkt nach der Wahl hatte Putin noch durchaus mit Blick auf die Öffentlichkeit einen Wahlkampfstab aus Prominenten zusammengestellt, an dessen Spitze der Filmregisseur und Politiker Stanislaw Goworuchin stand. Goworuchin, ein Patriot und Konservativer, der seinerzeit die Privatisierungspolitik Jelzins bekämpft hatte, ehe er über die Kommunisten den Weg zu »Einiges Russland« fand, genießt landesweite Popularität. Mit dieser Personalie zielt die Putin-Administration darauf, konservative Wählerschichten für ihren Kandidaten zu gewinnen.

Die Umsetzungen im Führungsapparat, die zwischen dem 20. und 27. Dezember stattfanden dienten einem anderen Zweck. Zu diesem Zeitpunkt – nach der Massendemonstration auf dem Bolotnaja-Platz – hatte der Führungszirkel endlich begriffen, dass das politische System in eine schwere Krise geraten war. Zunächst wurde Boris Gryslow, bisher Dumasprecher und Vorsitzender des Büros des Präsidiums der Partei »Einiges Russland«, abgelöst und durch Sergej Naryschkin, bisher Leiter der Präsidialadministration, ersetzt. Ein effektiver und taktvoller Manager trat damit an die Stelle eines Mannes, dem der Ausspruch zugeschrieben wird, das Parlament sei kein Platz für Debatten. Die Leitung der Präsidialadministration übernahm Sergej Iwanow, ein ehemaliger Geheimdienstler, der dem engeren Kreis um Putin zugerechnet wird und 2007 als möglicher Präsidentschaftskandidat galt. Medwedews Apparat wird damit in den letzten Wochen seiner Amtszeit von einem Vertrauten Putins kontrolliert.

Die Ernennung des russischen NATO-Botschafters Dmitrij Rogosin zum Stellvertretenden Ministerpräsidenten mit Zuständigkeit für den Rüstungssektor, zielt wiederum auf eine rechtsnationale Öffentlichkeit. Rogosin, ein demagogisches Talent, war mehr oder weniger an allen rechtsextremen Parteigründungen nach 1992 beteiligt. Der Erfolg der Partei »Rodina« (Heimat) in den Dumawahlen 2003, veranlasste die Putinsche Führung, den gefährlichen rechten Agitator die hohe Position in Brüssel anzubieten und ihn so aus der russischen Innenpolitik zu entfernen. Wenn man ihn jetzt zurückholt, so geht es darum, rechte Wähler für Putin zu mobilisieren. Rogosins Kompetenz als Industriemanager und Organisator von Innovationen sind zu vernachlässigen. Daher steht auch nicht zu erwarten, dass er nach der Präsidentenwahl die Leitung eines Sektors behalten wird, der einer umfassenden Erneuerung bedarf.

Von zentraler Bedeutung war schließlich die Personalrochade von Wjatscheslaw Surkow und Wjatscheslaw Wolodin am 27. Dezember. Surkow, bisher als Erster Stellvertretender Leiter der Präsidialadministration zuständig für den gesamten Bereich der Innenpolitik, wechselte als Stellvertretender Ministerpräsident mit Zuständigkeit für Modernisierungspolitik in die Regierung, Wolodin, bisher Leiter des Regierungsapparats und Stellvertretender Ministerpräsident, übernahm Surkows Position. Die Ablösung des »großen Puppenspielers« Surkow, der Parteien geschaffen, Ideologien erdacht, Wahlen manipuliert und Dumamehrheiten organisiert hatte, stellt sicher einen Einschnitt dar. In den Medien wurde die Umsetzung auch als Abstrafung für das Versagen bei der Organisation der Wahlkampagne 2011 interpretiert. Wolodin hatte nicht nur Putins Regierungsarbeit effizient organisiert und war zuständig für Verwaltungsreform und Überwachung der Zusammenarbeit von föderalen, regionalen und kommunalen Behörden, im Frühjahr 2011 hatte er den Aufbau der »Allrussischen Volksfront« aus dem Hintergrund organisiert, die eine Massenbasis für den Wahlsieg von »Einiges Russland« schaffen sollte. Jetzt ist es Wolodins Aufgabe, mit dem Präsidialapparat Putins Präsidentschaftswahlkampf zu orchestrieren.

Die Umsetzungen dienten also unterschiedlichen Zwecken: Goworuchins und Rogosins Berufung zielten auf ein rechtes Wählerpotential, das man an die Putin-Kampagne binden will. Ob man die beiden nach der Wahl halten will, ist zweifelhaft: Goworuchin ist mit 75 Jahren zu alt, Rogosin in seinen Aktionen zu erratisch und politisch zu gefährlich, um ihn auf Dauer in der Exekutive zu halten. Die Personalia Iwanow, Wolodin und Naryschkin kann man sich indes als Gerippe des neuen Putinschen Apparats vorstellen: Naryschkin als effizienter Manager in der Duma, Iwanow und Wolodin als Schlüsselfiguren der Präsidialadministration nach den gewonnen Wahlen. Als originelle Denker und phantasievolle politische Strategen sind allerdings alle drei bisher nicht hervorgetreten. Politische Phantasie hatte bisher vor allem Surkow bewiesen. Doch dessen künftige Rolle bleibt unklar. Die langjährige »graue Eminenz« der russischen Innenpolitik ist als Wirtschaftspolitiker und Wissenschaftsmanager nicht ausgewiesen. Als Motor einer erfolgreichen Innovations- und Modernisierungspolitik nach den Wahlen ist er nur schwer vorstellbar.

