Belarus-Analysen

Ausgabe 61 (26.07.2022), S. 7–11

Die Wissenschaft in Belarus zwischen Repression und Emigration

Von Roza Turarbekava (Expertin für Politik in Eurasien und Aktivistin der Freien Gewerkschaft der Mitarbeiter*innen der Belarusischen Staatlichen Universität)

Zusammenfassung
In dem Beitrag wird die Situation von Vertreter*innen der Wissenschaft seit dem August 2020 bis zum Juli 2022 skizziert. Die Folgen der politischen Ereignisse des Jahres 2020, der Präsidentschaftswahlen, der Massenproteste, der Gewalt gegen die Demonstant*innen, des Aufschwungs der Zivilgesellschaft und der Solidaritätsaktionen werden am Beispiel des Aktivismus von Vertreter*innen der Wissenschaft besonders deutlich. Die Repressionen der Regierung gegen die Universitäten zogen zwei negative Entwicklungen nach sich: massenhafte Entlassungen und eine massive politisch motivierte Emigration.
Die Analyse umfasst statistische Daten zur Emigration sowie die Ergebnisse vertraulicher Interviews mit Studierenden und Lehrkräften. Darüber hinaus wird ein Überblick über Änderungen im Strafrecht gegeben, die auf eine Fortsetzung der Verfolgung von politischen Emigrant*innen abzielen.

Repressionen in den Universitäten als Migrationsfaktor

Die belarusische Gesellschaft erfährt seit Juli/August 2020 eine soziale Transformation. Die Präsidentschaftswahlen vom 9. August waren von massiven Wahlfälschungen geprägt, was zu Straßenprotesten, deren gewaltsamer Zerschlagung sowie als Antwort hierauf zu einem massiven Ausbruch weiterer Proteste führte, auf die das Regime mit intensiven Repressionen reagierte.

Zu den aktivsten Bevölkerungsgruppen, die sich an den Protesten im Herbst 2020 beteiligten, gehörten die Studierenden und Lehrkräfte der belarusischen Universitäten. Im September und Oktober 2020 fanden vier große Demonstrationen von Studierenden statt (1.09, 4.09, 5.09, 26.10). Die meisten Teilnehmer*innen gab es am 1. September und am 26. Oktober. Während der Demonstrationszüge der Studierenden kam es zu brutalen Festnahmen; die Sicherheitskräfte prügelten auf die Demonstrant*innen ein. Hunderte Studierende wurden während der Aktionen festgenommen (415 Personen). Nach der Verurteilung zu Administrativarrest oder Geldstrafen wurden in den sechs Monaten von September 2020 bis Februar 2021 nicht weniger als 138 Studenten zwangsexmatrikuliert und 15 Lehrkräfte entlassen. Diese Daten wurden von den Studierendenorganisationen der Vereinigung belarusischer Studierender (belar.: »Sadzinotschanne belaruskich studentau«) und der Studentischen Initiativgruppe gesammelt.

Am 12. November wurden 12 Personen (11 Studierende und eine Lehrkraft) verhaftet, und zwar aufgrund eines Strafverfahrens wegen »der Organisation und Vorbereitung von Handlungen, die in grober Weise die öffentliche Ordnung verletzen«. Hiermit begann die strafrechtliche Verfolgung der Aktivist*innen, die im »Studentenverfahren« angeklagt waren. Der Strafprozess dauerte ein halbes Jahr und im Mai 2021 befand das Gericht die Angeklagten für schuldig.Sie wurden sämtlich von Menschenrechtsorganisationen als politische Gefangene anerkannt. Insgesamt wurden 27 Personen strafrechtlich verfolgt. Dabei hatten sich Vertreter*innen der Wissenschaft in Gestalt von Lehrkräften und Universitätsprofessor*innen in mehreren Videobotschaften gegen Gewalt und gegen die Verfolgung von Studierenden und von ihren Kolleg*innen gewandt.

