Der Konflikt der polnischen Regierung um den Landesaufbauplan – der europäische und der innenpolitische Kontext

Von Janusz A. Majcherek (Krakau)

Zusammenfassung
Polen ist einer der letzten Staaten der Europäischen Union, der noch nicht die finanziellen Mittel des Aufbauprogramms nutzt, das beschlossen wurde, um die von der Corona-Pandemie gebeutelte Wirtschaft der EU-Mitgliedsländer wiederzubeleben. Immer mehr deutet darauf hin, dass es diese auch nicht erhalten wird, solange die jetzige rechtspopulistische Regierung am Ruder ist. Sie könnte allerdings die Regierungsmacht bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr verlieren. Die Unfähigkeit, die EU-Finanzmittel zu bekommen, scheint einer der beschleunigenden Faktoren der zunehmend wahrscheinlichen Wahlniederlage der aktuellen Regierungsmannschaft in Polen zu sein.

Das europäische befristete Instrument der Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) wurde von der Europäischen Union mit einer Summe von mehr als 720 Milliarden Euro verabschiedet. Es hat zum Ziel, die von der COVID-19-Pandemie in Mitleidenschaft gezogene Wirtschaft der EU-Mitgliedsländer wiederzubeleben und zu reformieren, und ist der wichtigste Teil des größeren Projektes NextGenerationEU, das mit gut 800 Milliarden Euro dotiert ist. Im Rahmen dieses größeren Programms wurden Polen in Form von Zuwendungen und Niedrigzinsanleihen insgesamt 58 Milliarden Euro zuerkannt. Addiert mit der Summe aus dem mehrjährigen Finanzrahmen 2021–2027, dem »Haushalt« der EU, ergab sich für Polen die imponierende Gesamtsumme von 770 Milliarden Zloty. Diese erhalten zu haben wurde von der Regierung und den regierungsnahen Propagandamedien als großer Erfolg gefeiert, der neue, herausragende Entwicklungsperspektiven für das Land eröffnet, was auf zahllosen Plakaten und Werbetafeln in ganz Polen verkündet wurde. Die polnische Regierung und anschließend das von der Regierungsmehrheit kontrollierte Parlament verabschiedeten den Landesaufbauplan (Krajowy Plan OdbudowyKPO) und schrieben die ausgehandelten Summen konkreten Zielen und Vorhaben zu, darunter 54 Investitionen und 48 Reformvorhaben (beispielsweise des Gesundheitssystems und des Arbeitsmarktes).

Aufgrund der in Ungarn und Polen zunehmenden Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit forderten zahlreiche Abgeordnete des Europäischen Parlamentes sowie einige Mitglieder der Europäischen Kommission, insbesondere ihre Vizepräsidentin und Kommissarin für Werte und Transparenz, Vĕra Jourová, dass die Entscheidung, den Ländern konkrete finanzielle Mittel zu gewähren, von der Einhaltung der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit in den betreffenden Ländern abhängig gemacht wird, nach dem Motto »Geld gegen Rechtsstaatlichkeit«. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki akzeptierte diese Koppelung auf dem EU-Gipfel im Dezember 2020, denn laut offizieller Interpretation der polnischen Regierung gibt es in Polen keine Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit. Diese Art Einwände und Bedingungen würden Polen also nicht betreffen. In der Tat aber mehrten sich die Gründe für Vorbehalte, und das Geld aus dem Aufbaufonds war und bleibt für Polen unzugänglich.

Der Streit mit der Europäischen Kommission und seine Ursachen

Ein wichtiger Grund sind die weitreichenden und radikalen Änderungen im Gerichtswesen, welche die rechtspopulistische Regierungsmannschaft unter dem Namen Recht und Gerechtigkeit (Prawo i SprawiedliwośćPiS) bzw. Vereinigte Rechte (Zjednoczona Prawica) seit ihrer Machtübernahme im Jahr 2015 durchsetzt. Sie strebt an, das Gerichtswesen der politischen Macht unterzuordnen, wobei praktisch dessen Unabhängigkeit sowie auch die Gewaltenteilung aufgehoben werden.

