Polen und Litauen – eine komplizierte Nachbarschaft

Von Michał Olszewski (Client Earth Poland, Warschau)

Zusammenfassung
Auch wenn man eine kurze politische Analyse nicht mit persönlichen Bekenntnissen beginnen sollte, sind sie hier doch notwendig. In den vergangenen Jahren habe ich mich bemüht, die immer angespannteren Beziehungen zwischen Polen und Litauen zu verfolgen – sowohl aus der entfernten Krakauer Perspektive als auch von Orten aus, die bedeutend näher an Wilna liegen. Aufgewachsen in Masuren, also gewissermaßen in der Nähe der litauischen Hauptstadt, in einer Familie, die seit Generationen im polnisch-litauischen Grenzgebiet ansässig ist, kam ich zu der Überzeugung, dass die Eskalation der gegenseitigen Vorwürfe ausschließlich durch die Ängste und Ressentiments der litauischen Seite hervorgerufen wurde. Die einzig wirksame Antwort auf die evidente Missachtung der Rechte der polnischen Minderheit in Litauen könne daher nur eine harte, kompromisslose Politik Warschaus sein. Die vergangenen Monate erlauben mir, die Vernünftigkeit dieser Forderungen zu überprüfen, denn sie haben sich als naiv erwiesen. Auf Initiative von Außenminister Radosław Sikorski begann die polnische Seite eine Offensive, die bis auf weiteres allerdings ohne diplomatischen Charme geführt wird, auf Ungeduld beruht und darauf, den »widerspenstigen« jüngeren Bruder zurechtzuweisen.

Bis zu einem gewissen Grad scheint die Irritation der Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk verständlich zu sein. Im komplizierten Geflecht der polnischen politischen Konflikte nach 1989 waren nämlich gutnachbarschaftliche Beziehungen zu Litauen immer eines der wenigen Dogmen der unterschiedlichen Regierungen. Die historisch begründeten Ängste unseres Nachbarn wurden als verständlich bewertet, umso mehr, als uns bis zum Jahr 2004 gemeinsame Bemühungen verbanden – zunächst der Beitritt zur NATO, dann zur EU und schließlich zum Schengen-Abkommen. Diese Strategie hat ihre Prüfung bestanden. Ein sichtbares Zeichen ihres Erfolgs ist beispielsweise der Grenzübergang in Budzisk (Woiwodschaft Podlachien). Noch vor nicht allzu langer Zeit war dies ein gefürchteter Ort, der von mafiösen Strukturen beherrscht wurde, mit kilometerlangen LKW-Schlangen, die, so schien es, dort bis zum Weltende stehen würden. Aber sie sind verschwunden.

Eine arrogante Politik Litauen gegenüber zu vermeiden, hatte in der III. Republik also einen pragmatischen Grund. Zugegeben werden muss auch, dass der Neuordnung der Beziehungen ein fundamentaler Missklang zugrunde lag, über den verlegen geschwiegen werden musste. Ich denke hier an die Unterstützung, die ein Teil der litauischen Polen Gennadi Janajew beim Putsch gegen Michail Gorbatschow am 19. August 1991 gewährt hatte, weil diese litauischen Polen darin eine Chance für die frisch ausgerufene autonome Region innerhalb Litauens sahen.

Schwierige Rahmenbedingungen für eine gute Nachbarschaft

Die geopolitischen Erfolge hatten jedoch einen hohen Preis. Auf ihrem Altar wurden vor allem die polnischen Litauer geopfert. Krönender Beweis ist das litauische Reprivatisierungsgesetz von 1997. Die Polen wurden ganz ans Ende der Warteschlange für Entschädigungen gedrängt. Familien aus Wilna beispielsweise warteten trotz eingereichter vollständiger Dokumente etliche Jahre auf die Entscheidung der Behörden und beobachteten dabei, wie die von ihnen reservierten Parzellen in den Besitz von Litauern übergingen. Berücksichtigt man dabei noch die Tatsache, dass das Gesetz es ermöglichte, die Entschädigung für das von der UdSSR enteignete Land an einem beliebigen Ort einzulösen, was zu Veränderungen im Gebiet um die Hauptstadt und zu einer Verdünnung des polnischen Elements im Wilnaer Gebiet führte, erhält man ein Bild von der offenkundigen Ungerechtigkeit, auf die Warschau nicht reagierte.