Das System der Repression ist in den belarusischen Universitäten spätestens mit Einführung der Institution eines für Sicherheitsfragen zuständigen stellvertretenden Rektors etabliert worden. Diese Vizerektoren sind Offiziere des belarusischen KGB und haben bei Personalfragen volle Entscheidungsmacht. Ihre Integration in das System der Universitätsverwaltung hatte im Oktober 2020 begonnen. Und es ist ihre Stimme, die heute entscheidend ist, wenn es um die Entlassung oder Anstellung von Professoren oder Lehrkräften geht. Alle weiteren Repressionen in der Wissenschaft hängen mit ihrer Tätigkeit zusammen.

Eines der Probleme bei der Erforschung der Repressionen in der Wissenschaft besteht in der Schwierigkeit, hinreichend Informationen zu erlangen. Probleme ergeben sich auch aus der Zerschlagung von Menschenrechtsorganisation, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gewerkschaften, die unabhängig vom Staat agieren. Selbst unter der Bedingung der Anonymität haben die Betroffenen Angst, von einem Druck auf sie oder von einer Entlassung zu berichten. So endete die Informationserhebung (unter Angabe von Daten zur Person) durch die Freie Gewerkschaft der BGU-Mitarbeiter (BGU – Belarusische Staatliche Universität; Anm. d. Red.) im Winter 2021/22 – während der zweiten Entlassungswelle – bei 50 aus politischen Motiven Entlassenen, obwohl es wahrscheinlich, nach groben Schätzungen, 100 Entlassungen gegeben hat. Die dritte Entlassungswelle, die im Frühjahr 2022 begann, ist noch umfangreicher als die zweite. Die Erhebung von Informationen ist extrem schwierig geworden, weil Aktivist*innen der Freien Gewerkschaft mit Repressionen überzogen werden. Ein großer Teil von ihnen hat erzwungenermaßen das Land verlassen. Gleichwohl stehen einschlägigen Daten zufolge (die Informationen stammen von einer vertraulichen Quelle) in der BGU im Bevorstehenden Studienjahr 2022/23 über 200 Lehrkräfte vor der Entlassung. Die Freie Gewerkschaft der BGU-Mitarbeiter hat mit Stand vom 12. Juli 74 Entlassungen registriert.

Die wahren Dimensionen der Repressionen und einer möglichen Migration von Vertreter*innen der Wissenschaft lassen sich anhand von Informationen erkennen, die die Initiative SCIENCE AT RISK Emergency Office der deutschen NGO Akademisches Netzwerk Osteuropa (AKNO) sammelt. Dort sind Hilfsanträge von 1.400 Studierenden und Lehrkräften aus Belarus eingegangen, die angeblich politisch verfolgt wurden.

Die Entlassungen erfolgen unter dem Anschein einer »einvernehmlichen Einigung«, den »Arbeitsvertrag nicht zu verlängern«. In der Regel werden jedoch gerade diejenigen entlassen, die gegen die Wahlfälschungen, gegen die Gewalt der Sicherheitskräfte und jetzt gegen den Krieg aufbegehrt haben. Sämtliche Lehrkräfte und Studierende, die in Videobotschaften, in den offenen Briefen vom Herbst 2020 oder bei den Demonstrationen im September bis November 2020 identifiziert worden waren, wurden entlassen bzw. zwangsexmatrikuliert – oder flohen von selbst vor der Verfolgung. Da die Proteste massenhaft waren, galt das Gleiche für die Repressionen. Ein weiterer Anlass für Repressionen war der öffentliche Protest gegen den Krieg während des Referendums am 27. Februar 2022. Alle, die dort zu Administrativhaft verurteilt wurden, erlitten Folter und erniedrigende Behandlung, besonders in Minsk. Angesichts des anhaltenden staatlichen Terrors kommt es im frei denkenden Teil der Wissenschaft zu einem politisch motivierten Emigrationsprozess.

