Besonderheiten russischer Wahlen 2016: Stärkung der regionalen Bürokratie und Schwächung der Parteien

Von Alexander Kynev (Moskau)

Zusammenfassung
Am 18. September 2016 werden die nächsten Wahlen zur russischen Staatsduma stattfinden, die siebten seit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Entstehen der Russischen Föderation. Nachdem Anfang der 2000er Jahre unter anderem durch Änderungen im Wahlrecht eine Zentralisierung staatlicher Herrschaft zu beobachten war, kehrte man ab 2013 zu einem gemischten Wahlsystem zurück, was den Einfluss der regionalen Bürokratien wieder stärken könnte. Daneben haben in den letzten Jahren Veränderungen in der Parteiengesetzgebung zu einer Stärkung der systemischen (die nach 2011 wieder diszipliniert wurde) und einer Schwächung der außersystemischen Opposition geführt. Da zudem die Bedingungen der Wahlbeobachtung weiter erschwert wurden, dürften die Wahlergebnisse in den Augen der Bevölkerung delegitimiert bleiben. Auch die jüngst erfolgte Neubesetzung der Zentralen Wahlkommission wird das nicht kompensieren können.

Veränderter institutioneller Rahmen

Die im September anstehenden Wahlen zur Staatsduma werden sich nach einer ganzen Reihe von Merkmalen radikal von den beiden letzten landesweiten Parlamentswahlen 2007 und 2011 unterscheiden; das betrifft vor allem die strengeren Regeln für eine Zulassung zu den Wahlen, den radikal verstärkten Zensus und die auf ein Minimum reduzierte gesellschaftliche Kontrolle der Wahlen. Zu den wichtigsten Besonderheiten des anstehenden Wahlgangs gehören:

Die Rückkehr zu einem gemischten Wahlsystem;Eine erheblich größere Zahl der potenziellen Subjekte des Wahlprozesses; es sind 75 Parteien zur Teilnahme an den Wahlen zur Staatsduma berechtigt;Die Verlegung des Wahltermins vom Dezember in den September 2016, die den Wahlkampf der Parteien und Kandidaten drastisch erschwert, weil ein erheblicher Teil des Wahlkampfes dadurch in die Haupturlaubszeit fällt;Eine im Vergleich zu allen früheren Wahlen drastische Verschärfung der Vorschriften für die Registrierung von selbstnominierten Kandidaten und Kandidaten, die von Parteien ohne »Privilegien« nominiert wurden;Ein bisher noch nie dagewesener Zuschnitt der Wahlkreise in Föderationssubjekten mit mehreren Wahlkreisen (bei der urbane Gegenden aufgeteilt und mit dem flachen Land verschmolzen werden), was zu Verzerrungen bei der Repräsentation städtischer Wählerschaften führen könnte und die zukünftige Arbeit der Abgeordneten mit ihrer Wählerschaft erschweren dürfte;Die veränderte Zuordnung von Wahlberechtigten im Ausland zu Wahlkreisen in der Russischen Föderation, durch die diese nun über eine erheblich größere Zahl von Wahlkreisen verteilt werden (s. den vollständigen Bericht des KGI (russ.), S. 27–37; <http://st.golosinfo.org/2016/04/Doklad-monito ring-vyborov-2016-1-institutsionalnye-usloviya_KGI_26-04-2016.pdf>);Die drastisch reduzierten Möglichkeiten für ein Monitoring der Wahlen seitens der Parteien und Kandidaten wie auch durch die Gesellschaft. Diese Veränderungen schaffen zusätzliche Möglichkeiten zur Manipulation während der Stimmabgabe und bei der Stimmauszählung.

Es fällt auf, dass das neue Föderale Gesetz Nr. 20-FZ »Über die Wahl der Abgeordneten der Staatsduma«, das vom Präsidenten Russlands erst am 22. Februar 2014 unterzeichnet worden war, noch nicht angewendet wurde und dennoch bereits mehrfach geändert worden ist.

