Eine innenpolitische Bilanz der Regierung Tusk

Von Reinhold Vetter (Warschau und Berlin)

Zusammenfassung
Die Koalition aus Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) und Polnischer Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL), deren Amtszeit im Oktober endet, war eher eine Regierung der kleinen, vorsichtigen Schritte als der großen Reformen. Die bürgerlich-demokratische Aufbruchstimmung zum Jahreswechsel 2007/2008 hielt nicht lange an. Erfolgen der Koalition bei der Bekämpfung der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise sowie auf rechtlichem und sozialem Gebiet stehen herbe Niederlagen in anderen Bereichen gegenüber. So ist die Regierung bei der Schaffung eines »schlanken Staates« und der grundlegenden Sanierung der Staatsfinanzen gescheitert. Der Bürgerplattform als Seniorpartner der Koalition ist es auch nicht gelungen, die traditionelle Distanz zwischen Bürger und Staat wenigstens etwas zu verringern.

Als Polens Ministerpräsident Donald Tusk und sein Kabinett im November 2007 ihr Amt antraten, übernahmen sie eine große Verantwortung: Nach zwei Jahren »Doppelherrschaft« der Kaczyńskis (Jarosław Kaczyński als Ministerpräsident und Lech Kaczyński als Staatspräsident) ging es nicht nur darum, viele »liegengebliebene«, kurz- und langfristig wichtige Regierungsaufgaben zu erledigen, sondern auch alle jene Schäden zu reparieren, die Demokratie und Rechtsstaat erlitten hatten. Das Land war tief gespalten, weil die Nationalkonservativen der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) eine schroffe, ideologisch bedingte Polarisierung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft betrieben hatten. So wirkte die Parlamentswahl vom 21. Oktober 2007, bei der die Bürgerplattform mit einem Ergebnis von 41,51 Prozent der Stimmen einen historischen Sieg errang, wie ein Befreiungsschlag, wie ein bürgerlich-demokratischer Aufbruch in ein neues Zeitalter.

In seiner Regierungserklärung versprach Tusk eine »Politik der nationalen Eintracht, des ruhigen Dialogs und des konstruktiven Suchens nach gemeinsam getragenen Lösungen«. Der damalige Justizminister Zbigniew Ćwiąkalski kündigte eine Reform des Zivil- und Strafrechts sowie die Aufhebung der Personalunion von Justizminister und Generalstaatsanwalt an. Tusk schwärmte sogar von einem »Wirtschaftswunder à l’Irlande« und einem »schlanken Staat«. Der neuen Regierung war klar, dass sie sich auch und gerade der Sanierung der sozialen Systeme würde widmen müssen. Ebenso standen Ausbau und Modernisierung insbesondere des Verkehrssystems auf dem Programm.

Zwei Phasen bestimmten die Regierungszeit von Tusk: die cohabitation mit dem nationalkonservativen Staatspräsidenten Lech Kaczyński, und, nach dessen tragischem Tod beim Flugzeugabsturz von Smolensk, die Kooperation mit dem im Sommer 2010 gewählten Nachfolger Bronisław Komorowski, der zuvor wie Tusk zu den führenden Persönlichkeiten der Bürgerplattform gehört hatte.

Regierung trotzt der Finanz- und Wirtschaftskrise

Das Krisenmanagement der Regierung Tusk in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise hatte weitgehend flankierenden Charakter. So vergab die Regierung – vor allem über die staatliche Bank Gospodarstwa Krajowego – Bürgschaften und Kreditgarantien. Sie erreichte auch die Gewährung einer flexiblen Kreditlinie durch den Internationalen Währungsfonds. Schon im Jahr 2008 hatte das Kabinett eine antizyklische Lockerung durch Steuersenkungen beschlossen, die dann nach Ausbruch der Krise eine belebende Wirkung ausübte. Insgesamt hielt sich die Regierung an die Devise, keine größeren Konjunkturprogramme aufzulegen, auch wenn sie beispielsweise die Finanzierung günstiger Kredite für kleine und mittelständische Unternehmen ermöglichte. Hinzu kamen eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes, eine Vereinfachung der Kostenabrechnung für Forschung und Entwicklung sowie eine Beschleunigung der Ausgabe von Geldern aus den EU-Fonds. Erst im Juli 2011 kündigte die Regierung ein größeres Programm zur Förderung von Investitionen an, das vor allem den Branchen Automobil, Elektronik, Luftfahrt, Biotechnologie und Dienstleistungen zugute kommen soll. Ein Deregulierungsgesetz ebenfalls von diesem Jahr vereinfachte die Zulassungs- und Aufsichtsprozeduren gegenüber privaten Unternehmen. In einer Parlamentsrede zur Situation an den internationalen Finanzmärkten am 19. August dieses Jahres nannte Tusk Polen »ein Beispiel für Ruhe und Stabilität«.

Nicht sehr erfolgreich war das Kabinett von Donald Tusk, was die Einsparungen im Staatshaushalt angeht. Konnte im Jahr 2007 das Maastricht-Kriterium einer maximalen Neuverschuldung von drei Prozent noch erfüllt werden, lag der entsprechende Wert im Jahr 2010 schon über sieben Prozent. Die gesamte öffentliche Verschuldung stieg innerhalb von zehn Jahren von 37 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf 55 Prozent im Jahr 2010.

