Belarus-Analysen

Ausgabe 52 (11.11.2020), S. 19–20

Russland gegen das Volk von Belarus – bahnt sich eine geopolitische Revolution an?

Von Ryhor Nizhnikau (Finnish Institute of International Affairs, Helsinki)

Die belarusische Gesellschaft gilt traditionellerweise als prorussisch eingestellt. Seit dem Beginn der belarusisch-russischen Integrationsprojekte in der Mitte der 1990er Jahre wird der russische Einfluss in Belarus nicht nur mit Russlands finanziellem und wirtschaftlichem Einfluss, einer Militärkooperation und dem moskautreuen Präsidenten Lukashenko begründet, sondern auch mit den engen sprachlichen und kulturellen Verbindungen beider Gesellschaften. Russland galt als engster Freund und wichtigster außenpolitischer Partner von Belarus.

Zwei Faktoren überschatteten jedoch Russlands sanfte Macht in Belarus. Zum einen verfolgte Russland keine klar definierte Politik der Anziehung gegenüber der belarusischen Gesellschaft. Die Prioritäten der russischen Politik waren traditionell vielmehr die wirtschaftliche und politische Integration, wobei beide Bereiche von der Zusammenarbeit mit Lukashenko abhängig waren, dessen Verbindung zur und dessen Einfluss auf die belarusische Gesellschaft als selbstverständlich galten. Entsprechend wurde die Werbung für Moskaus Beliebtheit in der Öffentlichkeit de facto an Lukashenko outgesourct, der damit zum wichtigsten Sprachrohr von Russlands sanfter Macht in Belarus wurde. Lukashenko verband seine Staatsideologie mit Russland, förderte die russische Sprache, kontrollierte die Belarusisch-Orthodoxe Kirche und unterdrückte gesellschaftliche Kräfte, die sich belarusischer Sprache und Kultur und dem belarusischen Erbe verschrieben hatten. Enge wirtschaftliche Verbindungen, Migrationsmöglichkeiten und persönliche Verbindungen machten Russland zum wichtigsten Arbeits- und Reiseziel der Menschen in Belarus. Dass die belarusische Gesellschaft trotz ihrer starken Verbindungen nach Russland de facto ambivalent verfasst und sowohl prorussisch als auch pro EU eingestellt war, kam als zweiter die russische Macht limitierender Faktor hinzu. Meinungsumfragen zeigen, dass die Belarussen am liebsten gute Beziehungen und Verbindungen nach Russland und auch in die EU unterhalten hätten.

Als die Verhältnisse sich änderten, ließ die Beliebtheit Russlands in Belarus nach. So überprüfte Lukashenkos Regime seine Ideologie nach dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine und versuchte, sich von einem dominanten Moskau und dessen »russischer Welt« abzusetzen. Prorussische Ideologen wurden aus dem Präsidentenapparat entlassen, staatliche Massenorganisationen neu aktiviert. Auch der belarusische Nationalgedanke wurde neu definiert und an die Stelle ostslawischer Zivilisierung als Wiege der Nation und der Integration in den postsowjetischen Raum trat die Verteidigung der belarusischen Souveränität. Das Regime änderte seine Haltung zur belarusischen Sprache und Kultur, beschränkte die Aktivitäten prorussischer Gruppen und Medien und stärkte die Zivilgesellschaft in der Beförderung belarusischer Kultur und Identität.

Außerdem wandelte sich auch die Gesellschaft mit ihren Einstellungen. Sie entwuchs der Sowjetnostalgie der 1990er Jahre, erlebte den Wirtschaftsboom der 2000er Jahre und durchlief in den 2010er Jahren eine gesellschaftliche Modernisierung, in deren Verlauf sich Wertvorstellungen und Wünsche veränderten. Heute sehen die Menschen Belarus zunehmend als modernes europäisches Land, lokale Meinungsmacher fühlen sich nicht mit Russland, sondern mit Mittelosteuropa stark verbunden. Gleichzeitig vollzog sich in Russland ein konservativer Turn, der sich gegenläufig zu der wachsenden Unterstützung für Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Selbstverwirklichung in der belarusischen Gesellschaft verhielt.

Entsprechend wuchs die Unterstützung für die belarusische Unabhängigkeit kontinuierlich. 1999 ermittelte das Independent Institute of Socio-Economic and Political Studies IISEPS, dass genauso viele Belarussen eine hypothetische Vereinigung mit Russland befürworteten wie ablehnten. 2019 stellte das regimefreundlich eingestellte Institut dann fest, dass nur noch 7,7 Prozent einem Beitritt zur Russischen Föderation zustimmen würden; 49,9 Prozent waren überzeugte Unterstützer der belarusischen Unabhängigkeit, 36,1 Prozent der Befragten stimmten nur einer supranationalen Integration mit Russland zu.