Im Rahmen dieser Aktivitäten wurden fast vollständig untergeordnet (indem loyale und gefügige Personen berufen wurden, manches Mal unter Verletzung der geltenden Prinzipien): das Verfassungstribunal und teilweise das Oberste Gericht, der Landesjustizrat (der über die Nominierung von Richtern entscheidet) sowie die Mehrheit der allgemeinen Gerichte (da »vertrauenswürdige« Richter als Gerichtspräsidenten eingesetzt wurden). Hinzu kommen Repressalien und Schikanen gegenüber Richtern, die sich gegen dieses Vorgehen einsetzen und gegen die Verletzung ihrer beruflichen Unabhängigkeit protestieren. Das Vorgehen wurde auch mehrfach von den europäischen Gerichten in Frage gestellt und angefochten, deren Urteile die Regierung der Republik Polen allerdings nicht respektiert – obgleich das täglich steigende Geldstrafen zur Folge hat (inzwischen liegen sie mit einer Million Euro pro Tag bei Hunderten Millionen Euro Gesamtsumme). Das gefügig gemachte Verfassungstribunal verkündete auf Antrag der Regierung den Vorrang der polnischen Verfassung vor dem EU-Recht, was dem Regierungslager erlaubt, Letzteres zu ignorieren. Da die von den europäischen Gerichten angefochtenen und untersagten Aktivitäten der polnischen Machthaber jedoch nicht aufhören, verweigert die Europäische Kommission konsequent die Auszahlung der zugesprochenen Finanzmittel aus dem Aufbauplan.

Die Kalkulation der aus rechten Populisten bestehenden Regierungsmannschaft ist, dass der Streit um die Rechtsstaatlichkeit die Europäische Kommission schließlich ermüdet und sie die zugesagten Mittel freigibt. Diese Hoffnung wuchs nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine (Februar 2022) und der daraufhin umfassend erteilten Hilfe der polnischen Regierung und Gesellschaft für die Ukraine und die Ukrainer, wozu auch die Aufnahme von mehreren Millionen Flüchtlingen und deren Versorgung gehört. Nach der Vorstellung der Regierungsmannschaft sollte das das Bild Polens verbessern und die europäischen Politiker sowie die europäische öffentliche Meinung und letztlich auch die Europäische Kommission wohlgesonnen stimmen.

Die Europäische Kommission blieb allerdings standhaft und stellte konkrete Bedingungen für die Freigabe der Mittel für den Landesaufbauplan auf (sog. Meilensteine, nach deren Erreichen die Überweisung der Finanzmittel erfolgen soll). Es stellte sich heraus, dass Ministerpräsident Morawiecki sie ohne Konsultation seiner Regierung akzeptiert hatte. Das rief den Protest einiger Mitglieder hervor, insbesondere in der formal eigenständigen Partei Solidarisches Polen (Solidarna Polska) von Justizminister Zbigniew Ziobro. Sie ist die am stärksten antieuropäische Fraktion im Regierungslager, verantwortlich für die Zerstörung des Gerichtswesens, die unter der Führung und Aufsicht Ziobros durchgeführt wurde. Von den genannten »Meilensteinen« gibt es 115, und die Gesamtzahl der Bedingungen, die zu erfüllen sich Morawiecki verpflichtet hat, beläuft sich auf ca. 300. Sie umfassen unterschiedliche und detaillierte Fragen der Infrastruktur, insbesondere die wirtschaftliche Transformation hin zur »Nullemission«, aber auch die Rechtsstaatlichkeit, die der Hauptkonfliktpunkt zwischen der polnischen Regierung und der Europäischen Kommission ist.