Immerhin war Polen der erste EU-Staat, der eine »Schuldenbremse« einführte. Diese sieht vor, dass die Neuverschuldung nicht über der des Vorjahres liegen darf, wenn der Schuldenstand der öffentlichen Haushalte auf über 50 Prozent des BIP steigt. Erreicht der Schuldenstand mehr als 55 Prozent des BIP, muss die Regierung im folgenden Jahr die Neuverschuldung senken. Wird die Grenze von 60 Prozent überschritten, muss der Staatshaushalt des folgenden Jahres sogar ausgeglichen sein. Im Mai 2011 wurden diese Regelungen sogar auf den kommunalen Bereich ausgedehnt.

Sehr wichtig für die finanzpolitische Stabilisierung Polens gerade in der Krise war die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Jährlich erhält das Land beträchtliche Summen aus den Struktur- und Agrarfonds der EU. Indirekt profitierte Polen auch von den sogenannten Rettungsschirmen, die in vielen EU-Staaten aufgespannt wurden.

Trotz »Schuldenbremse« scheiterte die Tusk-Regierung – wie alle Vorgänger der letzten 20 Jahre – bei der strategischen Aufgabe, den polnischen Staatshaushalt besser zu strukturieren und damit leistungsfähiger bzw. weniger anfällig für Defizite zu machen. Noch immer ist dieses Budget ein kaum überschaubares Gewirr von Haupt- und Nebenhaushalten, von sinnvollen und überflüssigen Fonds, von vertretbaren und unproduktiven Subventionen.

Atomstrom ohne Wenn und Aber

In der strategisch ebenfalls sehr wichtigen Energiepolitik haben sich Tusk und sein Kabinett – trotz der Katastrophe von Fukushima – auf die Seite der bedingungslosen Befürworter der Atomkraft geschlagen, auch wenn es Ausstiegstendenzen in wichtigen europäischen Ländern wie Deutschland und der Schweiz gibt, denen andere Staaten mit Sicherheit folgen werden. Wirtschaftsminister Waldemar Pawlak (PSL) teilte mit, dass im Jahr 2020 das erste Atomkraftwerk ans Netz gehen solle, bis 2030 würden zwei weitere folgen.

Die Regierung begründet diesen Schritt mit der Notwendigkeit, die Energiepolitik zu diversifizieren und verweist in diesem Zusammenhang auf die Dominanz der Kohle bei der Stromerzeugung sowie die Abhängigkeit bei Öl und Gas von Russland. Tatsächlich werden über 90 Prozent des verbrauchten Stroms aus Kohle gewonnen, zwei Drittel des genutzten Erdgases stammen aus Russland.

Immerhin wurde im März 2011 in der Nähe von Swinemünde (Świnoujście) der Grundstein für ein Flüssiggas-Terminal gelegt, über das ab 2014 etwa ein Drittel des polnischen Gasbedarfs gedeckt werden soll. Die Regierung hat auch Pläne, in Stalowa Wola in Südostpolen und an weiteren Orten neue Gaskraftwerke zu bauen, um auch auf diese Weise die Dominanz der Kohle zu verringern. Außerdem wird an verschiedenen Orten in Polen nach Schiefergas gesucht. Im Juli 2011 wurde bekannt, dass sich Investoren aus der Volksrepublik China beim Bau von Kohlekraftwerken sowie im Umweltschutz und bei der Nutzung erneuerbarer Energien in Polen engagieren wollen.

Die Atompläne der Regierung blieben allerdings nicht ohne Kritik. Bei der Parlamentsdebatte über das Gesetz zum Bau von AKWs meldeten sich kritische Stimmen vor allem von der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD), von PiS sowie – vereinzelt – auch aus der PSL. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CBOS vom April 2011 ergab, dass 53 Prozent der Befragten den Bau von AKWs ablehnen, 14 Prozent mehr als sieben Monate zuvor. Ministerpräsident Tusk versicherte anschließend, die polnischen Atomkraftwerke würden »sicher« sein und schloss ein Referendum über den Bau nicht aus.

Gemischte Bilanz beim Ausbau der Infrastruktur

Wer durch Polen fährt, gerade auch durch den Osten des Landes, gewinnt den Eindruck, dass sich im Straßenbau in den letzten vier Jahren doch einiges getan hat. Tatsächlich wurde so manche Landstraße gebaut oder erneuert, Städte erhielten Umgehungsstraßen, auch einige Teilabschnitte im Autobahnnetz kamen hinzu. Vielerorts verraten Schilder, dass diese Arbeiten nicht zuletzt mit Geldern aus den EU-Fonds finanziert wurden.

Doch man muss genau hinschauen. Bald nach seinem Amtsantritt hatte Ministerpräsident Donald Tusk angekündigt, man wolle bis zum Beginn der Fußball-Europameisterschaft 2012 (EURO 2012) mindestens 900 Kilometer Autobahn bauen sowie mehr als 2 000 Kilometer Schnellstraßen neu anlegen oder zumindest reparieren. Jedoch schon im August 2010 hieß es in einem Bericht der Obersten Kontrollkammer (Najwyższa Izba Kontroli – NIK) zu den Vorbereitungen für die EURO 2012, dass gut 40 Prozent der diesbezüglichen Investitionen nicht im festgelegten Zeitrahmen realisiert werden könnten. Das, so NIK, gelte besonders für den Straßenbau und den Ausbau der Verkehrsverbindungen in den Städten.