Hinzu kommen Probleme des Bildungswesens. Im leerer werdenden Land bedarf es einer Bildungsreform ähnlich derjenigen, die in Polen durchgeführt worden ist. In beiden Ländern werden die Dörfer verlassen, es bleiben dort die Alten, die Erfolglosen sowie die Besitzer landwirtschaftlicher Großbetriebe. Damit geht einher, dass die Ausbildung in diesen Gebieten für den Staat und die lokalen Behörden eine große Belastung darstellt. Allerdings weckt die Art und Weise, wie die Litauer das Bildungswesen reformieren, Zweifel. Die Verringerung der Anzahl der Schulfächer, die in der Muttersprache gelehrt werden (der Streit betrifft nicht nur Polnisch als Unterrichtssprache), oder auch die Vereinheitlichung des Abiturs im Schulfach Litauisch weckten eine Reihe von Protesten unter den Schülern der litauischen Schulen sowie denen der Minderheit. Die Erklärung, dass die Änderungen der Sorge um die polnischen Kinder und deren zukünftige Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt entspringen, klingt nicht überzeugend. Im Gegensatz zu der mit der polnischen und der russischen Sprache aufgewachsenen Elterngeneration spricht die jüngste Schülergeneration ganz natürlich Polnisch und Litauisch. Angaben der polnischen Minderheit zufolge werden 70 Prozent der jungen Polen in Studienfächer, die auf Litauisch gelehrt werden, aufgenommen.

Streit über die Schreibweise von Nachnamen

Bitterkeit rief auch die Frage der Schreibweise von Nachnamen hervor. In Litauen wird um jedes diakritische Zeichen gekämpft. Der polnisch-litauische Vertrag von 1994 präzisiert, dass sowohl die Polen in Litauen als auch die Litauer, die in Polen leben, das Recht haben, ihre Namen in der Weise zu schreiben, die sie für richtig halten. Trotzdem bleiben die polnischen Namen in Litauen nach wie vor lituanisiert. Der Spruch des litauischen Verfassungsgerichts im Herbst 2009 goss noch Öl ins Feuer. Das Gericht entschied, dass die litauischen Bürger mit einer anderen Nationalität als der litauischen die Pflicht haben, ihre Namen in litauischer Schreibweise auf den ersten Seiten von Dokumenten anzugeben. Die Schreibweise in einer anderen Sprache soll nur eine Hilfe sein und kann auf den folgenden Seiten des Dokuments verwendet werden. Die litauische Regierung verwies darauf, dass diese Entscheidung im Widerspruch zu den Empfehlungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte steht und die bürgerlichen Freiheiten vergewaltigt. Als Antwort darauf lehnte das von den Konservativen dominierte Parlament den Regierungsentwurf des Gesetzes ab. Die Polen in Litauen haben diese Schlacht verloren.