Gründe für die Änderung des Wahlsystems

Anfang der 2000er Jahre sind Änderungen des Wahlrechts zu einem festen Bestandteil staatlicher Politik geworden. Diese Politik zielte seinerzeit auf eine erhebliche Verschärfung der Kontrolle des Zentrums über die Regionen und die Wahl- und Parteiengesetzgebung waren ein wichtiger Bestandteil dieses Kurses.

Im September 2004 wurde beispielsweise die Abschaffung der direkten Gouverneurswahlen sowie der Wechsel vom gemischten Wahlsystem zum reinen Verhältniswahlrecht ab den Wahlen zur Staatsduma 2007 verkündet. Die Regionen verloren durch die Reformen ihre direkte Repräsentation im Parlament und behielten lediglich über die an die Regionen geknüpften Gruppen innerhalb der Kandidatenlisten der Parteien eine mittelbare Vertretung. Größter Nutznießer dieser Änderungen waren die zentralen Parteiführungen in Moskau.

Die Struktur der Parteien sah eine strenge Hierarchie vor, bei der selbst für Entscheidungen der regionalen Parteiorganisationen eine Zustimmung bzw. Abstimmung mit der zentralen Parteiführung erforderlich war. Die Staatsmacht kontrollierte die Parteien und diese die Abgeordneten.

Eine gewisse Stärkung der »systemischen« Opposition (der »Oppositionsparteien« in der Duma) unter Präsident Medwedew fiel unter anderem mit einer veränderten sozio-ökonomischen Lage in der Folge der Krise von 2009/10, der Revolution der sozialen Netzwerke und dem symbolischen Einfluss externer Ereignisse (u. a. des Arabischen Frühlings) zusammen. Die systemische Opposition wurde stärker zur Fronde, es setzte eine Konzentration von Protestwählern bei den wenigen verbliebenen zwar »systemischen«, aber immerhin »alternativen« Parteien ein (Einer der Anführer der »nicht registrierten« Opposition, Alexej Nawalnyj, hatte die Kampagne »Gib deine Stimme irgendeiner anderen Partei« gestartet. »Einiges Russland« erhielt dann bei den Dumawahlen 2011 weniger als 50 Prozent der Stimmen). Die Krise führte zu einer bald vorgenommenen Demontage einer Reihe von Elementen des politischen Systems der 2000er Jahre, nun bereits im Kontext der faktischen Rückkehr Wladimir Putins auf den Posten des Präsidenten der Russischen Föderation.

Um eine Konzentration des Protestes bei den wenigen verbliebenen Parteien zu vermeiden, wurden Eilmaßnahmen zur Abmilderung der Parteien- und Wahlgesetzgebung unternommen, die die Protestwähler in Richtung einer Vielzahl von Parteien spülen sollten. Das Parteiengesetz und das System der Registrierung wurden zügig korrigiert, doch sollte auch das System der Dumawahlen geändert werden.

Nach einer Vielzahl unterschiedlicher Vorschläge und einem Gesetzentwurf Medwedews von Ende Februar 2012, der nicht verabschiedet wurde, sah ein neuer Entwurf Präsident Putins vom 1. März 2013 ein gemischtes Wahlsystem (225 Direktmandate und ebenso viele Listenmandate) sowie eine Sperrklausel von fünf Prozent vor (2007 und 2011 lag sie bei sieben Prozent). Wahlblöcke sollten weiterhin verboten bleiben, wie auch die Nominierung von Mitgliedern fremder Parteien als Kandidaten. In die Kandidatenlisten sollten zwar Parteilose aufgenommen werden können, dabei jedoch nicht mehr als 50 Prozent der Kandidaten ausmachen dürfen. Dieser Entwurf wurde schließlich als Gesetz verabschiedet.