Fallstudien: Ergebnisse der Interviews

Die politisch motivierten Entlassungen von Lehrkräften sind derart organisiert, dass die meisten Betroffenen anschließend keine Arbeit finden können, weil die Entlassung in der Praxis mit einem Arbeitszeugnis einhergeht: Früher wurden die Arbeitszeugnisse den Entlassenen ausgehändigt; seit dem Jahr 2020 jedoch werden sie von potenziellen neuen Arbeitgebern angefordert. Alles ist so eingerichtet, dass ein möglicher neuer Arbeitgeber keinen »problematischen« Mitarbeiter einstellen will. Eine politisch motivierte Entlassung durch die Universität kommt praktisch einem Berufsverbot gleich. In seltenen Fällen gelingt es entlassenen Lehrkräften, eine Anstellung bei einer der privaten Hochschulen zu erhalten, von denen es in Belarus allerdings nur noch wenige gibt. Somit führt eine Entlassung nicht selten zur Emigration, weil die Betroffenen gezwungen sind, im Ausland Arbeit suchen. Diese Emigration ist insgesamt politisch motiviert. Nicht selten wird die strafrechtliche Verfolgung fortgeführt, obwohl die Betroffenen bereits emigriert sind. Um diesen Prozess qualitativ einordnen zu können, habe ich vier Vertreter*innen der Wissenschaft interviewt (zwei Lehrkräfte und zwei Studierende), die zu unterschiedlichen Zeitpunkten genötigt waren, das Land zu verlassen.

Fall 1

Jurij (Name wurde geändert) war 2020 im vierten Studienjahr und machte 2021 seinen Abschluss an der BGU; er ist 23 Jahre alt. Im Juni 2021 ging er nach Polen. Er studiert dort weiter in Katowice, und zwar in einem Masterprogramm in dem Fach, in dem er in Minsk seinen Bachelor abgeschlossen hat. Als einen der Faktoren, die ihn zu einer Ausreise bewogen haben, nennt er: »[…] das akute Gefühl, dass ich selbst physisch nicht sicher (gefährdet) bin, wenn ich im Land bleibe«. Darüber hinaus verwies er auf »das völlige Fehlen von Menschenrechten und all dem, was in der Verfassung geschrieben steht«. Jurij war bei einem der Studierendenmärsche im September 2020 festgenommen und zu Administrativhaft verurteilt worden (10 Tage im Zentrum zur Isolierung von Gesetzesbrechern Nr. 36, »Okrestina«). Er berichtete, dass oft Angehörige der Miliz kamen, um ihn zu kontrollieren, und dass sich seine Situation wegen der Wehrersatzämter verschärfte. Zu Weihnachten (am 25. Dezember 2020) versuchte man, ihn rechtswidrig auf die Milizwache zu bringen, als er mit dem Hund spazieren ging. Daraufhin beschloss er endgültig, auszureisen. Es gab Schwierigkeiten, als er die Papiere für die Ausreise beantragte. Da es vorübergehend Beschränkungen für eine Ausreise zu touristischen Zwecken gab und die Beantragung eines humanitären Visums mit Gefahren verbunden war (man hätte ihm als Aktivisten die Ausreise verwehren können), musste er ein zeitlich begrenztes Studierendenvisum beantragen. Nach Jurijs Ansicht sind die Ausmaße der belarusischen Emigration »riesig«, so um die 300.000 Personen. Das sei weniger Arbeitsmigration als vielmehr eine politische. Seiner Ansicht nach könnten zwei Drittel aller belarusischen Emigrant*innen nach Polen gegangen sein. Die wichtigsten Zielorte seien Gdańsk, Warschau, Kraków, Poznań und Lublin. Jurijs Worten zufolge gehen mehr Leute in den polnischen Nordwesten, wo man Arbeit finden kann. Der Markt habe sich nach Wegfall der ukrainischen Männer geleert (auf dem Bau, bei der Saisonarbeit, im Transportwesen). Und nach dem 24. Februar habe sich die Haltung gegenüber Belarus*innen »sehr stark« verändert. Es gebe ein Mobbing aufgrund der Sprache. Der Status von Belarus als Mitaggressor [gegen die Ukraine] habe sich in Polen stark darauf ausgewirkt, wie Belarus*innen wahrgenommen werden. Jurij hat persönlich physische Auseinandersetzungen mit Pol*innen erlebt. So wurde er etwa aus einem Taxi geworfen. Er hat als Freiwilliger an der polnisch-ukrainischen Grenze gearbeitet. Dort hat er mehrfach mitbekommen, wie Belarus*innen gemobbt wurden. Er erklärt das mit dem Bildungs- und Kenntnisstand der Bevölkerung vor Ort.