Tusk selbst musste dann im März 2011 in einem Artikel für die »Gazeta Wyborcza«, Polens größter Tageszeitung, Farbe bekennen. Es wurden, erklärte er, 195 Kilometer neue Autobahn zur Nutzung freigegeben, auch 400 Kilometer Schnellstraßen und 134 Kilometer städtische Umgehungsstraßen seien gebaut worden. Auch habe man 480 Kilometer Landstraßen erneuern können. Außerdem würden in Kürze die Umgehungsstraße um Breslau (Wrocław) sowie das 106 Kilometer lange Teilstück der Autobahn A2 zwischen Nowy Tomyśl westlich von Posen (Poznań) und der deutsch-polnischen Grenze dem Verkehr übergeben. Selbst wenn man diese Zahlen proportional bis zum Beginn der EURO 2012 hochrechnet, wird deutlich, dass die Regierung ihre Versprechungen auf keinen Fall wird einhalten können. Es seien »zu wenig Bänder durchschnitten worden«, kommentierte Janina Paradowska von der renommierten Wochenzeitung »Polityka«. Sowohl der Bau des restlichen Teilstücks der A2 zwischen Stryków nahe Lodz (Łódź) und der Hauptstadt Warschau sowie die Verlängerung der A4 von Krakau (Kraków) zur polnisch-ukrainischen Grenze als auch die Fertigstellung der A1 von Danzig (Gdańsk) über Lodz nach Kattowitz (Katowice) stehen noch in den Sternen. Die Gesamtstrecke der Autobahnen in Polen entspricht etwa der in den viel kleineren Staaten Ungarn und Tschechien. Mehr Tempo beim Autobahnbau wäre auch deshalb vonnöten, weil Polen im Unterschied zu den anderen Staaten den gewaltig gestiegenen Ost-West-Transit im Güterverkehr bewältigen muss.

Gordischer Knoten Autobahnbau

Geradezu grotesk war der Dilettantismus, den die Verantwortlichen in der Regierung an den Tag legten, als der Bau des Teilstücks der Autobahn A2 zwischen Stryków und Warschau an den chinesischen Baukonzern China Overseas Engineering Group (Covec) vergeben wurde. Denn der Dumpingpreis, den Covec offerierte und der dann auch vereinbart wurde, war so niedrig, dass bei den Regierungsvertretern von Anfang an Zweifel an der Fähigkeit des chinesischen Unternehmens, den Auftrag zu realisieren, hätten aufkommen müssen. Covec verfolgte damit das Ziel, einen ersten Schritt auf den europäischen Straßenbaumarkt zu machen. Schließlich scheiterte die Firma wegen der steigenden Baustoffpreise, der Auseinandersetzungen mit Subunternehmern und des Mangels an Kapital für Zwischenfinanzierungen. Die Regierung entzog ihr den Auftrag und kündigte Entschädigungsforderungen an. Bei dieser Gelegenheit wurde bekannt, dass Covec den Auftrag ohne Ausschreibung erhalten hatte.

In dem schon erwähnten Text für die »Gazeta Wyborcza« musste Ministerpräsident Tusk auch einräumen, dass er den Zustand der Polnischen Eisenbahn (Polskie Koleje Państwowe – PKP) für eine Niederlage seiner Regierung halte. Dem zuständigen Ministerium, so Tusk, sei es nicht gelungen, das »Chaos auf den Schienen« zu beenden. Auch in dem Bericht des NIK war unter anderem die Rede von großen Verzögerungen bei der Modernisierung von Bahnhöfen. Immerhin wurden in den letzten vier Jahren etwa 1 000 Kilometer des Schienennetzes modernisiert, begann der Bau eines neuen Bahnhofs in Kattowitz und wurde mit dem Umbau des Zentralbahnhofs in Warschau (Warszawa Centralna) begonnen – ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts der technischen Rückständigkeit, des Organisationschaos und des Fehlens einer modernen Beförderungsstrategie bei PKP.

Nichts Grundlegendes in der Sozialpolitik

Die Modernisierung der sozialen Systeme ist ein schwieriges Unterfangen – gerade unter den Bedingungen der Globalisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten und angesichts der Alterung der Gesellschaft. Oft regt sich auch Widerstand in der Bevölkerung. Ein zusätzliches Problem für die Regierung Tusk war die Veto-Politik von Staatspräsident Lech Kaczyński. Trotzdem müsste das Kabinett mitunter mehr Mut und Weitsicht statt finanzpolitischer Kurzsichtigkeit an den Tag legen.

Das zeigte sich vor allem bei der vom Kabinett beschlossenen und vom Parlament sowie von Staatspräsident Bronisław Komorowski gebilligten Änderung des Systems der Rentenversicherung. Danach gehen die Beiträge für die obligatorische »zweite Säule« nur noch zu einem kleineren Teil an private, von den Versicherten wählbare Fonds (Otwarte Fundusze Emerytalne – OFE) und zum größeren Teil an die staatliche Versicherungsanstalt (Zakład Ubezpieczeń Społecznych – ZUS). Die OFE sind Teil des 1998 eingeführten gemischt obligatorisch-freiwilligen Dreisäulenmodells. Die zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gezahlten obligatorischen Beiträge in Höhe von 19,5 Prozent des Bruttolohns gingen bis zur Änderung zu 12,2 Prozent an ZUS und zu 7,3 Prozent an die jeweiligen, von den Versicherten gewählten Fonds. Deren Anteil beträgt nun nur noch 2,3 Prozent.

Während die Regierung diesen Schritt mit einer Entlastung des Staatshaushalts begründete, meinten die Kritiker, besonders der frühere Finanzminister und Notenbankchef Leszek Balcerowicz, diese Entscheidung gefährde ein wesentliches Fundament der Rentenversicherung. Die OFE, so Balcerowicz, seien keine wesentliche Ursache des Budgetdefizits, damit umgehe man nur die dringend notwendige Reform der stark zentralisierten und bürokratisch-uneffektiven staatlichen Versicherungsanstalt ZUS.