Ein besonderes Streitthema wurde die vom Regierungslager willkürlich eingerichtete Disziplinarkammer beim Obersten Gericht. Der Verlautbarung zufolge sollte sie über die Einhaltung der beruflichen Disziplin und der hohen ethischen Standards der Richter wachen. In der Praxis zeigte sich, dass sie dazu diente, Richter für ihre Urteile oder Äußerungen zu schikanieren, die nicht mit den Erwartungen und der ideologischen Linie der politischen Machthaber übereinstimmten. Viele widerständige Richter wurden aus der Urteilssprechung entlassen, was de facto einem Ausschluss aus ihrem Beruf gleichkommt, andere wurden auf andere Art und Weise bestraft. Die Europäische Kommission forderte die Auflösung der Kammer, wozu sich Morawiecki als »Meilenstein« verpflichtet hatte. Auf Antrag von Staatspräsident Andrzej Duda, der im Allgemeinen als unkritischer Handlanger des politischen Willens der Regierungsmannschaft agiert, mit der er verbandelt ist, wurde der Entwurf zur formalen Auflösung der Disziplinarkammer präsentiert. Tatsächlich handelt es sich aber um ihre Umwandlung in ein fast identisches Organ, das Kammer für berufliche Verantwortung genannt wird. Die Europäische Kommission akzeptierte diese Irreführung nicht und lehnte die Freigabe von Finanzmitteln für den Landesaufbauplan ab. Jedoch wurde dieser schließlich durch den Rat der Europäischen Union akzeptiert, der die im Landesaufbauplan vorgestellten Projekte und dafür veranschlagten EU-Mittel bestätigte.

Diese Entscheidung wurde allerdings von den vier größten europäischen Richtervereinigungen vor den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gebracht. Die europäischen Richter erachten die Bestätigung des Landesaufbauplans als unberechtigt, da die polnische Regierung die Urteile des EuGH nicht respektiert; die Richtervereinigungen fordern daher ihre vollständige Umsetzung.

Die Verschärfung der antieuropäischen Propaganda und der Konflikt in der Regierung

Ziobro und die anderen radikal antieuropäischen Mitglieder der Regierungsmannschaft haben Morawiecki vorgeworfen, sein Wort nicht zu halten und Verpflichtungen gegenüber der Europäischen Kommission hinter ihrem Rücken und ohne ihre Zustimmung einzugehen. So erhielt der bereits seit längerer Zeit bestehende Konflikt im Regierungslager zwischen Ziobro und Morawiecki und weiter gefasst zwischen den rechtspopulistischen Radikalen, die bereit sind, Polen aus der Europäischen Union zu führen, und den Anhängern von Verhandlungen mit der Europäischen Union neue Nahrung.

Morawiecki galt als Vertreter der Letztgenannten; er wurde 2017 von PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński für das Amt des Ministerpräsidenten auserkoren, mit der Aufgabe, die Beziehungen zur Europäischen Union zu verbessern. Dazu sollten ihn seine Karriere im polnischen Tochterunternehmen der Santander Bank, seine fließenden Englischkenntnisse (was im aktuellen Regierungslager eher eine Seltenheit ist) und seine Praxiserfahrung auf der internationalen Bühne und mit ihren Gepflogenheiten prädestinieren. Es heißt, ein anonymer, hochgestellter deutscher Beamter der Europäischen Kommission soll vor einiger Zeit eine SMS-Nachricht von Morawiecki mit der Bitte um Hilfe bei Kontakten mit der Kommission erhalten haben. Sie soll unterschrieben worden sein mit »der letzte Europäer in der Regierung«. Die rechtsnationalistischen Radikalen halten Morawiecki für zu unterwürfig gegenüber den angeblich übergriffigen und unbegründeten Forderungen der Europäischen Kommission, auch wenn er sich selbst häufig und gern kritisch über die Europäische Union äußert. In jüngster Zeit hat er allerdings die Radikalen seines eigenen Regierungslagers öffentlich kritisiert und ihnen unterstellt, verantwortlich dafür zu sein, dass die Finanzmittel aus dem europäischen Fonds nicht zugänglich sind, während er bereit sei, sich weiter um sie zu bemühen.