Hier sei zur Illustration angemerkt, dass die totale Dominanz von »Einiges Russland« bei den Regionalwahlen der letzten Jahre vor allem auf den Direktmandaten beruht (2012: 213 von 230). Kandidaten anderer Parteien haben in der Regel nur mit Hilfe »administrativer Ressourcen« oder erheblicher finanzieller Möglichkeiten eine Chance (wobei sie gewöhnlich ein »konstruktives Verhältnis« zur Regierung unterhalten). Angesichts dieser Bedingungen könnten es Oppositionsvertreter noch schwerer haben, falls es nicht zu einer radikalen Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage und wachsender Proteststimmung kommt und/oder die Überlassung eines Teils der Wahlkreise an formal unabhängige Kandidaten oder Kandidaten anderer Parteien nicht im Voraus abgestimmt ist.

Mehr registrierte Parteien und mehr Beschränkungen des passiven Wahlrechts

In der Folge der Änderung der elektoralen Politik im Dezember 2011 war durch das Gesetz Nr. 28-FZ vom 2. April 2012 die Mindestmitgliederzahl der Parteien auf 500 abgesenkt worden. Gleichzeitig erhielten die Kandidaten aller Parteien ein »Privileg«: Sie wurden von der zur Registrierung notwendigen Unterschriftensammlung befreit. Für Eigenkandidaturen wurden als Voraussetzung Unterstützerunterschriften von 0,5 Prozent aller Wahlberechtigten im betreffenden Wahlkreis festgelegt.

Es setzte eine zügige Registrierung neuer Parteien ein. Bei den Regional- und Kommunalwahlen vom 14. September 2014 waren beispielsweise bereits 69 Parteien teilnahmeberechtigt.

Darüber hinaus wurde ganz offensichtlich eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche betrieben, um die Loyalität der »alten systemischen« Parteien (also derjenigen, die schon vor 2011 existiert hatten) wiederherzustellen. Als Peitsche dienten negative Medienkampagnen und Strafverfahren gegen bestimmte Abgeordnete. Eine Rolle spielte auch die Kompromittierung der alten systemischen Parteien durch deren Zustimmung zu den übelsten Gesetzentwürfen in der Duma oder gar deren formaler Initiierung. Bezeichnend ist die Entwicklung 2012 bei »Gerechtes Russland«: Hatte die Partei im Frühjahr noch jene als Loyalisten vertrieben, die für eine Bestätigung der Regierung gestimmt haben, erfolgte Ende des Jahres bereits der Kampf gegen »überzogene Oppositionelle«. Das Ziel war insgesamt wohl, die Alternativlosigkeit der Parteienlandschaft zu demonstrieren und die Dominanz des Systems durch Entmutigung der Protestwähler und durch Mobilisierung der Konformisten und »administrativ Abhängigen« zu stärken.

Als Zuckerbrot wurde die staatliche Parteienfinanzierung erhöht: im Dezember 2012 von 20 auf 50 Rubel, und ab 1. Januar 2015 auf 110 Rubel jährlich pro errungener Stimme. Die Finanzierung der wichtigsten Parteien stieg dadurch gegenüber Ende 2011 auf das Fünffache. Die Motive des Staates liegen auf der Hand: Die Parteien sollten nicht an einer Suche nach privaten Sponsoren interessiert sein – im Mittelpunkt sollte das Bemühen stehen, die staatliche Finanzierung zu erhalten und zu behalten: die Aufmerksamkeit der Parteiführungen sollte der staatlichen Bürokratie gelten, und nicht etwa unabhängigen Unternehmen.

Vor dem Hintergrund der im Frühjahr 2014 im Kontext der Angliederung der Krim entstandenen neuen Allianz zwischen Regierung und den »alten systemischen« Parteien (dem »Krim-Konsens«) wurde das Föderale Gesetz Nr. 95-FZ vom 5. Mai 2014 verabschiedet. Dieses Gesetz beraubte die meisten Parteien ihrer »Privilegien« bei der Registrierung ihrer Kandidaten. Diese Privilegien behielten nur jene Parteien, die bei den Wahlen zur russischen Staatsduma nicht weniger als drei Prozent der Stimmen errungen hatten (also eben jene »alten systemischen« Parteien), in seltenen Fällen auch andere Parteien, wenn sie in der betreffenden Region 2012–2013 bestimmte Wahlerfolge hatten erzielen können. Alle anderen Parteien mussten zur Registrierung erneut Unterstützerunterschriften sammeln, wobei die erforderliche Unterschriftenzahl mit einer Vorgabe von drei statt der früheren 0,5 Prozent erheblich angehoben wurde.