Immerhin gelang es der Regierung, der grassierenden Frühverrentung einen ersten Riegel vorzuschieben, indem die vorzeitige Pensionierung von Eisenbahnern, LKW-Fahrern, Journalisten und Künstlern eingeschränkt wurde. Eine vergleichbare Entscheidung bezüglich der »Uniformträger«, also vor allem der Soldaten und Polizisten, verschob das Kabinett auf die nächste Legislaturperiode, ebenso wie die Angleichung des Renteneintrittsalters von Frauen und Männern.

Gesundheitsreform weiter in der Planung

Mühsam gestaltet sich auch die Modernisierung des Gesundheitswesens. Während die Zahl der privaten, erfolgreich arbeitenden Arztpraxen und Krankenhäuser steigt, sind viele staatliche Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen, auf die nach wie vor die Mehrheit der Bevölkerung angewiesen ist, in einem beklagenswerten Zustand, wobei Ausnahmen die Regel bestimmen, wie beispielsweise das modern ausgestattete und gut funktionierende Militärkrankenhaus im Warschauer Stadtteil Praga beweist. In vielen Krankenhäusern übersteigen die Kosten bei weitem die zugeführten Mittel, was zu einer grassierenden Verschuldung führt. Die bauliche Qualität vieler Spitäler sowie deren Ausstattung mit Apparaturen sind schlecht. Die Überbelastung der Beschäftigten wegen Personalmangels und ihre oft schlechte Bezahlung fördern die Korruption und veranlassen viele Schwestern und Ärzte, in den Westen zu emigrieren. In seinem Text für die »Gazeta Wyborcza« hat Tusk dieses Manko auch eingeräumt.

Nach langem Tauziehen, diversen Attacken des damaligen Staatspräsidenten Lech Kaczyński gegen eine drohende »totale Privatisierung« des Gesundheitswesens und kontroversen öffentlichen Debatten stellte die zuständige Ministerin Ewa Kopacz im März 2011 im Sejm die Eckpunkte der geplanten Gesundheitsreform vor. Dabei geht es insbesondere um die Umwandlung der staatlichen Krankenhäuser in selbständig wirtschaftende Gesellschaften, die Eigentum der regionalen und lokalen Selbstverwaltungsorgane sind.

Kohäsion der Gesellschaft gefährdet

Wenig Interesse zeigte die Tusk-Regierung an einer Ausgestaltung des Arbeitsmarktes und einer Verbesserung der Instrumente für Arbeitsmarktpolitik. Der polnische Arbeitsmarkt ist sehr liberal strukturiert. Teilzeitbeschäftigung, Leiharbeit, Werkverträge und selbständige Erwerbstätigkeit sind weit verbreitet. Die Zahl der befristeten Arbeitsverträge liegt weit über dem EU-Durchschnitt. Auch die Kündigungsregeln sind sehr liberal, außer bei Massenentlassungen, Entlassungen aus einem unbefristeten Vertrag und beim Beschäftigungsschutz für Personen, die kurz vor dem Eintritt in die Rente stehen. Die große Mehrheit der polnischen Arbeitnehmer ist in Unternehmen beschäftigt, die nicht an Tarifverträge gebunden sind. Während staatliche Unternehmen in der Regel durch einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad gekennzeichnet sind, spielen die Gewerkschaften im privaten Sektor kaum eine Rolle. So ist auch die Gestaltung der Löhne kaum an Bedingungen oder Vorschriften gebunden.

Alle diese Charakteristika sorgen für Flexibilität des Arbeitsmarktes, helfen in der Krise und sind attraktiv für ausländische Investoren, führen aber auch zur Vereinzelung und Entsolidarisierung der Beschäftigten, wodurch die Kohäsion der Gesellschaft gefährdet wird – ein Phänomen, das die von der Bürgerplattform dominierte Regierung nicht weiter beschäftigte. Ungelöst blieb auch das Problem, dass die Arbeitsförderung und -vermittlung in Polen bis heute unter sehr ungünstigen Bedingungen stattfindet, weil die bereitgestellten Mittel überhaupt nicht den Erfordernissen entsprechen. Während westliche EU-Staaten 1,5 und mehr Prozent des BIP für Arbeitsmarktpolitik ausgeben, sind es in Polen nur 0,2 Prozent. Zum Glück gibt es inzwischen viele private Agenturen für Arbeitsvermittlung, Leiharbeit und Personalberatung im ganzen Land, die aber nicht immer seriöse Arbeit leisten.

Zu den Erfolgen der Koalition aus Bürgerplattform und Polnischer Bauernpartei gehören sicherlich die landesweite Förderung von Kinderkrippen und Vorschuleinrichtungen, deren Zahl in den letzten vier Jahren erheblich zugenommen hat, sowie die Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs und die Ermöglichung eines Vaterschaftsurlaubs. Auch viele neue Fußballplätze wurden gebaut. Die in der Regel schlecht bezahlten Lehrerinnen und Lehrer erhielten eine Gehaltserhöhung von durchschnittlich 30 Prozent.