Auf einem Treffen mit Wählern im Juli wurde PiS-Präses Kaczyński, der informelle Regierungschef, nach seiner Haltung zur Europäischen Union gefragt und den Forderungen, die ihre Institutionen stellen. Seine Kritik fasste er wütend so zusammen: »Schluss mit lustig!« Mit dieser umgangssprachlichen Redewendung brachte er die Absicht zum Ausdruck, der angeblichen Willkür Einhalt zu gebieten und keine Nachsicht und Verständnis mehr zu üben. Diese Antwort wurde als Unterstützung für die harte Linie Ziobros und der anderen antieuropäischen Regierungsmitglieder gedeutet. Bisher waren manche politischen Kommentatoren davon ausgegangen, dass Kaczyński eine unfreiwillige Geisel von Ziobros Equipe ist, ohne die das Regierungslager seine dünne Mehrheit im Parlament verlöre, weshalb er ihre Forderungen nicht offen zurückweisen könne. Jetzt dominiert die Einschätzung, dass Kaczyński selbst die harte antieuropäische Linie in der Politik und der Propaganda übernommen hat und vorgibt.

Die Akteure des rechtspopulistischen Regierungslagers wanken jedoch zwischen einerseits der Versuchung, die Dutzende Millionen Euro zu bekommen und auszugeben, die häufig auch schon in viele Projekte und Vorhaben eingeplant sind, und andererseits der Abneigung, die Anforderungen zu erfüllen, von denen die Vergabe der Summen abhängig gemacht wird, bei gleichzeitigem Bewusstsein des politischen Risikos, das mit dem Verlust der Mittel verbunden ist. Die Regierungspropaganda wechselt also häufig die Richtung und in den Äußerungen der Regierungsmitglieder manifestiert sich eine Dissonanz. Nach der Aushandlung der finanziellen Unterstützung der Europäischen Union wurden die Mittel, die sich daraus ergeben sollten, als Erlösung für Polen dargestellt und als großer Verhandlungserfolg der Regierung. Nach der Zurückhaltung der Auszahlung wurde entweder die Bedeutung der Mittel bagatellisiert oder den EU-Institutionen die Schuld für die Blockierung zugeschrieben, obwohl sie doch den Polen und Polinnen in Gänze zustünden. Manches Mal wird also die Bedeutung der europäischen Finanzmittel für die polnische Wirtschaft kleingeredet, manchmal wird der Schaden aufgebläht, der Polen zugemutet wird, weil die Europäische Kommission die Gelder zurückhält.

Die Schuld für den Konflikt zwischen dem polnischen Regierungslager und den EU-Institutionen wird jedoch unverändert Letzteren zugeschrieben. Der Propaganda zufolge hat die polnische Regierung alle Bedingungen erfüllt, was die Europäische Kommission nicht anerkennen will. Die antieuropäische Rhetorik wird also verfestigt.

Die Reaktion der Gesellschaft und der Opposition

Die Reaktion der Gesellschaft und der Opposition blieb bisher wirkungslos. Im Juni wurde mit 92 Prozent der in der Geschichte bisher höchste Zustimmungswert der Polen für die Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Union erreicht. 70 Prozent sprachen sich dafür aus, dass die Regierung die Änderungen in der Justiz zurücknehmen solle und auf diese Weise ermöglicht, die Gelder aus dem europäischen Aufbaufonds zu erhalten.

Diese radikale Differenz zwischen der offiziellen Propaganda und der öffentlichen Meinung kann einer der Hauptgründe für den zu erwartenden Machtverlust des gegenwärtigen rechtspopulistischen Regierungslagers bei den Parlamentswahlen 2023 sein – umso mehr, als die gesamte Opposition proeuropäisch ist und Hoffnung macht, dass im Falle der Regierungsübernahme ein Weg aus der Sackgasse in den Beziehungen zu den europäischen Institutionen gefunden wird, um die zugesprochenen Finanzmittel zu bekommen.