Fall 2

Aleksandr (Name wurde geändert), 53 Jahre alt, Dozent an der BGU. Er ging im August 2021 nach Israel. Aleksandr ist ein erfolgreicher Forscher im Bereich der Naturwissenschaften, verfügt über vielfältige Erfahrung mit der Arbeit in Laboratorien von Forschungsinstituten und Bildungseinrichtungen. Seine letzte Anstellung vor der Ausreise war als Dozent an einem Lehrstuhl der BGU. Aleksandr ist einer der ganz wenigen, die die Universität freiwillig verließen; beruflich hat er sich in Israel erfolgreich integriert. Während des Interviews sprach er unumwunden von den Gründen für seinen Weggang von der BGU und die Ausreise: »In näherer Zukunft war beruflich keine Perspektive zu erkennen. Dafür gab es professionelle und politische Gründe«. Auch wenn er selbst noch keinen Druck verspürte, ging er davon aus, dass dieser wegen seiner Tätigkeit in der Freien Gewerkschaft der BGU-Mitarbeiter in zwei bis vier Monaten beginnen würde. Nach Aussage von Aleksandr hat sich diese Prognose bestätigt. Seine Mitstreiter*innen in der Gewerkschaft wurden verfolgt und im Dezember 2021 entlassen. Er selbst verließ das Land im August 2021. Seiner Ansicht nach sind die Ausmaße der belarusischen Emigration nach Israel durchaus sichtbar. Seine Einschätzung nahm er anhand der Sprachgruppen vor, in denen Hebräisch unterrichtet wird. Die israelischen Behörden hätten die Ausmaße der Immigration aus Belarus im Jahr 2021 auf 4.000 bis 5.000 geschätzt, sagt er. Bei der Ausreise hatte er keine Schwierigkeiten. Das Procedere lief standardmäßig ab und er konnte in Israel nach dem 24. Februar keinerlei Anzeichen einer Diskriminierung von Belarus*innen feststellen.

Fall 3

Anton (Name wurde geändert), 22 Jahre alt, Student an der BGU im vierten Studienjahr, hat das Studium unterbrochen und wurde wegen seiner Flucht exmatrikuliert. Er ging im März/April 2022 nach Georgien und im April 2022 nach Litauen. Er begann in Litauen ein Studium, allerdings nicht in seinem Fachgebiet. Nach Antons Angaben ist er offiziell deshalb exmatrikuliert worden, weil er die letzten Prüfungen und das Diplom nicht abgelegt habe. Anton floh aus dem Land, weil eine Mobilisierung zur belarusischen Armee drohte. Er beschrieb seinen Fall und berichtete, dass er wegen seines aktiven Engagements, das von den Behörden schon im Herbst 2020 festgestellt worden war, unter Beobachtung stand. Er hatte an einer Reihe von Protestaktionen teilgenommen. Nach den Ereignissen von 2020 hatte der für die Jugendarbeit zuständige stellvertretende Dekan, der Informationen sammelte, ein Auge auf ihn. Insbesondere vor dem Referendum vom 27. Februar 2022 spitzte sich die Lage weiter zu. Anton hob hervor, dass der stellvertretende Dekan ihm am 28. Februar 2022 eine Vorladung ins Wehrersatzamt überbrachte, direkt im Vorlesungssaal. Darüber hinaus erwähnt er, dass seine Mutter einen Monat zuvor aus politischen Motiven von der BGU entlassen worden war. Das Dramatische bestand auch darin, dass enge Verwandte von Anton in Kyjiw lebten, wo sie vor dem Krieg flüchten mussten. Am 1. März flog er Richtung Südosten. Er blieb eine Zeit in Tbilissi, um ein humanitäres Visum nach Litauen zu bekommen. Das war seiner Meinung nach für Belarus*innen eine typische Route, weil es in Minsk wegen der langen Schlangen vor den Konsulaten extrem schwer war, ein Visum zu erhalten. Um nicht in die Fänge der Miliz oder der Armee zu geraten, fliegen junge Menschen, die den Repressionen und/oder der Rekrutierung in die belarusische Armee entrinnen wollen, nach Georgien. Anton schätzt, dass die belarusische Emigration nach Georgien sehr umfangreich ist, besonders nach dem 24. Februar. Ende April erhielt er ein humanitäres Visum nach Litauen und konnte ein Studium an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Vilnius aufnehmen. Bislang studiert er nicht sein Fachgebiet. Er hat vor, nach Polen zu gehen, um dort eine Universität für sein Fachbereich zu finden. Anton war einer der besten Studierenden seiner Fakultät und würde sein Studium gern in seinem Fach fortsetzen. Persönlich hat er kein Mobbing, jedoch bei der Eröffnung eines Bankkontos Diskriminierung erlebt.