Alle Untersuchungen zeigen, dass der Lebensstandard in Polen, generell gesehen, kontinuierlich ansteigt. Der Gesundheitszustand der Bürger wird besser, ebenso erhöht sich das Ausbildungsniveau. Die Versorgung der privaten Haushalte mit Gebrauchsgegenständen verbessert sich. Doch die Unterschiede innerhalb der Gesellschaft sind gewaltig. Nach Angaben des Statistischen Hauptamtes (Główny Urząd Statystyczny – GUS) vom März 2011 leben 2,2 Millionen Polen mit einem Familieneinkommen von weniger als 1 200 Zloty (zirka 290 Euro) unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Das Institut für Arbeit und Soziales (Instytut Pracy i Spraw Socjalnych – IPSS) bemängelt, dass die öffentlichen Ausgaben für sozialschwache Familien Jahr für Jahr niedriger würden. In den Jahren 2005 bis 2009, so das Institut, seien diese Ausgaben um 20 Prozent gesunken

Das Auf und Ab der Verfassungsdebatte

Gerade auch auf dem Gebiet der Rechts- und Innenpolitik erweist sich die demokratische Reife einer Regierung. Hier wird schnell deutlich, ob eine Regierung inhaltlich begründete Führung ausübt oder nur herrscht und dekretiert, ob sie zentralistisch agiert oder auch Subsidiarität zulässt, ob sie Bürger zu Zivilcourage ermuntert oder zu Passivität verurteilt. Auf jeden Fall hat die Koalition aus PO und PSL, anders als die nationalkonservativen Regierungen der Jahre 2005 bis 2007, darauf geachtet, dass die Dreiteilung der Staatsgewalt respektiert wird. So verzichtete sie darauf, politischen Druck auf die Justizbehörden auszuüben.

Früh haben Tusk und seine Minister auch auf Probleme des geltenden Rechtssystems hingewiesen. Das gilt besonders für die 1997 in Kraft getretene Verfassung. Führende Juristen wie die ehemaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts Andrzej Zoll, Marek Safjan und Jerzy Stępień halten die Verfassung für ein solides, den Rechtsstaat garantierendes Regelwerk, plädieren aber auch für Veränderungen, weil das Grundgesetz gerade auf den Gebieten Außenpolitik und Gesetzgebung Raum dafür bietet, dass Staatspräsident und Regierung parallel eine unterschiedliche, nicht abgestimmte Politik besonders dann betreiben, wenn beide aus unterschiedlichen politischen Lagern kommen – so geschehen in den Jahren 2007 bis 2010, als dem nationalkonservativen Staatspräsidenten Lech Kaczyński die liberal-konservative Regierung von Ministerpräsident Tusk gegenüber stand.

Seit der Übernahme des Präsidentenamtes durch Bronisław Komorowski hat die Intensität der Verfassungsdebatte wieder nachgelassen, was insbesondere damit zusammenhängen dürfte, dass das Staatsoberhaupt sein Vetorecht sparsamer einsetzt und überhaupt um ein kooperatives Verhältnis zur Regierung bemüht ist. Immerhin gelang die parlamentarische Verabschiedung eines Wahlgesetzes, das, insbesondere von Tusk und seiner Bürgerplattform forciert, zumindest für den Senat einen Wechsel hin zum Mehrheitswahlrecht vorsieht. Staatspräsident Komorowski wiederum plädierte für eine Novellierung der Verfassung, mit der vor allem Polens Handeln in der Europäischen Union und die entsprechenden Rechte und Pflichten von Staatspräsident und Regierung präzisiert werden sollten.

Zur Erfolgsbilanz der Regierung Tusk gehört die Aufhebung der aus kommunistischer Zeit stammenden Personalunion von Justizminister und Generalstaatsanwalt. Schon im Juni 2008 hatte das Kabinett einen entsprechenden Gesetzesentwurf angenommen, dessen Verabschiedung im Parlament dann aber durch ein Veto des damaligen Staatspräsidenten Lech Kaczyński verzögert wurde. Später konnte das Veto im Sejm überstimmt werden. Scharfe Kritik seitens liberaler Juristen rief das strafrechtlich äußerst konservative Gesetz zur Strafverschärfung bei pädophilen Straftaten und zur pharmakologischen Behandlung pädophiler Straftäter bis hin zur chemischen Kastration hervor, das die Regierung ins Parlament eingebracht hatte und das im November 2009 in Kraft trat.

Kein echter Schutz vor Diskriminierung

Auch das von der Regierung lancierte und Ende Oktober 2010 vom Parlament verabschiedete Gesetz zur gesellschaftlichen Gleichstellung verdeutlichte einmal mehr die gesellschaftspolitisch sehr konservative Haltung der Bürgerplattform und der von ihr dominierten Regierung. Das Gesetz soll zwar Gleichbehandlung unabhängig von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Nationalität, Religion, Weltanschauung, sexueller Orientierung und körperlicher Behinderung sichern, bietet aber wegen seiner schwammigen Formulierungen keinen ausreichenden Schutz vor Diskriminierung in der Schule, den Behörden, beim Zugang zu medizinischen Dienstleistungen und bei der Vergabe von Arbeitsplätzen. So bezieht sich das Gesetz nur auf staatliche und öffentliche Instanzen, nicht aber auf private Unternehmer. Auch die Frage der Entschädigungen bei ungleicher Behandlung wird nicht ausreichend geregelt. Das Niveau des Gesetzes liegt unter dem Standard in den meisten EU-Staaten; Kritik kam u. a. von UN-Menschenrechtsbeauftragten.

Geradezu peinlich für die Regierung war die Weitergabe von Bankverbindungen belarussischer Oppositioneller in Polen durch die polnische Generalstaatsanwaltschaft an die Behörden in Minsk, wodurch die politische Verfolgung der Oppositionellen durch das Regime von Alexander Lukaschenko gefördert wurde – eine Aktion, die auf bedenkliche Ignoranz der beteiligten polnischen Juristen gegenüber den Menschenrechten schließen lässt.

Zu den nicht eingelösten Wahlversprechen der Regierung Tusk gehören schließlich die bislang nicht gewährten Finanzhilfen bei Gerichtsverfahren für Bürger niedrigen Einkommens sowie eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen den von der Zentralregierung eingesetzten Woiwoden und den Leitern der Marschallämter auf lokaler Ebene.

