Postkolonialismus und Migration: 
Zentralasien während des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine

Von Aizada Arystanbek (Rutgers University, New-Brunswick), 
Caress Schenk (Nazarbayev University, Nur-Sultan)

Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden drei aktuelle Formen der Mobilität aus und nach Zentralasien betrachtet, die durch den Krieg in der Ukraine, aber auch durch historische Strukturen des russischen Kolonialismus und der Rassifizierung zentral- und nordasiatischer Bevölkerungsgruppen geprägt sind. Vor dem Hintergrund des noch heute fortwirkenden Erbes des russischen Imperialismus und der dadurch geprägten kolonialen Mentalitäten sollen drei Migrationsphänomene analysiert werden: erstens die Arbeitsmigration von Zentralasien nach Russland, zweitens die Teilnahme von Migrant:innen und Angehörigen ethnischer Minderheiten Russlands als Soldat:innen am Krieg in der Ukraine und drittens die Flucht russischer Bürger:innen vor den Folgen des Krieges in Richtung Süden.

Einleitung

Migrationsmuster und -wege sind traditionellerweise eng mit der kolonialen Geschichte der betroffenen Länder verknüpft. In Eurasien ist das nicht anders. Erst vor kurzem wurde die im Westen vorherrschende historische Kolonialismusforschung einer lange überfälligen Kritik unterzogen, da sie in ihrem analytischen Rahmen keinen Platz für den russischen Imperialismus lässt. Postkoloniale Ansätze sind nichtsdestotrotz auch für das Verständnis der Beziehung zwischen Russland und seinen ehemaligen Kolonien (und heutigen Nachbarstaaten) von entscheidender Bedeutung. Der Krieg in der Ukraine hat der Welt diese Dynamiken auf grausame Weise vor Augen geführt. Angesichts des ukrainischen Kampfes geraten jedoch die weit ausgedehnte östliche Peripherie Russlands und die ehemaligen russischen Kolonien, die heute unabhängige Staaten sind, leicht in Vergessenheit. Deren Bewohner:innen haben nicht nur bis heute unter den Folgen des russischen Kolonialismus zu leiden, sondern erleben auch eine Rassifizierung, von der Ukrainer:innen nicht betroffen sind.

Von der imperialen Herrschaft des russischen Zarenreichs bis zur gemeinsamen Staatlichkeit während der Sowjetunion nahm die russische Sprache und slawische Kultur in dem größten Gebiet der Erde, das je von einer einzelnen Regierung beherrscht wurde, eine zentrale Stellung ein. Mithilfe eines zentralisierten Staates und der Umsiedlung ethnischer Russ:innen an die »Peripherie« sollte kulturelle und sprachliche Homogenität geschaffen werden. Viele Russ:innen leugnen die koloniale Natur dieser Vorgänge. Sie vertreten das gegenteilige Narrativ, demzufolge der russische Imperialismus und die Sowjetunion für die Entwicklung rückständiger Gegenden gesorgt hätten.

In diesem Beitrag werden drei aktuelle Formen der Mobilität betrachtet, die durch lange bestehende Strukturen des russischen Kolonialismus und der Rassifizierung zentral- und nordasiatischer Bevölkerungsgruppen geprägt sind: erstens die zentralasiatische Arbeitsmigration nach Russland, zweitens die Teilnahme von Migrant:innen oder Angehörigen der Minderheiten Russlands als Kämpfer:innen am Krieg in der Ukraine und drittens die Fluchtbewegungen russischer Bürger:innen, die ihr Land Richtung Süden verlassen, um den Folgen des Kriegs zu entkommen. Bei den letzten beiden Migrationsbewegungen handelt es sich um keine traditionellen Migrationsmuster. Sie sind Ausdruck aktueller Entwicklungen, die zwar durch den Krieg angestoßen wurden, aber in koloniale Strukturen einer weißen russischen Dominanz eingebettet sind, die Slawen als Norm setzt, an der sich andere eurasische Gruppen zu messen haben.