Fall 4

Jelena (Name wurde geändert) ist 49 Jahre alt, hat 24 Jahre an einer Universität gearbeitet und war Dozentin an der BGU; sie hat drei Kinder, von denen zwei noch minderjährig sind. Sie ging im Mai 2022 nach Batumi in Georgien. Jelena wurde Ende Januar 2022 entlassen, weil sie als Aktivistin für die Freie Gewerkschaft der BGU-Mitarbeiter tätig war. Bei der Entlassung wurde erheblicher Druck auf sie ausgeübt: Es wurde ihr wegen ihrer Gewerkschaftstätigkeit mit einem Strafverfahren gedroht, und mit Schwierigkeiten für ihre Kinder (das älteste studiert an der BGU). Zwei Mal musste sie sich einer Befragung durch Offiziere des KGB stellen. Als Gründe für ihre Ausreise gab sie an, dass es »unmöglich war, eine Arbeit in meinem Fachbereich zu bekommen, und zwar wegen des [schlechten] Arbeitszeugnisses des Arbeitgebers. Ein weiterer Grund war der Krieg, der in der Ukraine begonnen hatte«. Die Familie ist ab Januar 2022 »stückweise« ausgereist. Zuerst gingen ihr Mann und ihr Sohn, weil eine Mobilisierung in die belarusische Armee drohte, die in den Krieg gegen die Ukraine eintreten könnte (diese Gefahr besteht auch weiterhin). Die Schwierigkeiten bei der Ausreise waren vor allem organisatorischer Natur. Nach Ansicht von Jelena besteht ein erheblicher Teil der Migrant*innen in Batumi aus Belarus*innen. »Alle haben eine gute Bildung, die meisten [sind] mit der ganzen Familie [ausgereist]. Einige ziehen weiter«. Ein Mobbing gegen Belarus*innen hat sie nicht verspürt. Allerdings erwähnt Jelena diskriminierende Maßnahmen gegen belarusische Staatsangehörige, nämlich bei der Eröffnung eines Bankkontos oder der Registrierung einer juristischen Person. Sie erklärt, dass unter ihren persönlichen Bekannten ein Viertel der Belarus*innen emigriert sei. Eine Arbeit in ihrem Fachbereich hat sie noch nicht gefunden. Sie versucht, etwas eigenes aufzubauen.

* * *

Aus den aufgeführten Fällen wird erkennbar, dass sich die Migrationswellen im Bereich der Wissenschaft im Jahr 2021 und im Jahr 2022 zwar voneinander unterscheiden, dass aber insgesamt die Protestaktivitäten der Interviewten und/oder ihrer Familienmitglieder den Anstoß gaben. Die Emigration der Wissenschaftler*innen trägt ganz deutlich politische Züge.

Zielländer: Ungefähre Abschätzung der Ausmaße der belarusischen Migration

Das Nationale Statistikkomitee von Belarus (Belstat) hat zwar seit 2020 keine unmittelbaren Daten über die Migration in Belarus und außerhalb des Landes vorgelegt (das letzte veröffentlichte Demographische Jahrbuch stammt aus dem Jahr 2019), doch gibt es mittelbare Indizien zum Bevölkerungsverlust. Nach Angaben von Belstat betrug am 1. Januar 2022 die Bevölkerungszahl von Belarus 9.255.000 Personen. Ein Blick in das Statistische Jahrbuch 2020 ergibt, dass die Bevölkerung im Laufe von zwei Jahren um 94.000 zurückgegangen ist. Einer der markantesten Rückgänge ist in Minsk zu verzeichnen, wo die Bevölkerung auf 1.996.000 zurückging. Die Hauptstadt war seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kontinuierlich gewachsen, ist aber jetzt keine Zweimillionenstadt mehr.