Allerdings kam es mit Blick auf den Landesaufbauplan innerhalb der Opposition zu Missverständnissen und Reibereien. Die Fraktion Die Linke (Lewica) hat das Projekt im Sejm unterstützt und argumentierte, dass das Geld den Polen zusteht und notwendig ist, unabhängig davon, wer darüber verfügen wird. Die stärkste Oppositionsfraktion, die liberale Bürgerkoalition (Koalicja ObywatelskaKO), hat dagegen dem Landesaufbauplan ihre Zustimmung verweigert und der Regierung vorgeworfen, mit den erhaltenen EU-Mitteln die Wähler im anlaufenden Wahlkampf für die Parlamentswahlen 2023 kaufen zu wollen.

Das waren und sind keine grundlosen Vorwürfe und Verdächtigungen. Experten und Journalisten haben gezeigt, dass die Regierung schon früher deutlich großzügiger diejenigen Gemeinden und Regionen mit Landesmitteln bedachte, deren Einwohner die PiS gewählt hatten, und denjenigen die Unterstützung versagte, in denen die Opposition gesiegt hatte. Sowohl in der Opposition als auch unter unabhängigen Kommentatoren ist die Überzeugung verbreitet, dass die PiS es ähnlich mit den Finanzmitteln der Europäischen Union handhaben könnte und sie entsprechend der Unterstützung für ihre Partei und der Wachstumschancen für die Unterstützungsquoten verteilen und dabei Empfehlungen und Vorgaben der EU-Institutionen ignorieren könnte, so wie es aktuell bei der EU-Rechtsprechung der Fall ist.

Einige oppositionelle polnische Europaabgeordnete unterstützen die Europäische Kommission in aller Deutlichkeit und fordern, dass von der polnischen Regierung rigoros die Erfüllung der Bedingungen für die Auszahlung des Aufbaufonds verlangt wird, was auch die großen Fraktionen im Europäischen Parlament vertreten, deren Mitglieder sie sind. Auch bei Straßendemonstrationen zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit tauchte der Slogan auf »EU, lass nicht locker!«

Die antideutsche Kampagne und die angelsächsische Option

Die Anti-EU-Kampagne des Regierungslagers und seiner Funktionäre wird von einer immer stärker werdenden antideutschen Kampagne begleitet. Ihre Grundlage ist die These von der deutschen Dominanz, ja sogar Hegemonie in der Europäischen Union, die sich angeblich infolge einer vertieften Integration noch verstärken soll, was sich in der gemeinsamen Finanzpolitik – Vergemeinschaftung der Schulden, wie es im Aufbauprogramm angelegt ist – bereits ankündigt.

So fordert die polnische Regierung die Auszahlung der Finanzmittel aus den beteiligten Fonds, deren Beschluss sie jedoch als zunehmende Integration der Europäischen Union interpretiert, was sie wiederum ablehnt wegen der angeblich daraus resultierenden wachsenden Bedeutung Deutschlands, das auf diese Weise Einfluss auf das polnische politische System gewinnen soll. Das polnische Regierungslager will also einerseits die Folgen der europäischen Integration nutzen, insbesondere die gemeinschaftlichen Fonds, andererseits wendet es sich gegen die Integration und bekämpft sie mit Propaganda. Kaczyński hat im August in einem Zeitungsinterview behauptet, dass die Europäische Union Polen »zerbrechen und zur vollkommenen Unterwürfigkeit gegenüber Deutschland zwingen« will. Dazu soll angeblich gehören, Polen zum Verzicht auf die eigene Währung zu zwingen und den Euro einzuführen. (So hat es in einer öffentlichen Äußerung auch der Präsident der Polnischen Nationalbank, Adam Glapiński, dargestellt, der zu den absolut loyalen Staatsfunktionären um Kaczyński herum gehört, mit dem er seit Beginn der 1990er Jahre politisch zusammenarbeitet.)