Neuausrichtung der politischen Programmatik

Parallel zur Neuaufstellung des Apparates entwickelt die Führung ihr politisches Programm und passt es chamäleonartig den Forderungen an, die aus einer kritischen Öffentlichkeit heraus erhoben werden. In einer Reihe von öffentlichen Auftritten suchten Präsident und Ministerpräsident noch vor der Neujahrs- und Weihnachtspause deutlich zu machen, dass die Putin-Medwedew-Administration bereit ist, auf die Sorgen der Bevölkerung einzugehen. Im »Gespräch mit Wladimir Putin« stellte sich Putin am 15. Dezember in Fernsehen und Rundfunk dem russlandweiten Dialog mit Zuhörern und Zuschauern. Zwei Tage später, am 17. Dezember, traf sich Präsident Medwedew mit dem Parteiaktiv von »Einiges Russland« und am 22. Dezember trat er vor der Föderalversammlung mit seiner Botschaft zur Lage der Nation auf. Nach der Weihnachtspause trat Kandidat und Ministerpräsident Putin dann seinerseits mit einer Reihe programmatischer Aufsätze hervor. Am 16. Januar publizierte er in der Zeitung Iswestija einen Artikel, in dem er sich mit den Mittelschichten und ihren Forderungen auseinandersetzte, am 23. Januar ging er in einem längeren Aufsatz in der »Nesawisimaja gaseta« auf die »nationale Frage« ein. Bei diesen öffentlichen Auftritten und in den Publikationen skizzierten Medwedew und Putin ein politisches Programm, das die Forderungen der Öffentlichkeit in vielen Punkten aufnahm und in die eigene Agenda eingliederte.

Die Aufgabe, die es zu lösen gilt, formulierte Putin in seinem Mediendialog ganz offen: die Festigung des politischen Systems und die Wiedereinrichtung einer funktionierenden Verbindung zwischen Obrigkeit und Bevölkerung. Mit anderen Worten, es geht darum, ein neues politisches Arrangement zu schaffen, das das Regime in den nächsten sechs Jahren trägt. Erster Schritt muss sein, die Präsidentenwahlen glaubwürdig zu gestalten. Putin gibt darauf eine technisch-administrative Antwort: die Installierung von Webcams in allen Wahllokalen. Er kam damit dem Wunsch nach ehrlichen transparenten Wahlen entgegen, ohne zivilgesellschaftlichen Initiativen und echter Wahlbeobachtung eine Chance zu geben.

Der Ministerpräsident kam den Kritikern des Systems auch in einem zweiten Punkt entgegen: Er bot an, die Direktwahl der Gouverneure wieder einzuführen, die 2004 abgeschafft worden war. Dies ist in der Tat ein wichtiger Punkt, da die regionalen Eliten damit neue Bedeutung gewinnen. Zwar soll der Präsident die Kandidatenauswahl kontrollieren – Putin sprach von einem »Präsidentenfilter« –, dennoch stärkt eine solche Direktwahl die Gouverneure und machte sie vom Zentrum unabhängiger. Präsident Medwedew nahm Putins Ankündigung in seiner »Botschaft an die Föderalversammlung« auf und führte sie weiter aus. Medwedew schlug »eine komplexe Reform unseres politischen Systems« vor. Neben der Direktwahl der Gouverneure wollte er auch die Registrierung von Parteien erleichtern und das Dumawahlrecht so verändern, dass aus allen 225 Wahlkreisen Vertreter in das Parlament gelangten. In der Besetzung der Wahlkommissionen sollten in Zukunft schließlich Parteien eine größere Rolle spielen als bisher.

Mit diesen Vorschlägen sucht die Führung der heftigsten Kritik die Spitze abzubrechen. Allen Beteiligten ist klar, dass diese Änderungen erst bei den nächsten Regionalwahlen und dann 2016 bei den nächsten Dumawahlen eine praktische Rolle spielen werden. Für die Auswahl des Präsidenten am 4. März sind sie ohne Bedeutung. Es handelt sich also um Placebos, mit denen die Putin-Medwedew-Administration versucht, sich kurzfristig Luft zu verschaffen, und die Präsidentenwahlen unbeschädigt zu überstehen.

Fazit

Nach dem Wahlsieg steht die neue Administration vor der Aufgabe, das politische System so zu reformieren, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung darin wiederfindet und die Elite dennoch den politischen Prozess kontrolliert. An einer demokratischen Entwicklung ist die Administration nicht interessiert. Das Neuarrangement – soweit es gegenwärtig zu übersehen ist – umfasst allerdings widersprüchliche Elemente. Man öffnet den politischen Prozess durch Erleichterung der Parteiengründungen für größere Bevölkerungsteile. Denkbar ist zum Beispiel der Aufbau einer »liberalen«, bürgerlichen Partei, die die Mittelschichten einbindet, die bisher im politischen System keine Vertretung haben. So lange das Parlament schwach ist, ist dies auch keine Gefahr für das Regime. Andererseits stärkt die Direktwahl die Gouverneure und die Einführung von Regionallisten bei den Dumawahlen die regionalen Führungsschichten. Man räumt damit etwas mehr Demokratie ein, stärkt aber die Konkurrenz zu den föderalen Eliten. Wie man Spielräume für Mittelschichten erweitern, Rechtlichkeit durchsetzen und Korruption wirksam bekämpfen will, bleibt unklar.

Alles in allem ist dies kein Programm, das geeignet ist, eine politisierte Öffentlichkeit für die Führung zu gewinnen. Zumal bei den Reformen der Pferdefuß hervorlugt – die Administration will in allen Fällen die Prozesse unter Kontrolle behalten. Das wird auch durch das konservativ-reaktionäre Personaltableau bestätigt. Mit Männern vom Schlage Iwanows, Wolodins oder Putins lässt sich nur schwer glaubhaft machen, dass man eine liberale Wende realisieren will. Im Grunde ist die Person Putin zu Putins Problem geworden.

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