Die Absurdität dieser Situation kann man auf Schritt und Tritt sehen. Der Bürgermeister von Šalčininkai (südlich von Wilna, poln.: Soleczniki), dessen Einwohner mehrheitlich Polen sind, hat, obwohl er Pole ist, theoretisch die Pflicht, mit Gästen aus Polen und polnischen Antragstellern ausschließlich in der Amtssprache Litauisch zu sprechen. Um die Erlaubnis, dass Vor- und Nachname von Adam Mickiewicz auf einem Denkmal auf Polnisch geschrieben werden durften, fochten die Behörden einen regelrechten Kampf aus und wandten schließlich eine List an: Angebracht wurde eine Vergrößerung der Unterschrift von Mickiewicz. Nun können sie erklären, dass es sich auf dem Denkmal um ein Faksimile handelt und nicht um den amtlichen litauischen Namen des Dichters. Diejenigen, die wollen, dass Namen in der von der Minderheit vorgeschlagenen Version geschrieben werden können, gehörten zum Abschaum der Gesellschaft und strebten die »Slawisierung« Litauens an – ist zu hören. »Slawisierung« ist ein Ausdruck, mit dem die litauischen Konservativen gern die Wähler erschrecken, wobei sie vor allem das Bild eines räuberischen Polen entwerfen, das es auf die Souveränität des nördlichen Nachbarn abgesehen hat.

Missglückte Versuche einer wirtschaftlichen und energiepolitischen Partnerschaft

Mit einer unverständlichen Niederlage endeten auch die bisherigen Versuche, eine wirtschaftliche Partnerschaft aufzubauen. Das Lieblingskind von Staatspräsident Lech Kaczyński, der die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Warschau und Wilna zu stärken versuchte, war die Investition des polnischen Erdölkonzerns PKN Orlen in Mozejki. Die Erdölraffinerie war jahrelang ein Verlustgeschäft und ihr drohte die Schließung. Hilfserklärungen stießen brutal mit der Realität zusammen. Aus ungeklärten Ursachen montierten die litauischen Eisenbahnen gleich, nachdem die Russen die Rohstofflieferung zu der von den Polen übernommenen Raffinerie gestoppt hatten, die Schienenanlagen ab, die einen schnelleren und billigeren Erdöltransport zur Raffinerie ermöglichten. (WikiLeaks deckte auf, dass Russland absichtlich eine Havarie der Pipeline verursacht hatte, um einen Zusammenbruch des Unternehmens herbeizuführen.) Nach jahrelangen Überlegungen entschied Orlen, dass es die Anlage in Mozejki trotz allem nicht verkaufen wird, aber Bitterkeit und Misstrauen blieben auf beiden Seiten bestehen. Möglicherweise betrachteten die Litauer die Übernahme der Raffinerie als Symbol des polnischen Großmachtstrebens.

Ein symbolischer Moment des Zusammenbruchs der polnisch-litauischen Beziehungen war der 8. April 2010, zwei Tage, bevor das Flugzeugunglück von Smolensk geschah. Die damalige parlamentarische Mehrheit in Litauen erteilte Lech Kaczyński während seines letzten Besuches vor seinem tödlichen Unfall in Litauen eine heftige Ohrfeige, indem sie das für die Minderheit ungünstige Gesetz über die Schreibweise von Namen verabschiedete. Diese Geste wurde für kurze Zeit von der nationalen Tragödie Polens verdrängt, sie tauchte aber wieder auf, als die Emotionen über das Unglück abgeklungen waren. Der Streit dauert bis heute an; in Litauen wird er nahezu als Schlacht um die Unabhängigkeit behandelt.

Suche nach neuen strategischen Partnerschaften in der Region

Das Hauptelement der neuen polnischen Strategie in diesem Teil Europas ist der Aufbau einer strategischen Partnerschaft mit Lettland und Estland, Länder, die Außenminister Sikorski als attraktive Vervollständigung der Visegrád-Gruppe betrachtet. Der Besuch von Ministerpräsident Donald Tusk in Tallinn (Estland) am 11. März 2013 war die Krönung der mehrmonatigen Maßnahmen und Konsultationen auf Ministerebene. Für Polen kann die Stärkung der Position im ehemaligen sowjetischen »Pribaltikum« (Litauen, Lettland, Estland) ein stärkeres Mandat für die Rolle als Führer in der Region bedeuten. Die bislang hinkende Zusammenarbeit dieser EU-Mitgliedsländer, die vor nicht allzu langer Zeit noch im sowjetischen Einflussbereich lagen, kann an Schwung gewinnen, was für Polen auf der Suche nach Verbündeten zumindest im Kampf gegen die EU-Klimapolitik eine ungeheure Bedeutung hätte. Für Lettland und Estland wiederum ist Polen das Fenster zum Westen. Eine gemeinsame Front kann zum Beispiel eine leichtere Realisierung großer Transportprojekte bedeuten. Zu nennen wäre hier die seit Jahren von den Ländern der Region erwartete Eisenbahntrasse Rail Baltica von Warschau nach Helsinki, deren Umsetzung im Frühjahr 2013 beginnen soll. Die Ambitionen der EU zielen noch weiter. Angestrebt ist die Schaffung einer starken baltischen Makroregion, die in der Lage sein soll, mit der in dieser Region immer aktiver werdenden Russischen Föderation zu konkurrieren.