Indessen bleibt Deutschland der wichtigste Wirtschaftspartner Polens. Das heißt, sowohl die Schwächung der deutschen Wirtschaft als auch die Verschlechterung der deutsch-polnischen Beziehungen hätten negative Folgen für die polnische Wirtschaft, die ohnehin schon am Rande der Rezession steht.

Die an Besessenheit grenzende Anti-EU- und antideutsche Kampagne des Regierungslagers und seiner regierungsfreundlichen Medien wird von permanenten Angriffen auf Donald Tusk, ehemaliger Ministerpräsident Polens sowie Präsident des Europäischen Rates und aktuell Parteichef der Bürgerplattform (Platforma ObywatelskaPO), der größten Oppositionspartei in Polen. Dargestellt wird er als Diener europäischer und deutscher, aber nicht polnischer Interessen.

Ein weiterer Bestandteil der antideutschen Kampagne ist, an die Verluste infolge des Zweiten Weltkrieges zu erinnern und den Deutschen vorzuhalten, dass keine Entschädigung erfolgt sei (es wurde dazu sogar eine eigene Arbeitsgruppe unter der Leitung eines PiS-Abgeordneten eingesetzt). Hier tauchen Fragen nach Kriegsreparationen auf, die Polen angeblich immer noch von deutscher Seite zustehen. Dabei werden Bilder von aktuellen Zerstörungen durch die russischen Streitkräfte in der Ukraine eingesetzt, mit dem Ziel, daran zu erinnern, was Polen während des Zweiten Weltkrieges erlitten hat.

Das Regierungslager profitiert zweifellos davon, dass Deutschlands Ruf erschüttert wurde, da die Haltung des Bundeskanzlers und der Bundesregierung gegenüber dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine allgemein als zögerlich und nicht überzeugend wahrgenommenen wird. Im Vergleich zu der spontanen und enthusiastischen Unterstützung, die der ukrainischen Regierung, der Armee und den Flüchtlingen vonseiten der polnischen Bevölkerung und Regierung entgegengebracht wurde, wird das Verhalten mancher offizieller und meinungsbildender Kreise in Deutschland mit Verwunderung oder gar Empörung in Polen registriert. Hier kann die polnische Regierung auf Verständnis in der polnischen Gesellschaft bauen, die eindeutig und einmütig (bis auf marginale Ausnahmen) proukrainisch und antirussisch ist. Berechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft zufolge gehört Polen zu den Spitzenreitern der Staaten, die die Ukraine auf vielerlei Weise unterstützen (nur Estland und Lettland liegen bezogen auf den Anteil der Hilfsmaßnahmen am Bruttoinlandsprodukt vor Polen).

Ambivalente Reaktionen folgten in Polen – auch in unabhängigen politischen und meinungsbildenden Kreisen – auf die Äußerungen von Bundeskanzler Olaf Scholz (Nachdruck seines Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. Juli 2022) über die Vertiefung der europäischen Integration und die Verbesserung der EU-internen Entscheidungsprozesse durch Aufhebung des Prinzips der Einstimmigkeit. Die uneindeutigen Haltungen und die Zögerlichkeit verschiedener deutscher politischer und meinungsbildender Kreise gegenüber der russischen Aggression gegen die Ukraine nähren hier Befürchtungen: Wenn Polen und die baltischen Staaten keine Vetomöglichkeit gegen Entscheidungen mehr hätten, könnten die Entscheidungsgremien der EU eine Verständigungspolitik mit Russland über ihre Köpfe hinweg und ohne Berücksichtigung ihrer Interessen einführen. Der renommierte polnische Politologe Eugeniusz Smolar hat in einem offenen Brief an Bundesaußenministerin Annalena Baerbock nach ihrem Auftritt an der New Yorker New School am 2. August 2022 darauf aufmerksam gemacht, dass der Aufruf, das Prinzip der Einstimmigkeit aufzugeben, im Juni 2021 vom damaligen Außenminister Heiko Maas vorgebracht worden war, als Reaktion auf die Blockadehaltung einiger EU-Staaten gegenüber der deutsch-französischen Idee, direkte Gespräche mit dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin zu führen.