Mobilität und Rassifizierung in einem postkolonialen Szenario

Die wohl »traditionellste« der drei betrachteten Formen von Mobilität ist die der Arbeitsmigration. Sie lässt sich am ehesten mit anderen, besser bekannten Migrationsphänomenen vergleichen und in Beziehung zur bestehenden postkolonialen Theorie setzen. Mittlerweile gilt es fast schon als Naturgesetz, dass gegenwärtige Migrationsbewegungen früheren kolonialen Verbindungslinien folgen. Oft wird die Mobilität entlang dieser Verbindungslinien durch eine gemeinsame Sprache und günstige rechtliche Rahmenbedingungen erleichtert. Wenn Tadschik:innen, Usbek:innen und Kirgis:innen im Ausland nach Arbeit suchen, schauen sie sich dementsprechend zunächst in Russland um, wo sie von Visafreiheit, gemeinsamen rechtlichen Vorstellungen und ihrer Kenntnis der russischen Sprache profitieren können, alles Erbschaften der gemeinsamen Staatlichkeit während der Sowjetunion.

Millionen tadschikischer, usbekischer und kirgisischer Bürger:innen halten sich Jahr für Jahr zum Arbeiten in Russland auf und machen es damit zu einem der drei wichtigsten Einwanderungsländer der Welt. Viele der Migrant:innen verlassen ihre Heimatländer aufgrund von Arbeitslosigkeit oder einem Mangel an passenden Beschäftigungsmöglichkeiten. Migration wird darüber hinaus auch immer mehr als eine wichtige Lebenserfahrung gesehen, die zum Erwachsenwerden dazu gehört und Familiensystemen ermöglicht, Geld für wichtige Lebensereignisse wie Hochzeiten, Immobilienkäufe etc. anzusparen. Während einige Migrant:innen versuchen, eine langfristige Aufenthaltsgenehmigung oder sogar die russische Staatsbürgerschaft zu bekommen, um rechtlichen Schutz zu genießen, halten sich viele von ihnen ohne gültige Dokumente in Russland auf und befinden sich daher in einem dauerhaften rechtlichen Schwebezustand.

Viele Migrant:innen haben sich an ihre prekäre Situation in Russland gewöhnt und Strategien entwickelt, um zu vermeiden, im Alltag oder auf dem Arbeitsmarkt in eine sichtbare, rassifizierte Position zu gelangen. Um mit der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt fertigzuwerden, sind Migrant:innen auf Netzwerke von Landsleuten angewiesen und arbeiten in informellen Zusammenschlüssen. Sie haben zudem eine Vielzahl von Strategien im Umgang mit der Polizei entwickelt, die Migrant:innen regelmäßig auf der Straße anhält, um ihre Papiere zu überprüfen und Bestechungsgelder zu kassieren. Ob sie lokalen Streifenpolizisten Schutzgeld zahlen oder sich mit den Gesetzen und der russischen Sprache besser vertraut machen, um ihre Rechte durchsetzen zu können: Die Strategien, die Migrant:innen nutzen, um ihren Alltag in Russland zu meistern, sind vielfältig. Solche Anpassungsprozesse verdeutlichen die Fähigkeit von Migrant:innen, sich in Situationen des Unrechts eigene Handlungsspielräume zu bewahren. Andererseits offenbaren sie aber auch, wie tief soziale Hierarchien, die auf einer ständigen Rassifizierung nicht-slawischer Menschen beruhen, auf einer strukturellen Ebene verankert sind.

