Die Struktur der Parteilisten zu den Dumawahlen 2011

Von Arkadij Ljubarew (Moskau)

Zusammenfassung
Bei den Dumawahlen gilt das Verhältniswahlrecht, das heißt die Parteien stellen für das gesamte Land eine Wahlliste auf und erhalten entsprechend ihres Anteils an der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen Abgeordnetensitze im Parlament. Der folgende Beitrag stellt die Regelungen für die Kandidatenlisten vor und analysiert die Struktur der Kandidatenlisten für die anstehenden Dumawahlen.

Einleitung

Bei nationalen Wahlen stellen die russischen Parteien auf nationaler Ebene Kandidatenlisten auf. Diese müssen jedoch in einen zentralen Teil und regionale Kandidatengruppen gegliedert sein, die wiederum jeweils einem bestimmten Gebiet (einer Region, einer Teilregion oder einer Gruppe von Regionen) entsprechen sollen. Die Gebiete, nach denen die regionalen Kandidatengruppen der Liste gebildet werden, sind unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben von den Parteien selbst fest zu legen.

Rechtliche Regelung

Zu den grundlegenden gesetzlichen Bestimmungen, nach denen bei der Dumawahl 2011 die Parteilisten zu erstellen sind, gehören:

  • der zentrale Teil der Parteiliste darf nicht mehr als zehn Kandidaten umfassen;
  • die Liste muss mindestens 70 regionale Kandidatengruppen enthalten;
  • Regionen mit mehr als 1,3 Millionen Wählern können auf den Listen in Gruppen unterteilt werden; die Grenzen der Gebiete, nach denen die einzelnen Gruppen gebildet werden können, werden per Beschluss der Zentralen Wahlkommission festgelegt; jedes Gebiet soll 650.000 oder geringfügig mehr Wähler haben; eine regionale Kandidatengruppe kann eines oder aber mehrere dieser Gebiete repräsentieren;
  • wenn mehrere Regionen durch eine einzige Kandidatengruppe repräsentiert werden sollen, darf die Gesamtzahl der Wähler in diesen Gebieten 3 Millionen nicht übersteigen;
  • die regionalen Kandidatengruppen müssen zusammengenommen alle Regionen, also alle Föderationssubjekte der Russischen Föderation abdecken;
  • es ist verboten regionale Kandidatengruppen für nicht aneinander grenzende Gebiete aufzustellen, mit der Ausnahme der Exklave Kaliningrader Gebiet.

Die Russische Föderation besteht zurzeit aus 83 Regionen, wobei in 58 von ihnen die Zahl der Wähler unter 1,3 Millionen liegt. Also können nur 25 Regionen in mehrere Gebiete unterteilt werden. Die Zentrale Wahlkommission hat dem Gesetz entsprechend diese Gebiete festgelegt, es sind 93. Somit beträgt die Höchstzahl der regionalen Kandidatengruppen, in die eine Parteiliste untergliedert werden kann, 151.

Die Rolle der regionalen Gruppen

Bei den meisten Parteien besteht der zentraler Teil ihrer Liste aus der zulässigen Höchstzahl von zehn Kandidaten. Es gibt zwei Ausnahmen: Bei »Gerechtes Russland« besteht der zentrale Teil der Liste aus acht Kandidaten, bei »Einiges Russland« ist es nur einer, Präsident Dmitrij Medwedew. Die Anzahl der regionalen Kandidatengruppen und die Wählerzahlen in den Gebieten sind in Tabelle 1 auf S. 12 aufgeführt.

Wie die Tabelle zeigt, liegt bei den meisten Parteien die Zahl der Kandidatengruppen eher am unteren als am oberen Limit, wobei ein großer Teil der Parteien weniger als 80 regionale Gruppen gebildet hat (2007 hatte die erforderliche Mindestzahl der regionalen Kandidatengruppen noch 80 betragen). Dies bestätigt unsere Einschätzung, dass die 2007 geltende Beschränkung zu streng war. Gleichzeitig sind wir der Ansicht, dass die Mindestzahl von 70 immer noch zu hoch ist, und dass die meisten Parteien bei einer geringeren Mindestzahl auch weniger regionale Kandidatengruppen aufstellen würden

Die Untergliederung der Kandidatenliste in regionale Gruppen kann zwei positive Effekte haben. Erstens sorgt sie für eine größere Wählernähe der Kandidaten. Dies wird jedoch nur dann in vollem Umfang erreicht, wenn auf jede Kandidatengruppe zumindest ein Mandat entfällt. Anderenfalls hätte ein Teil der Wähler, und manchmal gar ein bedeutender Teil, zwar einen eigenen Kandidaten auf der Liste, aber anschließend trotzdem keinen »eigenen« Abgeordneten im Parlament.