Ein weiterer Streitpunkt in den Beziehungen zwischen Polen und europäischen und deutschen Institutionen wurde die Frage der Touristenvisa für Russen für Einreisen in die Europäische Union. Auf Instagram und Facebook verbreitete Fotos von russischen Touristen, die Erholung in europäischen Ferienorten genießen, wahrgenommen auch von den deutschen Medien, empörten die öffentliche Meinung in Polen sowie den baltischen und den skandinavischen Ländern. Der Vorschlag, die Ausgabe von Touristenvisa an russische Staatsbürger einzustellen, rief in Deutschland und anderen EU-Staaten jedoch Widerstand hervor.

Leider scheinen manche deutschen meinungsbildenden und entscheidungsbefugten Kreise nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass Polen für Deutschland ein weitaus wichtigerer Handelspartner ist als Russland. Das gilt sowohl für den Import (Polen lag im Jahr 2021 mit 69 Milliarden Euro auf Platz vier gegenüber Russland mit 33 Milliarden Euro auf Platz zwölf) als auch für den deutlich größeren Exporthaushalt (Polen auf dem fünften Platz mit 78 Milliarden Euro gegenüber Russland auf Rang 14 mit 27 Milliarden Euro). Die Bedeutung Russlands in der deutschen Politik im Vergleich zum Gewicht, das Polen beigemessen wird, schien und scheint manchmal immer noch umgekehrt proportional zu den genannten Zahlen zu sein. Das erleichtert dem polnischen Regierungslager und den regierungsfreundlichen Medien, seine antideutsche Kampagne zu führen.

Einen gewissen Einfluss auf die Gestaltung und Präsentation der deutsch-polnischen Beziehungen hat die seit Juli 2022 beobachtete Verschmutzung der Oder, die eine ökologische Katastrophe im deutsch-polnischen Grenzfluss nach sich zieht. Da der Austritt der giftigen Substanzen im polnischen Teil der Oder auftrat und die Folgen auch das deutschen Gewässer und Ufergebiet betrafen, konnten die polnischen Regierungskreise nur schwerlich die Narration aufrecht erhalten, dass die Deutschen den Polen das Leben vergifteten und vergiften.

In der aktuellen Situation, die Russland durch seinen Angriff auf die Ukraine hervorgerufen hat, richtet die polnische Regierung ihre Politik und ihre Hoffnungen weniger auf die EU als auf die NATO aus, insbesondere auf die USA und Großbritannien, die eine Führungsrolle im Bereich der militärischen Hilfe für die Ukraine und bei den Erklärungen, diese bis zum Sieg über Russland fortzuführen, einnehmen. Diese Haltung stößt in der öffentlichen Meinung Polens auf allgemeine Zustimmung.

Dagegen kam es vor dem Hintergrund der russischen Aggression zu einer deutlichen Verschlechterung der Beziehungen zu Ungarn, das bisher der wichtigste politische Verbündete, in vielen Fragen der einzige, war. Die polnische Regierung fror auch die Kontakte mit den rechten Populisten in Westeuropa ein, die vor dem russischen Angriff intensiv entwickelt worden waren, da sich diese vor allem aus Putin-Verstehern oder gar dessen Unterstützern zusammensetzen. Dennoch fasst die PiS hoffnungsvoll einen möglichen Sieg der Rechten bei den vorgezogenen Wahlen in Italien ins Auge.