Wo ist hier ein Platz für Litauen? Obgleich es flächenmäßig klein ist (ein Fünftel der Fläche Polens) und sich erheblichen demographischen Problemen stellen muss (vorsichtigen Schätzungen zufolge emigrierten in den letzten 20 Jahren 500.000 Personen von 3,5 Millionen Einwohnern dauerhaft), ist es ein unentbehrliches Element im baltischen Puzzle. Es ist einer der beiden Nachbarn der Kaliningrader Oblast und besitzt mit Klaipeda einen der wichtigsten Ostseehäfen. Das zeigt deutlich, dass Litauen eine wesentliche geopolitische Rolle spielt. Mit Sicherheit ist sich die polnische Regierung dessen bewusst, wurde Litauen doch in den »Prioritäten der polnischen Außenpolitik 2012–16« als einer der Schlüsselpartner in der Region aufgeführt. Es weist jedoch alles darauf hin, dass sich die polnische Regierung nach Jahren geduldigen Wartens auf eine Veränderung in den bilateralen Beziehungen entschieden hat, mit dem Fuß aufzustampfen und den Nachbarn zur Ordnung zu rufen.

Neue polnische Ungeduld

Eines der ersten Signale der Veränderungen in der polnischen Politik gegenüber Litauen war, dass sich der polnische Energiekonzern Polska Grupa Energetyczna (PGE) im Jahr 2011 aus der gemeinsamen Baufinanzierung eines Atomkraftwerks in Litauen zurückzog, was eines der wichtigsten geoökonomischen Projekte in diesem Teil Europas war. Ursprünglich war geplant worden, dass diese Investition von Litauen, Lettland, Estland und Polen gemeinsam finanziert würde. Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch, dass auf der Baustelle eines Konkurrenzbaus in der Kaliningrader Oblast mit Hochdruck gearbeitet wird; polnische Journalisten werden dort in Ehren empfangen und auf dem Gelände herumgeführt. Die Russen hoffen, dass, wenn sich die Prognosen von Experten bestätigen, die Polen ab dem Jahr 2015 dauerhafte Probleme wegen Strommangels gewärtigen werden und dieses Kraftwerk dann eine attraktive Stromquelle darstellen wird. Die Entscheidung der Polen bedeutete für die Litauer Schwierigkeiten – nach Abschalten des Kernkraftwerks in Ignalina (eine der Bedingungen für den Beitritt des Landes zur EU) blieben sie praktisch ohne eigene Energiequellen zurück und stehen vor dem realen Risiko, vollständig von russischen Quellen abhängig zu werden. Ignalina hatte 30 Prozent des Energiebedarfs des Landes abgedeckt und russisches Gas und Erdöl die restlichen 70 Prozent. Ein Jahr nach der Entscheidung Polens wurde dann das gesamte Projekt aufgegeben. In einem Referendum sprachen sich die Litauer gegen den AKW-Bau aus, und die neu gewählte Regierung teilt mit, dass sie sich dieser Entscheidung nicht entgegenstellen werde.