Damit jedoch auf jede regionale Kandidatengruppe mindestens ein Mandat entfällt, muss eine Partei bei 10 Kandidaten im zentralen Listenteil mindestens 80 Mandate erringen, wofür sie wiederum nicht weniger als 15–16 % der Wählerstimmen benötigt. Bei den bevorstehenden Wahlen können nur zwei Parteien auf ein solches Ergebnis hoffen: Nach jüngsten Prognosen des russischen Meinungsforschungsinstituts WCIOM wird »Einiges Russland« über 250 Mandate erringen, während der KPRF 85 Mandate vorausgesagt werden. Die anderen beiden Parteien, die nach Einschätzung des WCIOM die 7%–Hürde überspringen werden, nämlich die LDPR und »Gerechtes Russland«, werden weniger Stimmen erhalten und so werden die Mandate dieser Parteien offensichtlich nicht für alle regionalen Gruppen reichen. Doch auch bei der KPRF werden nicht auf alle regionalen Gruppen Mandate entfallen, da sich die Wählerzahlen in den entsprechen Gebieten stark voneinander unterscheiden, wie Tabelle 1 zeigt.

Zum zweiten kann die Untergliederung der Listen in regionale Gruppen das Engagement der Kandidaten im Wahlkampf stimulieren, da es sich dadurch lohnt, für ein besseres Ergebnis der Partei zu kämpfen. Dies gilt jedoch nur dann, wenn ihre Wahl oder Nichtwahl nicht bereits im Vorhinein feststeht oder wenn eine Kandidatengruppe je nach ihrem Einsatz eine unterschiedliche Zahl von Mandaten erringen kann. Eine solche Situation kann jedoch nur dann entstehen, wenn den regionalen Kandidatengruppen Gebiete mit einer annähernd gleichen Wählerzahl entsprechen. Die bestehenden Vorschriften zur Festlegung der Kandidatenlisten schließen jedoch eine in Bezug auf die Wählerzahlen gleichmäßige Unterteilung der Listen praktisch aus.

Wie Tabelle 1 zeigt, beträgt der Unterschied zwischen den Gruppen für die wählerreichsten und die wählerärmsten Gebiete mehr als das 20-fache. Die kleinsten Gruppen wurden für den Autonomen Kreis der Nenzen (32.000 Wähler), den Autonomen Kreis der Tschuktschen (36.000) und die Republik Altai (149.000) gebildet. Die Gruppen für die wählerstärksten Gebiete sind die für die Stadt Moskau (7 Mio.), die Region Krasnodar (3,8 Mio.) und die Stadt St. Petersburg (3,4 Mio.). Dabei hat die »kleinste« regionale Gruppe nur bei Einiges Russland die Aussicht – und auch hier keine hundertprozentige – ein Mandat zu erhalten. Bei den übrigen Parteien sind einige Kandidatengruppen eindeutig chancenlos, was bedeutet, dass den Kandidaten hier jeder Anreiz fehlt, sich für ein besseres Wahlergebnis einzusetzen. Andererseits können sich die großen Gruppen bei Überwindung der 7%-Hürde ihrer Mandate sicher sein, was wiederum die führenden Kandidaten dieser Gruppen kaum zu großem Engagement bewegen dürfte.

Eine Analyse zeigt, dass die KPRF, die LDPR und insbesondere Gerechtes Russland und Jabloko bemüht waren, ihre Listen so zu untergliedern, dass der Wettbewerb zwischen den jeweiligen regionalen Gruppen verstärkt wird. Wegen der zu hohen Mindestzahl an regionalen Gruppen waren diese Parteien jedoch gezwungen, in ihren Listen ein rundes Dutzend »aussichtsloser« Gruppen zu bilden. Gleichzeitig haben sie versucht, bei einigen Dutzend anderer Gruppen einen Ausgleich der entsprechenden Wählerzahlen zu erreichen. Dies sind denn auch die Gruppen, zwischen denen effektiv ein Wettbewerb stattfinden wird.