Dadurch wurde es nach dem Mai 2014 für Kandidaten schlicht unnütz, von Parteien »ohne Privilegien« für die Wahlen nominiert zu werden. Die Kandidaten hatten in jedem Fall die Unterschriften zu sammeln und eine große Menge Dokumente über das eigene Einkommen und seine Vermögensverhältnisse und die seiner Verwandten beizubringen. Bei einer Nominierung durch eine Partei muss zudem ein Paket von Unterlagen über die nominierende Partei vorgelegt werden, was den finanziellen und organisatorischen Aufwand erhöht, wie auch das Risiko (wegen der größeren Anzahl der Dokumente), die Registrierung verweigert zu bekommen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Prozess der Parteineugründungen nahezu zum Stillstand gekommen ist. Mit Stand vom März 2016 können nach Angaben des Justizministeriums 75 Parteien – mit und ohne »Privilegien« – an den Wahlen teilnehmen.

Parallel hierzu haben in den Jahren 2012 bis 2016 politische Organisationen keinen Parteistatus erlangen können, die in den Regionen eine reale politische Tätigkeit erkennen lassen und vielfach die landesweite und regionale politische Agenda bestimmen. Dies gilt vor allem für die »Partei des Fortschritts« (russ. »Partija progressa«, früher bekannt als »Volksallianz«) von Alexej Nawalnyj, die am 28. April ohne Gerichtsbeschluss vom Justizministerium aufgelöst wurde; zu nennen wäre zudem die »Partei des 5. Dezember«.

Dadurch ergibt sich das Bild, dass in diesen Jahren öffentlich kaum sichtbare Parteien mit dem breiteren Publikum kaum bekannten Führungsfiguren und einer belanglosen Arbeit in den Regionen sich mit Leichtigkeit registrieren lassen und umbenennen konnten, während Initiativgruppen, die wohlbekannte Vertreter des öffentlichen Lebens in ihren Reihen haben und in den Regionen reale politische Arbeit leisten, Probleme mit der Registrierung haben.

Beschränkungen für das passive Wahlrecht

Die Gesetzesvorschriften von 2006 verwehren es Bürgern mit einer zweiten Staatsangehörigkeit oder einem Aufenthaltstitel im Ausland oder einem anderen Dokument, das das Recht zum ständigen Aufenthalt auf dem Territorium eines ausländischen Staates bestätigt, als Abgeordnete der Staatsduma gewählt zu werden.

Durch das Gesetz Nr. 19-FZ vom 21. Februar wurde festgelegt, dass Personen, die wegen schwerer Verbrechen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, für eine Zeit von 10 Jahren nach Erlöschen oder Tilgung der Vorstrafe das passive Wahlrecht verlieren; für Personen, die für besonders schwere Verbrechen verurteilt wurden, gilt eine Frist von 15 Jahren.

2013 wurden praktisch eigentumsbezogene Beschränkungen eingeführt. Ein Kandidat ist verpflichtet, zum Zeitpunkt seiner Kandidatur alle Konten (Anlagen) im Ausland aufzulösen, die Aufbewahrung von Barmitteln und Vermögenswerten in ausländischen Banken, die sich außerhalb Russlands befinden, einzustellen und / oder sich von ausländischen Finanzinstrumenten zu trennen.

Die genannten Beschränkungen betreffen Hunderttausende Bürger der Russischen Föderation.