Die Entscheidung von PGE war mit Sicherheit eine politische Entscheidung, ähnlich wie der Kauf von Mozejki. Dabei klingen die Vorwürfe der litauischen Staatspräsidentin Dalia Grybauskaitė, die Polen eines ausschließlich »kommerziellen« Denkens über Energiefragen tadelte, einerseits verständlich, andererseits aber wie das Lecken teilweise selbst vergossener Milch. Natürlich – es gibt keine Energie ohne Politik. Zugegeben werden muss aber auch, dass die politischen Signale aus Litauen nach Warschau in den letzten Jahren entmutigend waren, so als würde von polnischer Seite abermals eine Bedrohung ausgehen. Von den großen gemeinsamen Projekten sind also noch die erwähnte Rail Baltica und die Verbindung des Stromnetzes zwischen Polen und Litauen auf einer Länge von ungefähr 150 km aktuell. Falls die langjährigen Proteste der polnischen Bauern dies nicht blockieren, wird sie vom polnischen Ełk in die litauische Stadt Alytus führen.

Die polnische Minderheit: umworbener Zankapfel

Doch damit nicht genug: Seit zwei Jahren engagiert sich Polen energischer in Sachen polnischer Minderheit. Bisher mit wenig Erfolg – die interparlamentarische Gruppe, die für die Verhandlungen über das Bildungsgesetz verantwortlich ist, hat es nicht einmal geschafft, ein bescheidenes Memorandum auszuarbeiten. Dafür bekam sie vom damaligen litauischen Außenminister Audronius Ažubalis einen bezeichnenden Kommentar. Er sagte, dass Wilna keinen »älteren Bruder« brauche, und warf Polen Großmachtsgelüste nach russischem Muster vor.

Hoffnungen auf Veränderungen brachten die Parlamentswahlen in Litauen im vergangenen Jahr mit sich. Die Konservativen haben verloren und die Regierungsverantwortung übernahm ein Mitte-Links-Bündnis, dem auch die Wahlaktion der Polen in Litauen (Akcja Wyborcza Polaków na Litwie) angehört. Diese hat im Parlament den Posten des stellvertretenden Vorsitzenden des Komitees für Menschenrechte erhalten, das Amt des Energieministers sowie vier Vizeministerposten: für Landwirtschaft, Transport, Bildung und Kultur. Die Regierung von Ministerpräsident Algirdas Butkevičius sendete auf diese Weise ein deutliches Signal, dass sie die Beziehungen zu Polen zu verbessern versuchen wird. Die erste versöhnliche Geste des neuen Außenministers Linas Linkevičius, der in Warschau für die Ablehnung des Gesetzes über die Originalschreibweise von Namen um Entschuldigung bat, wurde allerdings von Staatspräsidentin Grybauskaitė scharf kritisiert.

Die letzten Monate zeigen also, dass sich die polnisch-litauischen Beziehungen immer noch in einer Phase befinden, in der die kleinste Bewegung als Beleidigung des Nachbarn aufgefasst wird. So wurde auch eine Entscheidung der Selbstverwaltung in der polnischen Landgemeinde Puńsk behandelt, in der Litauer die Mehrheit stellen und deren Gemeindevorsteher ebenfalls Litauer ist. Sie will drei litauische Schulen schließen, aus denselben Gründen, aus denen in Litauen polnische Schulen geschlossen werden. 48 Schüler sollen in die Schulen von Sejny oder in das Städtchen Puńsk fahren. Auf die Entscheidung folgte eine blitzschnelle Reaktion litauischer Politiker: Staatspräsidentin Grybauskaitė stellte fest, dass die »polnische Bildungspolitik für litauische Schulen nicht günstig« sei, der Ministerpräsident Litauens bot finanzielle Hilfe an und der litauische Bildungsminister fuhr nach Puńsk, um sich persönlich über die Angelegenheit zu informieren. Die Situation wird wiederum bis zur Unmöglichkeit dadurch verkompliziert, dass die Wahlaktion der Polen in Litauen zur selben Zeit für die Litauer erstaunliche Korrekturen vorgeschlagen hat, nämlich die radikale Verschärfung des litauischen Abtreibungsgesetzes und die Einführung von obligatorischem Religionsunterricht in den litauischen Schulen, was auf Kritik des Erzbischofs von Kaunas, Sigitas Tamkevičius, stieß.