Aufgeblähte staatliche Bürokratie

Als seine größte persönliche Niederlage bezeichnete Ministerpräsident Donald Tusk das Scheitern seiner Regierung bei der Schaffung eines »schlanken Staates«. Die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst Polens, so Tusk, sei von 382 000 Ende 2007 auf 457 000 Ende 2010 gestiegen, und dies, wie er betonte, nicht nur durch die Neueinstellung von Mitarbeitern in den lokalen Verwaltungen, worauf die Regierung keinen Einfluss habe, und wegen der Änderung der Zählweise durch das Statistische Hauptamt (GUS), sondern eben auch durch die Aufblähung der zentralen Regierungsverwaltung und anderer Behörden. Ein entsprechender Gesetzesentwurf der Regierung zur Reduzierung der Beschäftigung im gesamten öffentlichen Dienst wurde auf Antrag von Staatspräsident Komorowski vom Verfassungsgericht wegen einer ganzen Anzahl von Verstößen gegen die Verfassung zurückgewiesen.

Die Bilanz der Regierung auf dem Gebiet der Militärpolitik wiederum ist gemischt. Einerseits machte Polen auf Initiative Tusks und seines Kabinetts den wichtigen Schritt zur Schaffung einer Berufsarmee und der damit verbundenen Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht, andererseits zeigte sich im Zusammenhang mit dem Untersuchungsbericht über die Hintergründe der Flugzeugkatastrophe von Smolensk (April 2010), dass das Verteidigungsministerium jahrelang gravierende Mängel des polnischen Militärs in den Bereichen Führung, Ausbildung, Disziplin und Kontrolle übersehen bzw. ignoriert hatte.

Bürgerplattform als Netzwerk der Regierungsmacht

Geht es um den Politik- und Regierungsstil, dann haben Tusk und seine Minister ihr Wahlversprechen von 2007 mehr oder weniger eingehalten. Anders als sein Vorgänger Jarosław Kaczyński war Tusk nicht so extrem darauf erpicht, Konflikte zu schüren, die politischen Gegner unablässig zu provozieren, einzelne gesellschaftliche Gruppen zu verteufeln, die Justiz zu politisieren, den Medien Zensuren zu erteilen und den Bürgern ein traditionelles Geschichtsbild zu verordnen. Sieht man von einzelnen Äußerungen wie etwa über die Pädophilen ab, dann ist Tusk nicht gerade ein Mann der zugespitzten doktrinären und ideologischen Aussagen, sondern eher ein Vertreter des gemäßigten Pragmatismus. Allerdings schreckten auch Spitzenpolitiker der Bürgerplattform gerade in der Auseinandersetzung über die Flugzeugkatastrophe von Smolensk nicht davor zurück, ähnliche Tiraden loszulassen wie ihre politischen Gegner von Recht und Gerechtigkeit – nur eben mit umgekehrtem Vorzeichen. Tusk jedoch vermied dies, so gut es ging.

Aber sein Politik- und Regierungsstil hatte auch negative Konsequenzen für seine Partei. Je mehr die reformerische Kraft der Regierung nachließ, desto stärker verlor die Bürgerplattform an inhaltlichem Profil, da sie sich ja als parlamentarische Basis der Regierung begreift. Polnische Ökonomen wie Stanisław Gomułka und Krzysztof Rybiński sowie ausländische Zeitungen wie der »Economist« warfen Tusk mangelnde Entschlossenheit zu Reformen vor. Der Soziologe Paweł Śpiewak, früher Abgeordneter der PO, sprach von »Wahlopportunismus« und Aleksander Smolar von der renommierten Batory-Stiftung (Fundacja im. Stefana Batorego) meinte sogar, dass Tusk mit seinem »gewöhnlichen Populismus« Berlusconi näher sei als Sarkozy.

Ohne Zweifel entwickelte sich die Bürgerplattform mehr und mehr von einem politisch vorwärtstreibenden Faktor zu einem Netzwerk der Regierungsmacht. Für dieses Phänomen prägten Mariusz Janicki und Wiesław Władyka in der »Polityka« den Begriff »Tuskismus« (Tuskizm). Sie meinten damit ein System, in dem die Partei und ihre Vertreter zunehmend in alle Verästelungen des Regierungssystems und der öffentlichen Institutionen vordringen. Dabei sind Loyalität und Vorsicht wichtiger als inhaltliches Profil, müssen begründete Vorschläge von Fachleuten eher blockiert oder ignoriert als produktiv aufgenommen werden. Daraus resultieren mangelnde Kompetenz sowie Untätigkeit oder Fehler. Die Regierung verliert ihre führende Kraft. Niemand weiß mehr so genau, wofür die Bürgerplattform und ihre Regierung stehen. Das wiederum fördert das Desinteresse der Bürger an Staat und Parteien.

Als Netzwerk der Macht zieht die Bürgerplattform all jene an, die die Nähe zur Macht suchen oder zum Sprung in die Macht ansetzen – völlig unabhängig davon, ob sie bislang Sozialdemokraten waren wie Dariusz Rosati und Bartosz Arłukowicz oder Nationalkonservative wie Joanna Kluzik-Rostkowska. Systemimmanent ist auch das Phänomen, dass es in der Regierung und in der Partei ohne Tusk keine Energie, keine Bewegung, keine Entscheidung und keine Ordnung gibt. Das »Wird Donald dabei sein?« (»Donald będzie?«) wurde zur entscheidenden Frage für alle wichtigen Treffen und Beratungen. Bei Tusk selbst förderte dies zunehmend Nervosität, Gereiztheit und Selbstherrlichkeit. Die Fixierung auf ihn bedeutet nicht, dass er nicht auch Gegner innerhalb der Partei hätte – wie insbesondere Sejmmarschall Gregorz Schetyna.