Viele der Routinen und Vorannahmen, auf die Migrant:innen sich normalerweise verlassen, wenn sie nach Russland gehen, wurden durch den Krieg in der Ukraine infrage gestellt. Nicht nur wird die wirtschaftliche Entwicklung in Russland durch die westlichen Sanktionen immer unberechenbarer, viele Menschen aus Zentralasien empfinden auch ein intuitives Gefühl der Solidarität mit der Ukraine. Während in Russland jegliche mediale Vielfalt zugunsten eines einheitlichen Propagandanarrativs zerstört wurde, wird in den zentralasiatischen Medien und den persönlichen Kanälen, über die Migrant:innen untereinander Nachrichten austauschen, immer noch relativ offen berichtet. Bürger:innen Zentralasiens, die einen Antrag auf die russische Staatsbürgerschaft gestellt hatten, wurde geraten, das Land zu verlassen, da andernfalls die Gefahr bestünde, dass sie zum Militärdienst eingezogen werden. Die westlichen Sanktionen haben nicht nur Russland geschadet, sondern auch die zentralasiatischen Volkswirtschaften destabilisiert. Möglicherweise werden sie also zu einer Situation führen, in der die Bewohner:innen Zentralasiens auch weiterhin gezwungen sein werden, nach Russland zu gehen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern und die immer prekärere Lage in ihren Heimatregionen abzufedern.

Rassifizierte Soldaten

Während einige der zentralasiatischen Migrant:innen Russland aufgrund des Kriegs verlassen haben, sind andere der russischen Armee beigetreten, um in der Ukraine zu kämpfen. Viele von ihnen wurden nicht nur durch eine gute Bezahlung, sondern auch das Versprechen einer schnelleren Einbürgerung geködert. Sie verspricht Arbeitsmigrant:innen aus Zentralasien Schutz vor den institutionalisierten Formen der Überwachung und Erpressung durch die russische Polizei. Offenbar erntet der Kreml nun also die Früchte seiner eigenen rassifizierten Gewalt, wenn er Migrant:innen im Gegenzug für ihren Dienst an der Waffe Schutz in Form einer russischen Staatsbürgerschaft anbietet. Allerdings dienen nicht nur zentralasiatische Migranten der russischen Führung als Kanonenfutter für ihren Ukrainefeldzug. Auch die Angehörigen der vielen Minderheiten innerhalb Russlands werden in überproportionaler Zahl in die Ukraine entsandt, um dann in Särgen zurückzukehren.

In Russland betrifft der Wehrdienst vor allem die armen Teile der Bevölkerung, die keine Möglichkeit haben sich der Einberufung zu entziehen, was Personen mit entsprechenden Verbindungen und Ressourcen vorbehalten bleibt. Für die Bewohner:innen strukturschwacher Regionen wie der Republik Burjatien oder der Republik Dagestan stellt die Armee gleichzeitig eine relativ sichere Möglichkeit dar, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Dass in der Ukraine mehr Soldat:innen sterben, die aus diesen abgehängten Regionen stammen, als Menschen slawischer Herkunft, die in den großen urbanen Zentren Russlands leben, ist deshalb kaum überraschend. Ethnische Minderheiten sind jedoch nicht erst seit dem 24. Februar als Kämpfer:innen in der Ukraine präsent. Asiatische und kaukasische Russ:innen haben sich schon seit 2014 in der Ukraine einen zweifelhaften Ruf als »Donbass-Indianer« oder »Putins kämpfende Burjat:innen« erworben.

Natürlich ist es mehr als ironisch, dass es gerade Angehörige der Minderheiten Russlands sind, die überproportional häufig für die Vorstellung einer »Russischen Welt« sterben, also für die Vorstellung einer Einheit aller Ostslaw:innen unter russischer Vorherrschaft. Nicht-slawischen Soldat:innen, die in der Ukraine kämpfen und ihr Leben lassen, wird mit demselben Misstrauen begegnet, das auch zentralasiatischen Migrant:innen in russischen Metropolen entgegenschlägt. Sie werden als »schwarz« oder »asiatisch« bezeichnet, ungerechtfertigt von der Polizei angehalten und von Teilen des Wohnungsmarktes ausgeschlossen, die »nur für Slaw:innen« reserviert sind. Manche von ihnen ziehen in den Krieg, um der Armut zu entfliehen, andere kämpfen willentlich für Russlands imperiale Ambitionen und damit praktisch für ihre eigene fortwährende Unterwerfung. Ähnlich wie die Menschen aus Zentralasien werden auch die russischen Minderheiten durch institutionalisierte Formen der Armut zu bestimmten Formen der Mobilität getrieben, die durch das föderale System Russlands bedingt sind. Dieses System erlaubt dem Kreml, Ressourcen aus abgelegenen Regionen zu extrahieren, ohne im Gegenzug wieder in diese Gegenden zu investieren.