Experten legen äußerst widersprüchliche Einschätzungen zu den Ausmaßen, der Entwicklung und dem Tempo der Migration vor. Allen Schätzungen ist gemein, dass sie für die Zeit von 2020 bis 2022 von drei Migrationswellen ausgehen (August 2020, Mitte des Jahres 2021 und Frühjahr 2022). Nach Ansicht der Soziologin Oksana Schelest hat sich der Charakter der belarusischen Emigration gewandelt. Wenn es sich früher in den meisten Fällen um Arbeitsmigration handelte, habe man es seit 2020 mit einer politischen Emigration zu tun. Hieraus ergeben sich Schwierigkeiten mit der Berechnung. Schelest erläutert es so: »2020 und 2021 haben die Belarus*innen das Land ohne ein Arbeitsvisum verlassen, und mitunter sogar ganz ohne Visum. Das könnte man berücksichtigen, wenn jemand versuchen würde zu zählen. Und einige sind rundweg auf Umwegen und Partisanenpfaden geflohen. Daher lassen sich weder hinsichtlich der Ausreise aus Belarus, noch bei der Einreise in andere Länder [genaue] Informationen erlangen, wie viele belarusische Staatsangehörige ausgereist und nicht wieder zurückgekehrt sind«. Während der ersten Welle (August/September 2020) sind die Menschen nach Ansicht von Schelest wegen unmittelbar drohender Repression und Verfolgung geflohen. In der zweiten Welle (Mitte 2021) erfolgte die Ausreise wegen der Säuberungen in staatlichen Einrichtungen und der Entlassung von kritisch gesonnenen Mitarbeiter*innen. Schelest erklärt, dass mit der dritten Welle (Frühling 2022) eine Migration von Männern »im erwerbsfähigen Alter« einsetzte, die sich angesichts des Krieges gegen die Ukraine einer möglichen Mobilisierung für die belarusische Armee entziehen wollen. Die oben erörterten Fälle korrelieren mit den hier genannten Gründen und auch mit den Migrationswellen.

Wie wir zuvor bereits sehen konnten, sind Polen, Litauen und Georgien die populärsten Zielländer für politische Migrant*innen aus Belarus. Israel ist aufgrund der ethnischen Selbstbestimmung seltener das Ziel.

Die polnischen Behörden legen von Zeit zu Zeit Informationen zu Emigrant*innen aus Belarus vor. Bis zum März 2022 sind demzufolge 44.000 Genehmigungen für eine Aufenthaltserlaubnis und 58.000 humanitäre Visa erteilt worden; 19.000 Anträge waren noch in Bearbeitung. Insgesamt leben in Polen über 100.000 Belarus*innen (Stand: Dezember 2021).

Litauen hat nach Medienangaben von Anfang 2021 bis Anfang 2022 rund 20.000 Aufenthaltsgenehmigungen und 21.000 humanitäre Visa ausgestellt.

Erklärungen georgischer Offizieller zufolge hat es zwischen dem 24. Februar und dem 16. März 2022 im Vergleich zum gleichen Zeitraum in den Vorjahren zehn Mal mehr Einreisen belarusischer Staatsangehöriger gegeben. Insgesamt seien in drei Wochen 15.777 Personen aus Belarus eingereist. Einen derartig steilen Anstieg habe es nicht einmal bei Ukrainer*innen oder Russ*innen gegeben.

Zu den Eigenheiten der jüngsten belarusischen Emigration gehört auch die Verlegung von Firmen, insbesondere im IT-Bereich. Im Unterschied hierzu sind Vertreter*innen der Wissenschaft meist zutiefst politische Emigrant*innen, die ihre Arbeit oder ihren Studienplatz verloren haben.

Änderungen der Gesetzgebung in Belarus zur fortgesetzten Verfolgung von Politemigrant*innen

Die Verfolgung von Politemigrant*innen wird in Belarus systematisch betrieben. Neben einer Nutzung der Stellen von Interpol, über die eine Auslieferung von Anführer*innen und Aktivist*innen der demokratischen Bewegung angestrengt wird, wurden auch offen rechtswidrige Methoden eingesetzt, etwa die erzwungene Landung des Passagierjets von Ryanair am 25. 2021, durch die Raman Pratassewitsch festgenommen werden konnte. Pratassewitsch war Redakteur des äußerst populären Telegram-Kanals Nexta, der für die Protestbewegung eine sehr wichtige Rolle gespielt hatte.