Letzten Endes schadeten auch Russlands wirtschaftliche Probleme der Attraktivität des Landes als Migrationsziel für belarusische Arbeitskräfte, während Polen in dieser Hinsicht immer attraktiver wurde. Von 2017 bis 2019 zählte das russische Innenministerium jährlich etwa 120.000 Arbeitsmigranten aus Belarus. In Polen erhielten von 2017 bis 2019 mehr als 55.000 Belarussen die »Polnische Karte«, allein 2017 erhielten 35.000 Belarussen eine Arbeitserlaubnis für Polen.

Russlands Forderungen nach einer stärkeren Integration von Belarus, darunter das Medwedew-Ultimatum von 2018, die Geheimverhandlungen über 30+1 integration maps von 2019 und Kampagnen in staatlichen und nichtstaatlichen Medien, die ganz unverhohlen die belarusische Unabhängigkeit bedrohten, schadeten seiner politischen Beliebtheit. Ein Ergebnis ist, dass Umfragen in Belarus im Jahr 2014 noch die prorussische Einstellung der Belarussen in Bezug auf den Donbass-Krieg und die Annexion der Krim zeigten. 2016 ergaben BAW-Umfragen, dass über 60 Prozent der Befragten eine Vereinigung mit Russland befürworteten, während 2019 nur noch 40 Prozent der Befragten Vereinigungsbestrebungen mit Russland unterstützten.

Moskaus Unterstützung für Lukashenko während der Massenproteste von 2020 wird die Ambivalenz bezüglich der geopolitischen Ausrichtung von Belarus immer schneller schwinden lassen, genauso wie die russische Beliebtheit in Belarus. Soziologen konstatieren, dass sich die Einstellung gegenüber Russland bei der belarusischen Öffentlichkeit im Rahmen der massenhaften Sonntagsproteste zunehmend radikalisiert hat. Mitte August war die Einstellung zu Russland noch relativ positiv: Ein Witz am Beginn des Putin-Lukashenko-Gipfels in Sochi lautete: »Sasha, trink Tee, das ist Putins kleine Aufmerksamkeit.« Auch Ende August äußerten die Protestierenden noch keine Bedenken in Bezug auf Russland. Sie forderten Russland vor allem auf nicht einzuschreiten und hofften, dass Moskau das belarusische Volk und nicht Lukashenko unterstützen würde. Nur eine kleine Minderheit nahm Moskaus Verhalten als unfreundlich und gefährlich wahr. Im September wuchsen die Sorgen über das russische Verhalten dann stark.

Selbst für den hypothetischen Fall, dass Russland einen Richtungswechsel in seiner Politik gegenüber Lukashenko einleitet, zeigen die wachsenden EU-Aspirationen der Jüngeren, dass es die belarusische Ambivalenz in Bezug auf die außenpolitischen Prioritäten des Landes irgendwann nicht mehr gibt. Aktuelle Umfragen des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) und von John O’Loughlin et al. zeigen, dass sich die Wertvorstellungen und politischen Einstellungen der jüngeren Belarussen (bis 45 Jahre) dramatisch von denen älterer Generationen unterscheiden. Die Jüngeren ziehen westliche politische Systeme (52 Prozent) dem russischen (13,9 Prozent) und dem belarusischen System (14,5 Prozent) vor und wollen sich lieber dem Westen als Russland annähern (50,4 bzw. 23,3 Prozent). Eine Umfrage des ZOiS vom Juni 2020 bestätigt diese Ergebnisse und betont, dass die jungen Belarussen eine EU-Integration auch dann befürworten, wenn sie eine Abkehr von Russland bedeutet (55 bis 14,9 Prozent), und zeigt, dass sie eine Vereinigung mit Russland deutlich ablehnen (70 Prozent).

Die Konsolidierung einer prowestlichen Perspektive braucht Zeit. Zudem könnte sie eine weitere Revolution einleiten, die – sollte sie stattfinden – geopolitischer Art und nicht wie 2020 nach innen gerichtet sein wird. Einstweilen nutzen die inkonsistente und unklare Haltung des Westens gegenüber dem Lukashenko-Regime und die westliche Unentschiedenheit in Bezug auf die Zukunft von Belarus nur Russland und verzögern eine Stärkung prowestlicher Einstellungen in der belarusischen Gesellschaft.

Übersetzung aus dem Englischen: Sophie Hellgardt

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