Die Perspektive der Regierungsübernahme durch die Opposition

Wenn die Opposition die Parlamentswahlen im kommenden Jahr gewinnt (vier Oppositionsparteien erhalten in den Umfragen zusammen mehr Unterstützung als die PiS, insbesondere wenn sie mit einer gemeinsamen Liste antreten), ist der Erhalt der EU-Finanzmittel realistisch, denn alle oppositionellen Gruppierungen haben in einer gemeinsamen Erklärung bekräftigt, die von der aktuellen Regierung bereits vollzogenen Änderungen im Gerichtswesen aufzuheben und dem polnischen politischen System wieder die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zurückzugeben. Die Umsetzung der Anforderungen der Europäischen Kommission zöge nach sich, dass die mit ihr ausgehandelten Finanzmittel freigegeben werden. Die Vereinbarung mit der EU sieht vor, dass Polen bis Ende 2023 Zeit hat, die Mittel zu erhalten, und bis 2026, sie auszugeben.

Ein Hindernis könnte allerdings die Haltung von Präsident Duda sein. Seine Amtszeit dauert bis 2025 und er besitzt das Vetorecht bei Gesetzen, die das Parlament beschlossen hat. Hinzu kommt, dass das Verfassungstribunal, das Gesetze infrage stellen kann, vollständig dem Willen und den Interessen der PiS untergeordnet ist. Bisher hat Duda die Änderungen im Gerichtswesen befürwortet und bestätigt und unrechtmäßig Richter sowie Mitglieder des Verfassungstribunals vereidigt. Die Befürchtung ist also berechtigt, dass er es in einer möglichen künftigen Koalition aus den Gruppierungen der jetzigen Opposition erschweren oder sogar unmöglich machen könnte, Entscheidungen umzusetzen, mit denen von der PiS eingeführte Änderungen im Justizsystem zurückgenommen würden, die ja auf seiner einst gegebenen Zustimmung beruhen. Dann wäre auch die Freisetzung der Mittel aus dem EU-Aufbauplan weiter blockiert.

Eines der Hauptthemen in der öffentlichen Debatte in Polen ist also die Art und Weise, wie die Rechtsstaatlichkeit wiederhergestellt werden kann, wenn Schlüsselinstitutionen entmündigt oder außerstaatlichen bevollmächtigten Akteuren und entscheidungsbefugten Kreisen untergeordnet sind (formal hat Jarosław Kaczyński keine andere Funktion außer sein Mandat als einfacher Parlamentarier). Die Möglichkeit, abzuwarten bis die Amtszeit von wichtigen Funktionären des Staatsapparates ausläuft, auch wenn sie vom aktuellen Regierungslager unrechtmäßig oder infolge von Rechtsmissbrauch berufen wurden, bedeutet, mehrere Jahre in einer Sackgasse zu verharren. Diese Option stößt auf den Vorschlag, alle diejenigen ihrer Ämter zu entheben, die diese unter Zuhilfenahme prozeduraler Verstöße erhalten haben. Unklar ist hier, wer solche Verstöße feststellen soll, wenn die wichtigen Justizinstitutionen mit Akteuren besetzt sind, die gegenüber der aktuellen Regierung loyal sind und deren Interessen realisieren.

Die polnische Wirtschaft, die sich bisher dynamisch entwickelt hat (5,9 Prozent Wachstum im Jahr 2021), zeigt Symptome der Verlangsamung. Aufs Jahr gerechnet wird die Inflation 15 Prozent wohl übersteigen und es gibt Anzeichen, dass die wirtschaftliche Aktivität zurückgeht – im zweiten Quartal 2022 wurde im Vergleich zum ersten Quartal der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts festgestellt und die polnische Währung schwächelt. Die finanziellen Mittel des europäischen Aufbaufonds wären also sehr nützlich. Sollten sie nicht freigegeben werden, könnte die polnische Wirtschaft in eine Rezession geraten. Wenn dies in den nächsten Monaten eintritt, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die PiS die Parlamentswahlen 2023 verliert. Wenn sich die Rezession aber erst nach dem Wahlsieg der jetzigen Opposition entfaltet, kann es sein, dass diese für sie und ihre Folgen verantwortlich gemacht wird.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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