In einem viral gegangenen Twitterthread machte der Forscher Kamil Galeew die wichtige Beobachtung, dass es unter den Armeeangehörigen nicht-slawischer Herkunft eine klare Hierarchie zu geben scheint. Nachdem Berichte veröffentlicht wurden, denen zufolge tschetschenische Soldat:innen kaum an direkten Kriegshandlungen beteiligt seien, postete Ramsan Kadyrow – Präsident der Tschetschenischen Republik und enger Vertrauter Putins – Aufnahmen »aus dem Krieg«, auf denen tschetschenische Soldat:innen in Aktion zu sehen sind. Dem Kreml dienen die Leichen der getöteten Soldat:innen aus dem Kaukasus oder Zentralasien als Propagandawaffe. Indem er diesen Bevölkerungsgruppen in der Ukraine ein rassifiziertes Stigma verleiht, untergräbt er die gegenseitige Solidarität verschiedener Opfergruppen des russischen Imperialismus. Kadyrow scheint indes seine Loyalität gegenüber Putin zu nutzen, um den tschetschenischen Kämpfer:innen eine privilegierte Rolle im Krieg zu sichern: sichtbar, aber möglichst abseits der Schusslinie.

Verschiedene Minderheitenorganisationen in Russland oder aus dem Ausland haben angefangen, sich gegen die Behandlung ihrer Soldat:innen als austauschbares Menschenmaterial zu wehren. Die internationale Antikriegsorganisation »Freies Burjatien« nutzt die sozialen Medien, um Solidaritätsnetzwerke von Burjat:innen aufzubauen, die gegen den Krieg sind, und um ihrer Region ein anderes Image zu verpassen. Statt einem Putin treu ergebenen Landstrich wollen sie als eine Region wahrgenommen werden, die sich nach mehr Freiheit und Autonomie innerhalb der Russischen Föderation sehnt. Wie den Soldatenmüttern Russlands geht es der Organisation nicht nur um soziale Solidarität. Sie baut auch aktiv Druck auf die Regierung auf.

Solche kleinen und oft individualisierten Bemühungen derjenigen russischen Bürger:innen, die am stärksten von Russlands Kriegs gegen die Ukraine betroffen sind, werden sich wohl kaum zu einer nationalen Bewegung entwickeln, geschweige denn den Sturz des Regimes zur Folge haben. Sie führen jedoch zu alltäglichen Auseinandersetzungen mit den staatlichen Behörden, die wichtig sind, um der Ungerechtigkeit des Systems Widerstand leisten. Die Tatsache, dass nur ein geringer Teil der russischen Kriegstoten aus Moskau und Sankt Petersburg stammt, spiegelt die Privilegien wider, die weiße Bevölkerungsgruppen mit einem bestimmten Klassenhintergrund immer noch besitzen. Wer Angst davor hatte, einberufen zu werden, und die nötigen finanziellen Mittel besaß, hat in den frühen Tagen der russischen Invasion einfach das Land verlassen.

Widerstand gegen eine erneute Kolonialisierung

Der Krieg hat zu einem Massenexodus russischer Bürger:innen geführt, die aus verschiedenen Gründen das Land verlassen haben: aus Protest gegen den Krieg, wegen schrumpfender Freiräume für zivilgesellschaftlichen Aktivismus, schwindender wirtschaftlicher Perspektiven oder aufgrund von Gerüchten, dass es bald zu einer massenhaften Einberufung von Wehrpflichtigen kommen könnte. Obwohl nicht alle von ihnen ethnische Russ:innen sind, hat ihre Ankunft im Kaukasus und in Zentralasien zu Ängsten geführt, seit der Unabhängigkeit 1991 gewonnene Freiräume zu verlieren. Seit der späten Sowjetzeit hatten nationale Solidaritätsbewegungen die Sprachen und historischen Überlieferungen ihrer Länder zu neuem Leben erweckt, um die russische Dominanz im politischen und linguistischen Bereich zu durchbrechen. In den darauffolgenden Jahren verlagerte sich das ethnische Gleichgewicht der Staaten, die an Russland grenzen, dramatisch zugunsten ihrer jeweiligen Titularvölker, auch weil ethnische Russ:innen in Massen auswanderten.