Die hier grob skizzierte Darstellung größerer oder kleinerer Konflikte beantwortet allerdings nicht die Frage nach der Hauptursache für die Abkühlung der polnisch-litauischen Beziehungen – falls es sie denn geben sollte. Die Polen haben die Geduld verloren, das ist uns nun bekannt. Warum aber hatten sich, noch bevor es dazu gekommen ist, die Litauer so hinter ihren Positionen verschanzt?

Polnische Ambitionen, litauische Empfindlichkeiten

Beim Versuch, die tieferen Gründe der Krise zu verstehen, mag die Analyse der bereits erwähnten baltischen Ambitionen Polens helfen. Außenminister Sikorski betreibt die Regionalpolitik so, dass Litauen das deutliche Signal gegeben wird, umgangen zu werden. Die einzige deutliche Botschaft an unseren nördlichen Nachbarn in den letzten Monaten war eine ultimative Aussage zum geplanten Bau des Flüssiggasterminals in Klaipeda. Die Entscheidung der litauischen Regierung für diesen Terminal hat vielfältige Konsequenzen für die Region, darunter auch für Polen. Sie bedeutet, dass die Sinnhaftigkeit des Baus eines regionalen Terminals in Lettland mit einem Fragezeichen versehen wird. Weiterhin kann sie bedeuten, dass der Terminal in Swinemünde (Świnoujście) einen seiner regionalen Kooperationspartner verliert und in Klaipeda eine ernstzunehmende Konkurrenz gewinnt. Die Aussage von Sikorski, der von Litauen eine eindeutige Stellungnahme fordert – entweder der Terminal in Klaipeda oder die Gaspipeline Klaipeda-Warschau –, scheint jedoch kontraproduktiv zu sein und eher dazu zu dienen, die Stimmung anzuheizen, als sie zu beruhigen. Außerdem scheint hier nicht die grundlegende Tatsache beachtet zu werden, dass Litauen seinen Interessensvektor geändert hat, was führende Politiker in Wilna in den letzten Jahren mehrmals zum Ausdruck brachten. Polen bleibt für sie demnach natürlich ein wichtiger Partner bzw., wie es 2012 der damalige Ministerpräsident Andrius Kubilius elegant formuliert hat, ein »Transmissionsriemen« in den Westen. Die neue Doktrin sieht jedoch vor allem die Verstärkung der Kontakte mit Skandinavien vor. Skandinavien?! Die Überzeugung, dass Litauen partnerschaftliche Beziehungen mit Stockholm aufnehmen könnte, dass Stockholm für Wilna ein Gleichaltriger und nicht ein »älterer Bruder« sein könnte, scheint naiv oder verrückt zu sein.

Warum Stockholm? Ich sehe hier nur eine Antwort: Die Signale, die über die Ostsee gesendet werden, zeugen von dem Gefühl wachsender Vereinsamung und Marginalisierung Litauens und davon, dass es sich zunehmend zwischen den polnischen Hammer und den russischen Amboss gedrückt fühlt. Litauen sieht um sich herum keine Verbündeten, auch wenn es dies aus polnischer Sicht tun sollte. Litauen fürchtet sowohl die Dominanz Russlands als auch ein allzu starkes Polen, denn ein allzu starkes Polen ruft eindeutige Assoziationen hervor: die Besatzung in der Zwischenkriegszeit. Litauen macht uns den Vorwurf, dass wir mit Deutschland und Russland paktieren, und versucht, in die europäische Sonderklasse zu gelangen. Litauen will unabhängig sein, saugt aber gleichzeitig aufs Neue die russische Kultur auf. Und schließlich hat Litauen nur Feinde oder Verräter um sich herum, unter denen Polen den wichtigsten Platz einnimmt. Ob dies gerechtfertigte Überzeugungen sind, ist hier im Moment nicht wichtig. Wichtiger scheint die Antwort zu sein, was wir als Staat gemacht haben, um sie zu verhindern. Diese Antwort klingt nicht gut: Zuerst haben wir jahrelang geschwiegen, dann, als die Situation begann, kompliziert zu werden, haben wir mit dem Finger gedroht.