Zu den ersten normativen Beschränkungen, die eine Ausreise von Belarus*innen aus dem Land verhindern sollte, gehört das temporäre Verbot, Belarus auf dem Landweg zu verlassen. Die Behörden nannten als offizielle Begründung hierfür den Kampf gegen das Coronavirus. In anderen Ländern wurden allerdings im Kontext der Pandemie in der Regel Einreise- und nicht Ausreisebeschränkungen erlassen… Das erwähnte Verbot erstreckte sich nicht auf die Flughäfen, die eh streng kontrolliert werden, und wo die Passagierströme erheblicher geringer sind. Die Verordnung des Ministerrates Nr. 705 vom 07. Dezember 2020, durch die diese temporäre Beschränkung eingeführt worden war, wurde erst nach über einem Jahr aufgehoben, nämlich am 31. März 2022.

Im Sommer dieses Jahres wurden Änderungen am belarusischen Strafgesetzbuch vorgenommen, die auf eine Ausweitung der Verfolgung von Politemigrant*innen abzielen. Am 24. Juni 2022 wurde im Repräsentantenhaus, dem Unterhaus des belarusischen Parlaments, ein Gesetzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuchs verabschiedet. Er sieht Ermittlungen und ein Gerichtsverfahren in Abwesenheit der Angeklagten vor, wenn diese sich außerhalb des Landes aufhalten. Die Institution dieses »Sonderverfahrens« soll bei einer Reihe von Straftaten eingeführt werden, unter anderem bei solchen, die sich »gegen den Staat richten und eine Gefahr für die nationale Sicherheit bedeuten«. Hier ist zu erwähnen, dass die »Gefahr für die nationale Sicherheit« in Belarus äußerst weit ausgelegt wird.

Darüber hinaus wurde am 6. Juli im Republiksrat, dem Oberhaus des Parlaments, erörtert, ob in das Gesetz »Über die Staatsbürgerschaft der Republik Belarus« eine Bestimmung aufgenommen werden soll, die den Entzug der Staatsbürgerschaft für Personen vorsieht, die als extremistisch eingestuft wurden. Auch hier sei darauf verwiesen, dass das Verzeichnis der als »extremistisch« eingestuften natürlichen und juristischen Personen überaus lang ist und auch Journalist*innen, Expert*innen, zivilgesellschaftliche Aktivist*innen, Politiker*innen und Gewerkschaftler*innen umfasst.

Schlussfolgerungen

Die Massenproteste 2020 in Belarus haben systematische, breitangelegte Repression nach sich gezogen. Vertreter*innen der Wissenschaft sind eines der Ziele dieser Unterdrückung und Verfolgung. Als Folge der gewaltsamen Zerschlagung von Versammlungen, der Festnahmen, der strafrechtlichen Verfolgung, der Entlassungen und Berufsverbote werden Lehrkräfte und Studierende der belarusischen Universitäten nicht selten zu Politemigrant*innen. Sie bleiben jedoch selbst in der relativ sicheren Umgebung der Emigration im Blickfeld des Regimes in Belarus und können verurteilt werden oder ihre Staatsangehörigkeit verlieren, und zwar ohne eine Möglichkeit, sich selbst oder die eigenen Rechte zu verteidigen.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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Analyse

»Der Genozid am Belarusischen Volk« als politischer Diskurs und Strafverfolgungspraxis

Von Felix Ackermann
In diesem Beitrag wird die Verbindung zwischen offizieller Geschichtspolitik der Republik Belarus und der Verfolgung von Anhängern:innen der Protestbewegung beleuchtet. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie das sowjetische Narrativ vom Genozid am belarusischen Volk infolge der Massenproteste nach dem Spätsommer 2020 aktualisiert wurde, um es ideologisch, politisch und juristisch gegen Oponent:innen des Regimes von Aljaksandr Lukaschenka zu richten. Im Frühjahr 2021 nahm die daraus resultierende aktive Verfolgung eine neue Wendung gegen die polnische Minderheit innerhalb der Republik Belarus.
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