Beschränkungen der Rechte von Wahlbeobachtern

Die Wahlen 2016 stehen im Zeichen einer drastischen Verringerung der Möglichkeiten für eine unabhängige Wahlbeobachtung. Eine qualitative Verschlechterung war bereits im Jahr 2006 erfolgt: Durch das Föderale Gesetz Nr. 93-FZ vom 21. Juli 2005 wurde das Recht gesellschaftlicher Vereinigungen abgeschafft, bei landesweiten Wahlen Wahlbeobachter zu entsenden; den Föderationssubjekten wurde die Möglichkeit eingeräumt, dieses Recht auch bei Regional- und Kommunalwahlen abzuschaffen, wodurch gesellschaftliche Vereinigungen nur in vereinzelten Regionen das Recht zur Wahlbeobachtung behielten. Seit 2006 konnten Vertreter gesellschaftlicher Organisationen in der Praxis eine Wahlbeobachtung in den Wahllokalen vor allem als Korrespondenten von Medien durchführen. Bis 2016 war die Situation in rechtlicher Hinsicht – ungeachtet immer wieder auftretender Konfrontationen zwischen Behördenvertretern und unabhängigen NGOs und trotz Versuchen, auf diese NGOs Druck auszuüben und gegen sie Medienkampagnen zu fahren – stabil geblieben.

2014 erfolgte eine drastische Verschlechterung der rechtlichen Lage von unabhängigen NGOs, die sich mit Wahlbeobachtung befassen. Durch das Föderale Gesetz Nr. 355-FZ vom 24. November wurden in der Wahlgesetzgebung Änderungen vorgenommen, denen zufolge nicht nur ausländische Staatsangehörige und Staatenlose, sondern nun auch ausländische Organisationen, internationale Organisationen und Bewegungen sowie russische NGOs, die die Funktion eines »ausländischen Agenten« ausüben, »nicht berechtigt [sind], eine Tätigkeit auszuüben, die die Nominierung von Kandidaten oder Kandidatenlisten, eine Wahl […] befördern oder behindern oder sich in anderer Form an einer Wahl oder einem Referendum beteiligen«.

Gleichzeitig ergingen Verbote für Spenden an politische Parteien und an Wahlkampffonds von Parteien und Kandidaten durch nichtkommerzielle Organisationen, die die Funktion eines »ausländischen Agenten« ausüben. Verboten wurden darüber hinaus Vertragsabschlüsse zwischen politischen Parteien und NGOs, die die Funktion eines »ausländischen Agenten« ausüben, oder NGOs, die binnen Jahresfrist vor Vertragsabschluss Geldmittel oder andere Vermögenswerte von ausländischen Staaten oder internationalen Organisationen erhalten hatten; bei Verstößen gegen diese Verbote drohen empfindliche Geldstrafen.

Im Februar 2016 erfolgte der nächste Schritt zur Beschränkung von Wahlbeobachtung. Durch das Föderale Gesetz Nr. 29-FZ vom 15. Februar 2016 wurde die Zahl der Wahlbeobachter, die pro Wahlsubjekt (Partei, Kandidat) in eine Wahlkommission entsandt werden können, auf zwei und die Zahl der Ersetzungen eines Wahlkommissionsmitgliedes mit beratender Stimme auf fünf Mal begrenzt. Gleichzeitig wurde die Vorschrift eingeführt, dass eine Liste der entsandten Beobachter spätestens drei Tage vor dem Wahltag vorzulegen ist. Eine Person kann nur in eine Wahlkommission als Wahlbeobachter entsandt werden. Somit wird im Voraus bekannt sein, welche Wahllokale am Wahltag ohne Beobachter sein werden; auf die einzelnen potenziellen Wahlbeobachter wiederum kann Druck ausgeübt werden. Darüber hinaus verbietet das genannte Gesetz praktisch die Methode der sogenannten »mobilen Wahlbeobachtung«, bei der Beobachterteams (u. a. mit Berufsjuristen) am Wahltag in die »schwierigsten« Wahllokale fahren. Einen gewissen Ausgleich stellt die Festschreibung des Rechts der Wahlbeobachter dar, Foto- und / oder Videoaufnahmen machen zu dürfen (von einem Standort aus, der vom Wahlvorsteher im Wahllokal festgelegt wird). Es wurde festgelegt, dass Wahlbeobachter des Wahllokals verwiesen werden, wenn eine Gesetzesübertretung durch sie gerichtlich festgestellt wurde.