Tusk ist sicher jemand, der als Parteivorsitzender und Regierungschef die Stimmungen in der Gesellschaft möglichst genau beobachtet und auch versucht, mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Allerdings tut er dies hauptsächlich über die Medien, der direkte Kontakt zu den Bürgern ist nicht gerade sein Metier. Entsprechend gering ist sein Interesse an der Zivilgesellschaft, also jenem Netzwerk von Gruppen, die politische, christliche, soziale, erzieherische, gruppenspezifische und nachbarschaftliche Ziele verfolgen, nicht aber in Parteien organisiert sind. Eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft, die in Polen bislang weniger ausgeprägt ist als in westlichen EU-Staaten, sieht Tusk nicht als wichtige Aufgabe an. Das gilt allerdings auch für die anderen politischen Parteien. Die Bürgerplattform ist eher eine Partei des karrierebedingten Individualimus und daher mitverantwortlich für die zunehmende soziale Kälte in bestimmten Teilen der polnischen Gesellschaft.

Vehikel EU-Ratspräsidentschaft

Ohne Zweifel spielt die polnische EU-Ratspräsidentschaft im Wahlkampf der Regierung und der Bürgerplattform, weniger der Polnischen Bauernpartei, eine wichtige Rolle. Ein bombastisches Programm von etwa 50 europäischen Treffen auf Ministerebene und 1 500 auf Expertenebene wird propagandistisch genutzt, um Donald Tusk und seine Mitstreiter als verantwortungsbewusste Politiker im Dienste eines auf europäischer Ebene einflussreichen Polens zu apostrophieren. Für die entsprechenden Bemühungen von etwa 1 200 Regierungsmitarbeitern und Experten stehen 430 Millionen Zloty (zirka 104 Millionen Euro) zur Verfügung. Einen Monat vor Beginn der EU-Ratspräsidentschaft wurde in Brüssel eine neue polnische EU-Vertretung eröffnet, deren Gebäude samt innerer Ausstattung 40 Millionen Euro (!) gekostet hat. Das offizielle Programm wird durch etwa 1 300 Veranstaltungen im In- und Ausland auf kultureller, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene ergänzt. »Panels und Bankette, nicht viel mehr«, meinte ein sachkundiger Beobachter in Warschau. Doch wie bewerten die Wähler die Bilanz von Tusk und seiner Regierung?

Eher negatives Echo bei den Bürgern

Glaubt man den Ergebnissen der neuesten Diagnoza Społeczna (eine Untersuchung auf der Basis von Umfragen, die alle zwei Jahre unter Federführung des renommierten Warschauer Soziologen Janusz Czapiński durchgeführt wird), dann waren die Polen, allgemein betrachtet, noch nie so zufrieden wie heute. Die Untersuchung ergab aber auch, dass die Bürger vor allem stolz auf ihre eigenen Leistungen als Individuen und im Rahmen ihrer Familien sind: am Arbeitsplatz, bei der Erziehung und Ausbildung der Kinder, bei der Verbesserung des eigenen Lebensstandards, bei der Gesundheitsvorsorge. Vieles, so die Meinung von 65 Prozent der Befragten, habe man ohne die Unterstützung staatlicher Institutionen erreicht.

Letzteres ist allerdings keine neue Erkenntnis. Es hat Tradition, dass der Staat und die Regierenden bei den Polen nicht gut angesehen sind. Die große Mehrheit der Bürger hält die parlamentarische Republik und den Rechtsaat für das bestmögliche System, traut aber den Regierenden, egal welcher Couleur, nicht viel zu. So hatte es auch nur bedingt etwas mit den realen Ergebnissen der Arbeit des Kabinetts von Donald Tusk zu tun, wenn im Rahmen einer Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts CBOS, die im Juni 2011 veröffentlicht wurde, nur 34 Prozent mit der Arbeit der Regierung zufrieden waren, während 53 Prozent ihre Unzufriedenheit äußerten und 13 Prozent keine Meinung hatten. Die Kritik der Befragten bezog sich vor allem auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung. Bei einer Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts OBOP vom August 2011 bekundeten nur noch 29 Prozent der Befragten Zufriedenheit, während 61 Prozent scharfe Kritik äußerten. Allerdings waren die Umfrageergebnisse früherer Regierungen gegen Ende ihrer Amtszeit zum Teil noch schlechter.

Besonders hart traf es Regierungschef Donald Tusk. Nach einer Untersuchung von CBOS, die im Juli 2011 veröffentlicht wurde, waren es im Juni dieses Jahres nur noch 30 Prozent der Befragten, die meinten, Tusk kümmere sich um die Probleme der »gewöhnlichen Bürger«, während es im Mai 2008 noch 51 Prozent waren. 52 Prozent betonten, er habe vorrangig seine eigene politische Karriere, nicht aber den Fortschritt des Landes im Blick, während damals nur 33 Prozent diese Meinung geäußert hatten. Und nur 28 Prozent erklärten, er führe die Regierungsgeschäfte gut (im Mai 2008 51 Prozent). Immerhin hielt die große Mehrheit der Befragten Tusk weiterhin für einen sympathischen, intelligenten, dynamischen und gut auftretenden Politiker.

Bürgerplattform vor einem erneuten Wahlsieg?