Gerechtes Russland hat zum Beispiel versucht, möglichst viele regionale Kandidatengruppen für Gebiete mit einer Wählerzahl von 1,2 bis 2,2 Mio. festzulegen. Insgesamt konnten 40 solcher Kandidatengruppen gebildet werden, während die Parteiliste 9 Gruppen enthält, die Gebieten mit weniger als 400.000 Wählern entsprechen und keinerlei Chance haben, auch nur ein einziges Mandat zu erringen. Die Partei »Jabloko« hat den Schwerpunkt auf Gruppen von 2,5 bis 3 Mio. Wählern gelegt, von denen es in der Parteiliste nun 16 gibt, während auch in dieser Liste 9 regionale Kandidatengruppen für Gebiete mit weniger als 400.000 Wählern entstanden.

Es lässt sich daher feststellen, dass die zu hohe Mindestzahl regionaler Kandidatengruppen der Partei Einiges Russland zu Gute kommt, da nur bei dem erwartet hohen Wahlergebnis dieser Partei alle Gruppen der Parteiliste reale Chancen auf Mandate haben.

Vorteile für Einiges Russland

Aus diesen Gesetzesbestimmungen, durch die die Kandidatengruppen im Wesentlichen einzelnen Regionen zu entsprechen haben, ergeben sich für Einiges Russland weitere Vorteile. So ist kaum eine der Parteien in der Lage, in allen Regionen überzeugende und populäre Kandidaten aufbieten zu können. Anders ist die Situation bei Einiges Russland: Als »Partei der Macht« hat sie in allen Regionen viele Vertreter der politischen, Verwaltungs- und Wirtschaftseliten in ihren Reihen.

Es ist offensichtlich, dass die verstärkte »Regionalisierung« der Parteilisten den Einfluss der jeweiligen Gouverneure auf die Besetzung der Listen erhöht. Wenn Gouverneure »ihre Leute« in den jeweiligen Kandidatenlisten von Einiges Russland platzieren, dann werden sie stark dazu motiviert, »Einiges Russland« im Wahlkampf zu unterstützen, was bereits bei den Wahlen von 2007 deutlich zum Tragen kam.

Wenn stattdessen im regionalen Teil der Liste eine Gruppe für drei bis fünf Föderationssubjekte gebildet würde, wäre es für die Gouverneure erheblich schwieriger, bestimmte Kandidaten auf bestimmte Listenplätze innerhalb einer solchen Gruppe zu hieven, und es wäre auch weniger leicht, auf das Wahlergebnis dieser Gruppe Einfluss zu nehmen.

Den Bestimmungen zu Folge, die die Aufteilung der Mandate zwischen den regionalen Kandidatengruppen einer Liste regeln, hängt der Erhalt eines Mandates von der absoluten Anzahl der Stimmen ab, die eine Partei auf dem entsprechenden Gebiet erhalten hat. Im Zusammenwirken mit der oben beschriebenen »Regionalisierung« der Kandidatengruppen bedeutet dies einen Anreiz für die Gouverneure, für eine höhere Wahlbeteiligung zu kämpfen. Eine erhöhte Wahlbeteiligung kann auf ehrlichem Wege erreicht werden, wenn also eine erhöhte Beteiligung nicht auch mit einem höheren Stimmenanteil von Einiges Russland einhergeht, sondern lediglich die absolute Zahl der Stimmen für diese Partei steigt. Und selbst in dem Fall, dass der Stimmenanteil der »Partei der Macht« dann sinken würde – falls nämlich dadurch mehr Protestwähler zur Wahlbeteiligung ermutigt würden – stiege dennoch, und sei es in geringem Maße, die absolute Zahl der Stimmen für Einiges Russland.

Es ist jedoch klar, dass eine solche Einflussnahme dann am wirkungsvollsten ist, wenn mit der Wahlbeteiligung auch der Stimmenanteil für Einiges Russland steigt. Bei den Wahlen 2007 war dieses Phänomen, das in beträchtlichem Maße auf Wahlfälschungen zurückzuführen ist, in den meisten Regionen zu beobachten.

In einigen gering besiedelten Regionen zeigt ein weiterer Umstand seine Wirkung. Eine einfache Rechnung zeigt, dass eine Region nur dann in der Duma repräsentiert sein kann, wenn die entsprechenden regionalen Kandidaten über die Liste einer Partei einziehen, die mindestens 200 Mandate erringt, also de facto nur über die Liste von Einiges Russland. Voraussetzung hierfür sind jedoch eine hohe Wahlbeteiligung in der Region und überdurchschnittliche Ergebnisse für die »Partei der Macht«. Daher wird ein besonderer Druck auf die regionalen Eliten ausgeübt, mit dem Ziel, dass diese geschlossen – und losgelöst von der eigenen politischen Einstellung – »Einiges Russland« unterstützen.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des gemeinsamen Projektes von GOLOS, Europäischem Austausch, Heinrich Böll Stiftung und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde.

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