Ebenso wesentlich ist die Frage, ob man irgendetwas machen kann, um die Rückkehr alter Gespenster zu verhindern. Die Quellen der gegenseitigen Antipathie liegen tief in der Vergangenheit, sowohl der näheren als auch der ferneren. Die Litauer haben den Putsch mit Janajew im Gedächtnis, die Polen erinnern sich an litauische Faschisten. Die Litauer werden den Polen niemals die Inbesitznahme Wilnas durch General Lucjan Żeligowski im Oktober 1920 verzeihen, die Polen werden die Massenexekutionen von Polen mit Beteiligung von Litauern in Paneriai (poln.: Ponary) 1941 nicht vergessen. Im Gegensatz zur polnisch-deutschen Geschichte haben die Polen und die Litauer ihre tragischen historischen Ereignisse nicht aufgearbeitet. Es ist kein »Wir vergeben und bitten um Vergebung« gefallen, es treibt niemanden, einen ähnlich starken Satz auszusprechen. Stattdessen haben wir Kleinkrieg und Kräftemessen. Wilna ist die Arena für unglaublich absurde Kämpfe. Der Austausch der Treppenstufen in der Kapelle der Barmherzigen Muttergottes von Ostra Brama wächst zu einem internationalen Skandal an, für zweisprachige Informationstafeln in Bussen schrieben Beamte bis vor kurzem Mandate.

Bis auf weiteres scheint das polnische Rezept, um diesen gordischen Knoten zu lösen, klar: Entweder Ihr fangt an, in der Politik nach unseren Regeln zu spielen, oder Ihr verurteilt euch selbst zur Isolation. Das Problem liegt darin, dass eine solche Methode im Fall Litauen nicht zum Erfolg führen kann. Davor warnte schon Michał Römer (1880–1945), der hervorragendste litauische Jurist und sensible Beobachter der polnisch-litauischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit, in seinem Tagebuch: »Die Vereinsamung, in die die polnische Politik Litauen drängte, ist für Litauen doppelt schwer. Einerseits wird es an den Scheideweg gestellt, aller Methoden beraubt, die eigene internationale Position mit Hilfe von Interessengemeinschaften zu stärken. Andererseits wird es im Streit mit Polen um Wilna schutz- und ratlos gemacht. Indem es von Polen aus den Beziehungen zu den Nachbarn ausgeschlossen wird – von denen es träumte und in dessen Rahmen es seine Staatlichkeit konsolidieren wollte – kann Litauen aufgrund der geopolitischen Konstellation nicht gleichzeitig auf eigene Faust zwei anderen mächtigen Nachbarn entgegentreten, die zusammen Polens Rivalen sind: Deutschland und Russland. […] Die Litauer sind leidenschaftlich, sie haben starke und tiefe Gefühle, sie haben Charakter. Polen sollte das wissen, denn das, was in seiner Geschichte am stärksten und am tiefsten war, das kam aus Litauen.«

Trotz einer veränderten Landkarte ist es das Zitat wert, erinnert zu werden. Wenn die neue polnische Politik zur Verstärkung des Gefühls der Isolation in Litauen führen wird, dann wird die gegenwärtig kleine Spalte zwischen beiden Nationen wieder einmal zu einem Abgrund werden.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Zum Weiterlesen


Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS