Belarus-Analysen

Ausgabe 66 (14.06.2023) — DOI: 10.31205/BA.066.02, S. 7–10

Die »Integration« von Belarus und Russland:
 Die Roadmaps des Unionsstaates

Von Roza Turarbekava (Historikerin aus Belarus)

Zusammenfassung
Der Beitrag betrachtet die Evolution des Projektes Unionsstaat von Belarus und Russland und dessen gegenwärtigen Zustand. Im Zentrum steht die Verabschiedung und Umsetzung einer neuen Etappe von »Integrations«-Maßnahmen (2021–2023), nämlich von sogenannten Roadmaps zur Angleichung der Volkswirtschaften von Belarus und Russland. Eine Analyse ergibt, dass eine Reihe von Roadmaps eine Gefahr für die Souveränität darstellen. Betrachtet werden auch die Frage des Integrationstempos und das komplexe Spiel Moskaus, mit dem eine Vereinheitlichung der Steuer- und Zollgesetzgebung erreicht werden soll. Ebenso soll aus Moskauer Sicht der Moment näher rücken, in dem Belarus im russischen politischen Raum aufgeht.

Der Unionsstaat: Die Evolution des Projektes

Die Geschichte des Unionsstaates beginnt am 8. Dezember 1999, als der »Vertrag über die Gründung eines Unionsstaates« unterzeichnet wurde. Auf politischer Ebene wurde dieses Datum nicht zufällig gewählt, da am 8. Dezember 1991 die sogenannten Belowescher Abkommen unterzeichnet wurden (»Abkommen über die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten«), die die Auflösung des Gründungsvertrags der UdSSR bestätigten. Diese Abkommen waren seinerzeit wohl in erster Linie ein Versuch gewesen, die Bedeutung des Zerfalls der UdSSR herunterzuspielen. Alles in allem war das das Projekt eines Unionsstaates eher eine Initiative von Aljaksandr Lukaschenka, dem jungen Präsidenten von Belarus, der für eine Reintegration einer UdSSR eintrat (in welcher Form auch immer). Der russische Präsident Boris Jelzin hingegen hinterließ ein recht widersprüchliches Erbe: Einerseits war er einer der wichtigsten Initiatoren des Auseinanderbrechens der UdSSR. Andererseits war er es, der den Vertrag zur Gründung des Unionsstaates unterschrieb.

Von Historikern wie Aljaksandr Zichamirau wird hervorgehoben, dass sich der Gründungsprozess des Unionsstaates nach dem Machtwechsel in Russland 2000 und im weiteren Verlauf komplizierter gestaltete, was die Umsetzung der Bestimmungen des Vertrages anbelangte. Wladimir Putin trat für einen Beitritt von Belarus zur Russischen Föderation und wirtschaftlichen Pragmatismus ein. Lukaschenka bestand auf gleichen Bedingungen für Wirtschaftssubjekte, was in Wirklichkeit eine Bereitstellung von Öl und Gas zu Vorzugspreisen bedeutete. Diese unterschiedlich ausgerichteten Interessen entwickelten sich in den folgenden Jahrzehnten zu Stolpersteinen in den Auseinandersetzungen zwischen Lukaschenka und der russischen Führung.

Regelmäßig brannten Streitigkeiten um Öl- und Gaspreise auf, weil Verträge ausgelaufen waren und Verhandlungen über neue Vereinbarungen anstanden. Lukaschenka nannte als wichtigstes Argument seine Loyalität auf der militärischen und politischen Ebene. Er setzte in seiner Rhetorik den Akzent auf die eigene »antiwestliche Haltung«. Bestimmte politische Gruppierungen in Russland sympathisierten mit Lukaschenka. Insbesondere entstanden partnerschaftliche Beziehungen zur Führung der Kommunistischen Partei (KPRF). Das stellte in einem gewissen Sinne ein Lobbysystem zur Verfechtung belarusischer Interessen innerhalb der russischen politischen Welt dar. Außer an die KPRF und die »roten Direktoren« der Staatsunternehmen wandte sich Lukaschenka intensiv und direkt an die russische Gesellschaft, und zwar über regionale russische Medien, die er regelmäßig zu seiner jährlichen Pressekonferenz nach Belarus einlud. Allerdings änderten sich die politischen Bedingungen mit der Zeit.

Aufgrund des Kriegsbeginns im Donbas 2014, der Annexion der Krim 2014, der Sanktionen gegen Russland (2014–2015) und des von Lukaschenka begonnenen Dialogs mit der EU (2015) änderte sich für Russland die Bedeutung von Belarus. Russlands Hoffnung, die Ukraine in die »Einflusssphäre« seiner Interessen ziehen zu können, wurde erheblich geschwächt. Falls die Politik eines Dialogs zwischen der EU und Lukaschenka erfolgreich würde, hätte auch Moskaus Einfluss auf Minsk zurückgehen können.

Upgrade des Unionsstaates

Die jüngste Entwicklung der belarusisch-russischen Integration nimmt mit der Erklärung des russischen Ministerpräsidenten Dmitrij Medwedew vom 13. Dezember 2018 ihren Anfang. Sie betraf die Schaffung jener überstaatlichen Strukturen, die gemäß dem Vertrag von 1999 gegründet werden sollten. Das bedeutete praktisch, dass der Kreml seine Absicht aktualisierte, überstaatliche Organe zu schaffen, also ein Parlament, Ausschüsse und eine gemeinsame Notenbank. In Folge dieser Erklärung wurde eine gemeinsame Arbeitsgruppe eingerichtet, die ein Dokument mit dem Titel »Tätigkeitsprogramm der Republik Belarus und der Russischen Föderation zur Umsetzung der Bestimmungen des Gründungsvertrags des Unionsstaates« ausarbeiten sollte. Das Dokument sollte am 8. Dezember 2019 unterzeichnet werden (ebenfalls in symbolischer Synchronisierung am Datum der Belowescher Abkommen).

Im Laufe der Arbeit an diesem Programm ergaben sich Differenzen hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung der Integration. Die russische Seite ging davon aus, dass die Integration politischer Natur und mit der Schaffung von einheitlichen Verwaltungsorganen verbunden sein sollte. Die belarusische Seite war mit einem solchen Ansatz jedoch nicht einverstanden. Daher konnte das Programm nicht zum geplanten Datum fertiggestellt werden. Der Inhalt des Programms war nicht öffentlich, daher sind die Details des Verhandlungsprozesses nur äußerst schwer nachzuvollziehen. Im Laufe des Jahres 2019 wurde lediglich eine Reihe von Roadmaps erörtert. Diese Bezeichnung wurde für die Unionsprogramme zu den verschiedenen Bereichen verwendet, die das Integrationsprogramm umfassen sollte. Selbst die Liste dieser Roadmaps war dem breiteren Publikum nicht sonderlich bekannt. Geht man von den offiziellen Erklärungen aus, ergibt sich, dass es sich um insgesamt 31 handelte.

Dmitrij Medwedew erklärte am 23. Dezember 2019, dass es für Belarus erst dann zusätzliche wirtschaftliche Unterstützung geben werde, wenn die Roadmaps umgesetzt sind. Als Reaktion hierauf lehnte Aljaksandr Lukaschenka jede Diskussion hinsichtlich einer Schaffung von supranationalen Organen zum Schaden der nationalen Souveränität ab.

Lukaschenka formulierte ein Paket nationaler wirtschaftlicher Interessen, das er mehrfach bekanntgab: Reduzierung der Gaspreise auf das Niveau, das im russischen Smolensk besteht; Öffnung der russischen Märkte für Waren aus Belarus; und Kompensation für das russische »Steuermanöver«. Aus Sicht der russischen Verhandlungsführer:innen sind drei Fragenblöcke am schwierigsten: die zum Öl, zum Gas und zu den Steuern. In der Folge kam es bei den Verhandlungen zu einer Pause, die von Dezember 2019 bis September 2020 dauerte.

Wegen der politischen Krise in Belarus (durch die Massenproteste im Herbst 2020 und dem Problem der Anerkennung Lukaschenkas als Präsident des Landes) war für Minsk die Bewegungsfreiheit bei den Verhandlungen mit dem Kreml nun stärker eingeengt. Wladimir Putin hatte Lukaschenka politisch und finanziell beträchtliche Unterstützung gewährt. Eines der Ziele dieser Unterstützung war eine weitere Umsetzung der Strategie zu einer Erneuerung der Unionsstaates. Diese Rechnung ging auf und bereits im September 2020 wurden die Verhandlungen über die Roadmaps wieder aufgenommen.

Am 23. April 2021 wurden die ersten Verhandlungsergebnisse bekanntgegeben. Die Regierungschefs von Russland und Belarus unterzeichneten die Entwürfe von 26 der 28 Roadmaps. Auf zwei der Roadmaps, nämlich die zur Vereinheitlichung der Steuer- und der Zollgesetzgebung hatte man sich noch nicht einigen können. Am 10. September 2021 wurde im Rahmen einer gemeinsamen Erklärung der beiden Regierungschefs auf dem Informationsportal der russischen Regierung kurz der Inhalt der 28 Roadmaps veröffentlicht.

Die Roadmaps des Unionsstaates: Besteht eine Gefahr für die Souveränität?

Am 4. November 2021 fand die Unterzeichnung des Dekrets Nr. 6 des Obersten Staatsrates des Unionsstaates »Über die wichtigsten Richtungen der Umsetzung der Bestimmungen des Vertrags über die Gründung eines Unionsstaates für die Jahre 2021 bis 2023«. Darin werden die wichtigsten Richtungen der aktuellen belarusisch-russischen Integration festgelegt, in deren Rahmen die Unionsprogramme aufgeführt werden, die in der Öffentlichkeit als Roadmaps bekannt sind. Insgesamt wurden sieben Richtungen unterschieden:

  1. Verfolgung einer einheitlichen makroökonomischen Strukturpolitik und Schaffung eines gemeinsamen Finanzmarktes.
  2. Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes und Gewährleistung gleicher Bedingungen für unternehmerische Betätigung.
  3. Harmonisierung der Steuer- und Zollgesetzgebung. Durchführung einer einheitlichen Steuerpolitik wie auch einer einheitlichen Handels-, Zoll- und Tarifpolitik in Bezug auf Drittländer, Internationale Organisationen und Zusammenschlüsse.
  4. Erstellung und Umsetzung eines Haushalts des Unionsstaates.
  5. Durchführung einer abgestimmten Politik in den Bereichen Arbeitsschutz, soziale Sicherung der Bevölkerung und Rentenversorgung.
  6. Vereinheitlichung der Zivilgesetzgebung und Festlegung der Grundlagen für die Schaffung von Eigentum des Unionsstaates.
  7. Sicherstellung, dass die Bestimmungen des Vertrags über die Gründung eines Unionsstaates vom 8.12.1999 und Stärkung der russisch-belarusischen Zusammenarbeit umgesetzt werden.

Das Dekret enthält eine detaillierte Beschreibung der 28 Unionsprogramme (Roadmaps). Das Dokument geht von einer Umsetzung bis zum 31. Dezember 2023 aus. Einige Richtungen, insbesondere die zur Steuer- und Zollgesetzgebung, weisen einen genaueren Zeitplan auf. In den Roadmaps werden die Etappen der Umsetzung genannt, die verantwortlichen Seiten, die nationalen normativen Gesetzesakte, die bearbeitet werden sollen (Änderung, Verabschiedung oder Funktion als Grundlage). Nicht alle Roadmaps enthalten diese Merkmale. Es ist geplant, dass sie in der nächsten Phase von 2024 bis 2026 nachgebessert werden.

Von den am stärksten diskutierten Roadmaps lassen sich mit Blick auf eine mögliche Gefahr für einen Souveränitätsverlust für Belarus folgende hervorheben: Das Unionsprogramm zur Annäherung der makroökonomischen Politiken der beiden Staaten; das Unionsprogramm zur Harmonisierung der Steuer- und Zollgesetzgebung von Russland und Belarus und für die Zusammenarbeit im Zollbereich; und das Unionsprogramm zum Aufbau gemeinsamer Märkte für Öl und Ölprodukte.

Unionsprogramm zur Angleichung der makroökonomischen Politiken

Das Programm besteht aus vier Abschnitten: Synchronisierung des strategischen Managements; institutionelle Absicherung zur Unterstützung und Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen; Harmonisierung und Synchronisierung der Ansätze zur Zusammensetzung offizieller statistischer Informationen; und Harmonisierung der Verfahrenssysteme für Insolvenzen und Bankrotte in Russland und Belarus. Die stärksten Befürchtungen werden von der Frage der Synchronisierung des strategischen Managements hervorgerufen. Im Rahmen der Implementierung des Unionsprogramms zur Angleichung der makroökonomischen Politiken der beiden Länder ist ein »Abkommen zwischen der Regierung der Russischen Föderation und der Regierung der Republik Belarus über das Verfahren zur Ausarbeitung von Prognosen zur sozioökonomischen Entwicklung des Unionsstaates und zur informationellen Zusammenarbeit bei wirtschaftlichen Fragen« ratifiziert worden und in Kraft getreten, das im Zusammenhang mit dem strategischen Management steht. Gemeint ist hier die Schaffung eines Planungssystems auf Unionsstaatsebene sowie die Entwicklung gemeinsamer Entwicklungsindikatoren zur Projizierung in den Bereichen Finanzen und Produktion. Insgesamt erinnert das an eine Wiederauferstehung der Planungsbehörde »Gosplan« aus sowjetischer Zeit.

Unionsprogramm zur Harmonisierung der Steuer- und Zollgesetzgebung von Russland und Belarus und für die Zusammenarbeit im Zollbereich

Das ist das umstrittenste und sensibelste Programm, wenn es um die Frage der nationalen Souveränität geht. Hier werden folgende Hauptphasen festgelegt: Nachverfolgung der Geschäftsprozesse bei der Verarbeitung der Mehrwertsteuer und der Akzisen sowie Ausarbeitung eines integrierten Systems zur Administrierung mittelbarer Steuern (russ. Abk.: ISA KNN); Ausarbeitung eines Zwischenstaatlichen Vertrags zwischen Russland und Belarus über allgemeine Prinzipien der Besteuerung durch indirekte Steuern (betreffend die Mehrwertsteuer und die Akzisen).

Im Rahmen dieses Unionsprogramms ist eine ganze Reihe grundlegender bilateraler Abkommen vorgesehen, die die Errichtung eines gemeinsamen Steuer- und Zollraumes vorsieht. Die Steuergesetzgebung im Bereich der indirekten Steuern sollte im Weiteren als Modell für die übrigen Steuerkategorien dienen. Die Unterzeichnung dieser Roadmap sorgte und sorgt weiterhin für heftigen Streit. 2022 wurde der »Vertrag zwischen der Russischen Föderation und der Republik Belarus über die Harmonisierung der Zollgesetzgebung der Russischen Föderation und der Republik Belarus und die Zusammenarbeit im Bereich des Zollwesens« vom 4. März 2022 (wird vorläufig ab dem 15. März 2022 angewandt) unterzeichnet und ratifiziert.

Ende 2022 und Anfang 2023 ist eine beschleunigte Umsetzung des Unionsprogramms zur Harmonisierung der Steuer- und Zollgesetzgebung zu beobachten. Unter anderem wurde der Vertrag über die gemeinsamen Grundsätze der Besteuerung durch indirekte Steuern im Dezember 2022 von beiden Seiten ratifiziert. Da nun die rechtliche und normative Basis geschaffen war, besteht die nächste Phase in der Frage nach einer Schaffung einer überstaatlichen Steuerbehörde und der Einrichtung eines tatsächlich integrierten Verwaltungssystems.

Die Schaffung einer solchen Steuerbehörde ist nicht der wichtigste Indikator zur Abschätzung der Gefahr für die belarusische Souveränität. Sehr viel wichtiger ist, dass ein Integriertes System zur Verwaltung der indirekten Steuern (russ. Abk.: ISA KNN) eingerichtet werden soll. Die russischen Behörden würden mit Hilfe des ISA KNN Zugang zu Informationen über indirekte Steuern erhalten, die mit den russischen [Informationen] synchronisiert werden sollen. De facto bedeutet das einen Angriff auf die wirtschaftliche Souveränität von Belarus.

Die Frage ist jedoch, warum Lukaschenka und seine Minister auf diesen Schritt zur Aufgabe von Souveränität in sehr speziellen Verwaltungsbereichen eingingen, nämlich im Zoll- und Steuerwesen. Die Antwort ist recht einfach: Das Problem besteht darin, dass die Umsetzung dieser Roadmap mit der Implementierung einer anderen Roadmap synchronisiert ist (s. unten).

Unionsprogramm zur Schaffung einheitlicher Märkte für Öl und Ölprodukte

Dieses Programm sieht vier Phasen der Umsetzung vor. Entscheidend sind die erste und die vierte. Die erste Phase sieht die Ausarbeitung und Verabschiedung eines Entwurfs für einen zwischenstaatlichen Vertrag vor. Unter den Bedingungen war auch die, dass das Verbot für die Ausfuhr von Ölprodukten aus der Russischen Föderation in die Republik Belarus bis zum 31. Dezember 2024 über die indizierten Balancen (Protokolle) hinaus bestehen bleibt. Die vierte Phase dieses Programms unterstreicht seine Besonderheit dadurch, dass es zusammen mit dem Steuerprogramm ein Paket bildet. Das heißt, ein Abschied von oder eine Kompensation für das von Russland verabschiedete Steuermanöver würde mit der Umsetzung des Steuerprogramms synchronisiert. Das würde die Einführung eines integrierten Systems zur Verarbeitung der indirekten Steuern bedeuten. Die russische Seite, die auf eine Unterzeichnung der Steuer-Roadmap auf informeller Ebene hinarbeitete, gab Erklärungen heraus, die eine mögliche Abschaffung des »Steuermanövers« andeuteten. So erklärte Aleksandr Nowak, einer der stellvertretenden Ministerpräsidenten Russlands, beispielsweise am 21. März 2022, dass eine Abschaffung des Steuermanövers vor 2024 in Betracht gezogen werde.

Daher wurde die Gefahr für die nationale Souveränität, insbesondere im Bereich der Steuer- und Zollgesetzgebung, von Lukaschenka nicht als vorrangig erachtet. Für ihn war es sehr viel wichtiger, Öl zu Vorzugspreisen zu erhalten, um die Einnahmeseite des Haushalts im Sinne des eigenen, persönlichen Machterhalts zu gewährleisten.

Roadmaps und belarusische Beamten

Die Haltung zu den Roadmaps des Unionsstaates unter den belarusischen Beamt:innen und Unternehmer:innen könnte auch positiv ausfallen. Der wichtigste Grund für eine solche positive Haltung waren die relativ »liberalen« Bedingungen für den Handel und das Finanzwesen. Da die meisten Veränderungen in der belarusischen Gesetzgebung vorgenommen werden sollen, wird also das russische Modell als Grundlage genommen. Die russischen Gesetze, die die Bereiche Handel und Finanzen regulieren, sind hier vorteilhafter als die belarusischen.

Ein weiteres Beispiel sind Roadmaps wie das Unionsprogramm zur Vereinheitlichung der Anforderungen bei der Organisation und Durchführung von Handelstätigkeit und das Unionsprogramm zur Harmonisierung der Geld- und Kreditpolitik sowie der makroprudenziellen Regulierung. Gemäß dem erstgenannten Unionsprogramm wird die Frage der Erteilung von Genehmigungen auf die lokale Ebene verlagert, was zweifellos die Attraktivität für lokale Eliten erhöht. Gemäß dem zweitgenannten Unionsprogramm würde die Nationalbank der Republik Belarus eine größere Selbständigkeit oder gar eine Autonomie erhalten, und die Geld- und Kreditpolitik würde eine festere institutionelle Basis erlangen.

Da sich aber nun Aljaksandr Lukaschenka gegen eine Liberalisierung der Wirtschaft wendet, könnte die russische Seite diese Roadmaps in ein Druckmittel verwandeln, mit dem sie Zugeständnisse in anderen für sie interessanten Bereichen erzwingen kann. Darüber hinaus könnten diese Roadmaps zum Anlass werden, dass es zu einer Spaltung zwischen den Verwaltungs- und den Wirtschaftseliten in den belarusischen Regionen kommt. Das lässt sich ebenfalls als gewisser Faktor betrachten, der die Souveränität bedroht.

Integration im Unionsstaat – wie weiter?

Der Prozess der Umsetzung der Roadmaps von November 2021 bis Januar 2023 ging uneinheitlich vonstatten. Hinsichtlich der Anzahl sind sieben der 28 Roadmaps vollständig umgesetzt. Hierbei handelt es sich aber nicht um grundlegende Unionsprogramme. 18 der Roadmaps werden also nur mit einer Verspätung umgesetzt. Allerdings stellen gerade diejenigen Roadmaps Risiken für die Souveränität dar, die mit recht hohem Tempo umgesetzt werden. Wie bereits erwähnt, sind dies die Programme zur Vereinheitlichung der Zoll und Steuergesetzgebung sowie der makroökonomischen Steuerung. Es ist bei der Umsetzung der Roadmaps zur Integrierung der Zahlungssystem eine Verzögerung zu beobachten, die auf die verhängten Sanktionen gegen Russland und Belarus zurückzuführen ist. Darüber hinaus ist praktisch nur bei folgenden Unionsprogrammen mit der Arbeit begonnen worden, nämlich bei dem Programm zur Schaffung eines gemeinsamen Marktes und dem zur Abstimmung der jeweiligen Sozial- und Beschäftigungspolitik.

Ausgehend von den bisherigen Ausführungen lässt sich prognostizieren, dass es in den Bereichen, die weder für Minsk noch für Moskau von Interesse sind zu Verzögerungen kommen wird. Dabei dürften die Roadmaps, die die größte Bedrohung für die belarusische Souveränität darstellen, unter beträchtlichem Druck und auch im Tausch gegen Vorzugspreise für Öl und Gas im Laufe des Jahres 2023 umgesetzt werden.

Ende 2023 wird wohl die Vorstellung neuer Roadmaps für eine weitere »Integration« erfolgen. Und diejenigen, die noch nicht umgesetzt sein wurden, werden wohl in die zweite Phase von 2024 bis 2026 verschoben.

Auch wenn eine Liste neuer Unionsprogramme bereits erörtert wird, gibt es in der Öffentlichkeit leider keine Informationen darüber, wann sie vorgestellt wird. Daher ist nur schwer zu beurteilen, welche Richtung die »Integration« im weiteren Verlauf nehmen wird.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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Von Siarhei Bohdan, Pavel Matsukevich, Katsiaryna Shmatsina, Artyom Shraibman, Roza Turarbekova
Sechs Fragen an fünf Expert*innen Am 10. Oktober kündigte Aljaksandr Lukaschenka die Bildung eines gemeinsamen Truppenverbands mit Russland an. Diese Nachricht hat viel Aufmerksamkeit in den Medien sowie in Expertenkreisen verursacht. Wir haben sechs Fragen zu diesem Thema an fünf Expert*innen gestellt. Ihre Antworten finden Sie in unserer neuen Rubrik »Kurz nachgefragt«.
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