Auf einem anderen Blatt steht die Entwicklung der Parteipräferenzen der Bürger. In allen Umfragen seit dem Amtsantritt von Tusk Ende 2007 lag seine Bürgerplattform weit vor der Partei Recht und Gerechtigkeit von Jarosław Kaczyński. Mal betrug der Abstand mehr als 20 Prozent, mal weniger. Die Sozialdemokraten der SLD sind nach einem zwischenzeitlichen Hoch von 16 Prozent inzwischen wieder bei Werten um 10 Prozent angelangt. Die mitregierende Polnische Bauernpartei schwankt um 5 Prozent. Bei der letzten CBOS-Umfrage, veröffentlicht im Juli 2011, kamen die PO auf 38 Prozent, PiS auf 17 Prozent, SLD auf 9 Prozent und PSL auf 4 Prozent. Die Zahl der unentschlossenen Wähler lag immerhin bei 27 Prozent. Wahlforscher wiesen außerdem darauf hin, dass die Stammwählerschaft der PO lediglich bei etwa 25 Prozent liege, während die Umfrageergebnisse der anderen Parteien der Größe ihrer jeweiligen Stammwählerschaft näher komme. Die PO, so hieß es, profitiere nicht nur von ihrem eigenen Auftreten, sondern auch vom »exotischen Habitus« von PiS. Kein Wunder also, wenn PO-Vize Grzegorz Schetyna meinte, man dürfe sich nicht von den Umfragen blenden lassen. In Wirklichkeit, so der Sejmmarschall, liege seine Partei nur um einige wenige Prozente vor PiS.

Einmal mehr bestätigte sich auch die alte Erkenntnis, dass Neugründungen, wenn überhaupt, nur schwer Fuß fassen. So spielte die PiS-Abspaltung Polen ist das Wichtigste (Polska Jest Najważniejsza – PJN) in den Umfragen der letzten Monate kaum eine Rolle. Der schon erwähnte Warschauer Soziologe Janusz Czapiński vertritt die Auffassung, dass die hauptsächliche Rivalität vor der Parlamentswahl im Oktober zwischen PO und SLD sowie zwischen PiS und PSL ausgetragen werde und beweist dies anhand bestimmter Haltungen der jeweiligen Wählerschaft zu Themen wie Kirche, Nation, Landwirtschaft und Sexualverhalten.

So zeichnet sich ab, dass die Bürgerplattform vermutlich auch die nächste Parlamentswahl gewinnen wird. Sie wäre die erste Partei seit 1989, der das gelingt würde. Andererseits ist aber nicht absehbar, ob sie dann auch eine Regierung bilden kann, und wenn ja, mit welcher Partei. Je nach ihrem Wahlergebnis könnten SLD und PSL das Zünglein an der Waage spielen. Auch wenn es zwischendurch einige Annäherungsversuche gab, scheint eine Koalition aus PiS und SLD eher ausgeschlossen. Aber auch Tusk und seine Bürgerplattform trauen der SLD nicht über den Weg. In der PO wiederum gibt es zwei Strömungen, was die Prioritäten im Wahlkampf angeht. Während eine Minderheit, die sich vor allem an Tusks Berater Michał Boni orientiert, die Partei stärker als Kraft der Reformen und der Modernisierung profilieren will, hält es die Mehrheit, deren profilierteste Köpfe Finanzminister Jacek Rostowski sowie der frühere Ministerpräsident und Bankmanager Jan Krzysztof Bielecki sind, eher mit der Devise, dass auch weiterhin Pragmatismus walten müsse.

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Analyse

Polens Linke und alternative Milieus: Ansätze für ein Revirement der polnischen Sozialdemokraten?

Von Stefan Garsztecki
Polens Linke hatte es in den vergangenen Jahren schwer. Nach der Ablösung der von der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD), der Nachfolgepartei der polnischen Kommunisten, geführten Regierung von Marek Belka waren Polens Linke jahrelang fast in der Bedeutungslosigkeit versunken. Der an Korruptionsaffären und internen Streitigkeiten fast zerbrochenen Partei, von der sich ein Erneuerungsflügel um Marek Borowski im Jahr 2004 abspaltete und mit Mitgliedern der Arbeitsunion (Unia Pracy – UP) die Polnische Sozialdemokratie (Socjaldemokracja Polska – SdPl) gründete, ohne bei Wahlen nennenswerte Erfolge erzielen zu können, gelang es erst im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen im Juni 2010 mit ihrem Kandidaten und Parteivorsitzenden Grzegorz Napieralski, der überraschend 13,7 % der Stimmen erzielte, wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken. Allerdings schien dieser Wahlerfolg eher durch die Wahlentscheidung solcher Menschen verursacht worden zu sein, die sich vom verbreiteten Pathos und den religiösen Gefühlen in Teilen der Bevölkerung nach der Flugzeugkatastrophe von Smolensk nicht mehr repräsentiert sahen. Das klare Bekenntnis von Napieralski zum säkularen Staat schien hier genau zu passen. (…)
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Analyse

Polen nach den Parlamentswahlen 2011

Von Janusz A. Majcherek
Der Sieg der Bürgerplattform (PO) bei den Parlamentswahlen ist beispiellos, kommt aber nicht überraschend. Quelle des Erfolgs und der Dominanz der PO in der polnischen Politik ist die Herausbildung einer neuen, jungen Mittelschicht, die zur festen gesellschaftlichen Basis dieser liberal-konservativen Partei geworden ist. Das Ergebnis des Wahlduells zwischen den beiden wichtigsten Parteien PO und PiS ist fast eine Neuauflage von vor vier Jahren. Es bestätigt sowohl die Stabilität des Parteiensystems als auch die Kluft der geistig-weltanschaulichen Präferenzen innerhalb der polnischen Gesellschaft. Die größte Sensation dieser Wahlen, nämlich das plötzliche Auftauchen und hervorragende Abschneiden der Palikot-Bewegung ist ein Spiegelbild der wachsenden Forderungen nach Säkularisierung und Modernisierung. (…)
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