Auch wenn Kasachstan gegenüber Russland eine selbstbewusste Haltung eingenommen hat, die weder einen Bruch mit noch eine Vereinnahmung durch den Kreml signalisiert hat, hat die Rückkehr russischer Einwander:innen die Angst ausgelöst, erneut kolonialisiert zu werden. In den sozialen Medien wurde viel über die Situation diskutiert. Die Reaktionen reichten von Aussagen wie: »Sie sind bei uns willkommen, sollten aber ihren Platz kennen, und nicht damit rechnen, uns dominieren zu können!« bis zu Sorgen über die negativen Folgen, die die Ankunft russischer Geflüchteter für die Einheimischen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt haben könnte. Manche der Reaktionen unterscheiden sich von den üblichen Formen des Misstrauens, das Migrant:innen oft entgegengebracht wird. Am 02. Mai twitterte der britische Botschafter in Kirgistan, Charles Garrett, dass junge russische Geflüchtete für die zentralasiatische Republik eine wertvolle Ressource seien und drängte die kirgisische Regierung dazu, den neuen Migrant:innen eine Bleibeperspektive zu eröffnen – eine Rhetorik, die in einem deutlichen Kontrast zur rassifizierten Überwachung steht, der kirgisische Migrant:innen seit Jahrzehnten in Russland ausgesetzt sind. Die zentralasiatischen Volkswirtschaften, die durch Kollateralschäden der westlichen Sanktionen stark in Mitleidenschaft gezogen wurden, stehen vor der Herausforderung, sowohl für russische Geflüchtete als auch für die vielen einheimischen Arbeiter:innen zu sorgen, die zurückkehren oder nicht wie gewöhnlich nach Russland gehen. Es ist eine merkwürdige Situation, die nicht mit den existierenden Theorien über die Mobilität von Menschen und die Zirkulation von Macht übereinstimmen mag. Dass Bürger:innen eines früheren Kolonialstaats bei den Kolonialisierten Zuflucht suchen, ist ungewöhnlich. Die Migration von Russ:innen nach Zentralasien gibt Anlass zur Sorge, kann aber auch Grund zur Hoffnung sein.

In Kasachstan werden die Sorgen dadurch verstärkt, dass die Regierung erst im Januar 2022 von Russland angeführte Truppen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OKVS) zu Hilfe gerufen hatte, um das Regime von Kassym-Dschomart Tokajew zu stabilisieren, nachdem friedliche Proteste von gewalttätigen politischen Gruppen gekapert worden waren. Zu Beginn des Einmarsches in der Ukraine herrschte die Angst, dass die kasachstanische Regierung im Gegenzug eigene Truppen für den Überfall bereitstellen würde. Hinzu kam die bereits seit 2014 bestehende Angst, dass Kasachstan als Nächstes auf der russischen Annexionsliste stehen könnte. Bereits 2014 erklärte Putin, dass Kasachstan keine Geschichte einer eigenen Staatlichkeit vor der Zeit der Sowjetunion besessen hätte. Ähnliches hat er auch über die Ukraine behauptet. Hinzu kommt, dass die Versuche russischer Eliten, die Ereignisse in Kasachstan im Januar 2022 als ethnische Unruhen darzustellen, die sich gegen russischstämmige Menschen gerichtet hätten, an die Rhetorik der russischen Führung erinnern, die Ukraine vor Faschist:innen »retten« zu müssen.

Welchen Anlass zur Hoffnung gibt es in einer solchen Situation noch? Zwar ist davon auszugehen, dass es auch innerhalb der kasachstanischen Gesellschaft einige Menschen gibt, die Sympathien für Russland und seine imperialen Ziele hegen. Dennoch unterscheiden sich viele ethnische Russ:innen, die in Kasachstan leben, deutlich von jenen innerhalb Russlands. Viele von ihnen berichten, dass sie dort als Außenseiter:innen betrachtet werden. Oft haben sie auch ukrainische Wurzeln. Sie wollen nicht von Russland »gerettet« werden. Kasachstan ist ihre Heimat. Einige von ihnen verstehen zudem immer mehr, wie wichtig die kasachische Sprache ist und versuchen sie zu erlernen.

Die große Frage ist, ob die Neuankömmlinge aus Russland es den kasachstanischen Russ:innen gleichtun werden. Verstehen sie besser als ihre Landsleute, die Putins Krieg gegen die Ukraine unterstützen, was es heißt, die Privilegien zu hinterfragen, die es mit sich bringt, weiß und slawisch zu? Denkbar wäre es. Schließlich verlassen viele der Russ:innen, die nach Zentralasien kommen, ihr Land aus Protest gegen einen ungerechten Krieg. In der Migrationsforschung herrscht ein »Mobilitätsvorurteil«, das zur Verallgemeinerung von Mobilität neigt. In Wirklichkeit bleiben die meisten Menschen jedoch in ihren Heimatländern. Viele verlassen nicht einmal ihre Heimatstadt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass diejenigen Russ:innen, die ihr Land verlassen haben, in der Regel eine besondere Motivation besitzen, während passivere Konsument:innen der russischen Propaganda zuhause bleiben. Es bietet sich nun die einmalige Gelegenheit, abtrünnig gewordene Russ:innen in die dekoloniale Bewegung einzubinden. Allerdings bleibt dafür noch viel zu tun.

Fazit

Je länger sich der russische Krieg gegen die Ukraine hinzieht, desto schwieriger wird es, nicht nur das anfängliche Level an Aufmerksamkeit seitens der internationalen Gemeinschaft aufrechtzuerhalten, sondern auch ein Bewusstsein für die komplexen Folgen zu schaffen, die der Krieg für Osteuropa und Zentralasien nach sich zieht. Die Migrationsbewegungen, die durch die russische Invasion in Gang gesetzt wurden, führen zu massiven wirtschaftlichen Erschütterungen. Vor dem Hintergrund postkolonialer Machtdynamiken sind sie zudem ziemlich ungewöhnlich. Während die Kriegshandlungen in der Ukraine und die Flüchtlingskrise in ihren Nachbarländern weiterhin im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, finden die Kosten, die Russlands Krieg für Zentralasien hat, weit weniger Beachtung.

Das neuentdeckte Interesse, den russischen Imperialismus zu verstehen und zu dekonstruieren, ist nur dann konsequent dekolonial, wenn es die rassifizierten Machthierarchien, die in Russland und den historisch vom russischen Kolonialprojekt betroffenen Ländern existieren, in seine Betrachtung aufnimmt. Dieses neue Interesse am russischen Imperialismus und die weltweite Solidarität gegenüber der Ukraine bieten eine einmalige Gelegenheit, post-koloniale Herrschaftspraktiken, ob westlich oder nicht, offenzulegen und ihnen gemeinschaftlichen Widerstand und geteiltes Wissen entgegenzusetzen. Dabei ist es jedoch wichtig anzuerkennen, dass viel von dem aktuell zu diesem Thema produzierten Wissens weder ausreichend noch harmlos ist. Statt Zentralasien nur als eine Fußnote der Debatte über Russlands imperiale Gewalt in der Ukraine zu betrachten, brauchen wir Diskurse, die die Erfahrungen der Menschen in Zentralasien und ihre Rolle als rassifizierte »Andere« der Sowjetunion und Russlands ernst nehmen.

Aus dem Englischen von Armin Wolking

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