Des Weiteren wurden praktisch die Möglichkeiten für Vertreter unabhängiger NGOs beseitigt, als Medienkorrespondenten in den Wahllokalen tätig zu sein. Gleichzeitig wurden auch für Journalisten die Möglichkeiten generell beschnitten. Durch das Föderale Gesetz Nr. 66-FZ vom 9. März 2016 ist die Anwesenheit im Wahllokal am Wahltag nur jenen Medienvertretern erlaubt, die nicht weniger als zwei Monate vor Beginn der Wahlkampagne einen Arbeits- oder einen ein Entgelt vorsehenden zivilrechtlichen Vertrag abgeschlossen haben. Anträge auf Akkreditierung wie auch auf Entsendung von Wahlbeobachtern müssen spätestens drei Tage vor dem Wahltag eingereicht werden. Internet-Ausgaben werden als eigene Medienart geführt. Gleichzeitig wurden Geldstrafen für Wahlbeobachter eingeführt, wenn diese »die Arbeitsweise der Wahlkommission stören, oder Hindernisse für die Teilnahme von Wählern oder Referendumsteilnehmer schaffen, sofern diese Handlungen nicht strafrechtlich relevant sind«; die Strafen betragen für einfache Bürger zwischen 2.000 und 5.000 Rubel und für Amtspersonen zwischen 20.000 und 50.000 Rubel.

Es sei darauf hingewiesen, dass sich hier eine rechtliche Kollision zwischen der Ernennung der Wahlbeobachter und der Akkreditierung von Journalisten drei Tage vor den Wahlen sowie dem Paragraphen 14 des Föderalen Gesetzes »Über die Wahl der Abgeordneten der Staatsduma« ergibt. Dieser Artikel besagt, dass von der Territorialen Wahlkommission in Absprache mit der Regionalen Wahlkommission des Föderationssubjektes in schwer zugänglichen oder entlegenen Gegenden, auf Schiffen, auf Militärstützpunkten, die gesondert oder von Ortschaften entfernt liegen, (hier auf Antrag der Stützpunktkommandanten) und an zeitweiligen Aufenthaltsorten von Wählern (Krankenhäuser, Sanatorien, Erholungsheime, Bahnhöfe, Flughäfen usw.) »in Ausnahmefällen« Wahllokale spätestens drei Tage vor dem Wahltag gebildet werden können. Dadurch ist hier im Voraus weder eine Akkreditierung von Beobachtern noch eine von Journalisten möglich; diese Wahllokale bleiben somit völlig jenseits einer Kontrolle.

Die neue Zentrale Wahlkommission

Es wurde versucht, das skandalöse Vorgehen, das in der Vergangenheit die Korrektheit der bevorstehenden Wahlen und die Spielregeln als solche diskreditiert hat, durch eine Imageverbesserung der Zentralen Wahlkommission (ZIK) zu kompensieren; das kam bis zu einem gewissen Grade einer »politischen Anästhesie« gleich. Zu beachten ist allerdings, dass die ZIK lediglich die geltenden Gesetze umsetzt und nicht selbst die Spielregeln bestimmt.

Wladimir Tschurow, der notorische Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, wurde von der Menschenrechtsbeauftragten Russlands, Ella Pamfilowa, abgelöst, die am 28. März 2016 offiziell zur neuen Vorsitzenden der ZIK gewählt wurde. Darüber hinaus waren von den 15 Mitgliedern der neuen ZIK nur 6 auch früher schon Mitglied.

Allerdings wird die neue ZIK 2016 auf die regionalen Wahlkommissionen nur sehr begrenzt Einfluss ausüben können, da die meisten regionalen Kommissionen nicht vor den Dumawahlen neu besetzt werden. Voraussichtlich werden nur acht regionale Wahlkommissionen vor den Wahlen neu gebildet.

2016: Der Start und die Folgen

Vor diesem Hintergrund hat der Wahlkampf praktisch begonnen – mit breitangelegten Vorwahlen (russ.: »prajmeris«; juristisch: »innerparteiliche Vorwahlen«) von »Einiges Russland«, die am 22. Mai 2016 stattfanden. Diese erinnerten heuer weitestgehend an gewöhnliche Wahlen: mit Wahllokalen (rund ein Fünftel so viele wie bei gewöhnlichen Wahlen), in denen jeder Interessierte, der dann am Eingang per Hand in die Liste eingetragen wurde, abstimmen konnte. Auch die Skandale bei den Vorwahlen erinnerten weitestgehend an jene bei gewöhnlichen Wahlen: es wurde einer Reihe starker, aber der jeweiligen Regionalregierung nicht genehmer Kandidaten die Registrierung entzogen, es wurden Wähler herangekarrt, Wähler praktisch gekauft, auf öffentliche Angestellte Druck ausgeübt (zur Abstimmung zu gehen), zusätzliche Stimmzettel eingeworfen, Protokolle umgeschrieben etc.

Fazit: Institutionelle Besonderheiten mit gewissen politischen Folgen

Zum einen erhöht allein das veränderte Wahlsystem, die Wiederherstellung der Mehrheitskomponente unweigerlich die politische Unabhängigkeit der Abgeordneten, die sich nicht nur an der Meinung der Partei- und Staatsbürokratie werden orientieren müssen, sondern auch an der ihrer Wähler und der regionalen und lokalen Eliten, von denen sie als Kandidaten unterstützt wurden.

Zweitens wird sich der Einfluss der Regionalregierungen auf die Arbeit der Staatsduma erhöhen: Der verringerte Anteil an Listenmandaten wird den Einfluss der »Parteivertikalen« auf die Regionen schmälern und gleichzeitig werden die regionalen Regierungen »administrative Ressourcen« in den Händen haben, mit denen sie die Registrierung der Kandidaten in den Direktwahlkreisen kontrollieren können.

Als Drittes besteht ein gewisses Risiko, dass die Wahlergebnisse in der Öffentlichkeit delegitimiert werden. Die öffentliche Meinung könnte die mit aller Wahrscheinlichkeit erfolgende Verkündung einer totalen Dominanz der Abgeordneten der Partei »Einiges Russland« nicht akzeptieren, falls deren Ergebnisse bei den Kandidatenlisten erheblich zurückgehen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird die Gesellschaft solche Ergebnisse als ungerecht empfinden, wofür zusätzliche Voraussetzungen geschaffen wurden. Die Gründe könnten nämlich in einer wahrscheinlich geringeren Wahlbeteiligung aufgrund des geänderten Wahldatums und in der durch die jüngsten Gesetzesänderungen bewirkten Beschneidung der Wahlbeobachtung (insbesondere einer unabhängigen) liegen. Die Reaktion der gesellschaftlichen Meinung dürfte hier klar sein: Wenn die Rechte von Wahlbeobachtern beschnitten werden, dann geschieht das nicht einfach so, dann soll da etwas verheimlicht werden. Auch die skandalösen Methoden zur Erhöhung der Wahlbeteiligung (massenhafte Stimmabgabe außerhalb des Wahllokals oder mit Wahlschein) könnten die Situation verschärfen. Gleiches gilt für die Nichtzulassung einer Reihe von Parteien und Kandidaten, die im Sinne eines realen Wettbewerbs bei den Wahlen symbolhaft wären. Dann könnte selbst das persönliche Ansehen der neuen Leitung der Zentralen Wahlkommission nichts mehr an der Lage ändern.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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