Was inspiriert die turkmenischen Eliten? Die Hochschulkrise der 1990er Jahre und ihre möglichen Auswirkungen auf die turkmenischen Außenbeziehungen

Von Abel Polese (Dublin/Tallinn)

Multilingualer Flughafenempfang

Aschgabat, Flughafen Turkmenbaschi, halb fünf Uhr morgens. Eine Gruppe ausländischer Gäste steht in der Ankunftshalle, müde und verschlafen, aber auch aufgeregt. Ein junger Mann holt sie ab, er ist Anfang dreißig und läuft immer wieder von der Halle auf die Straße und zurück zu den Leuten, damit alle in das richtige Auto zum richtigen Hotel steigen.

Es ist eine ganz normale Situation, wie sie bei vielen Abholungen für Konferenzen stattfindet; dem aufmerksamen Beobachter wird allerdings ein deutlicher Unterschied auffallen. Der junge Mann begrüßt seine Gäste aus arabischen Ländern höflich in deren Sprache, gibt anderen Hinweise auf Russisch, heißt türkische Wissenschaftler auf Türkisch willkommen, hilft europäischen und amerikanischen Gästen auf Englisch und gibt Taxifahrern Aufträge auf Turkmenisch. Dann erscheint sein Kollege und erweitert das sprachliche Reservoir seines Kollegen, indem er Farsi-sprachige Gäste in deren Muttersprache begrüßt.

Die Betreuung von Gästen ist generell keine einfache Aufgabe, vor allem wenn mehrere Dutzend Menschen versorgt werden müssen. Doch unsere turkmenischen Freunde wissen genau, wer in welcher Sprache anzureden ist, und wenn sie auf neue Gäste treffen, wissen sie sofort, welche Sprache sie sprechen müssen.

Der weitere Tagesverlauf dürfte den interessierten Gast überraschen. Denn die morgendliche Situation war keine Ausnahme, die Veranstalter hatten nicht die einzigen Personen zum Flughafen geschickt, die viele Sprachen sprechen – vielmehr ist das Beherrschen zahlreicher Sprachen eine überraschende und faszinierende Fähigkeit der turkmenischen Eliten. Die Art und Weise, in der viele Turkmenen etliche auch schwierige Sprachen sprechen, scheint einem anderen Jahrhundert zu entstammen, in dem für Diplomatie Personen zuständig waren, die auf die besten Universitäten der Region geschickt worden waren, um viele Sprachen zu erlernen.

Bei Nachfragen wird kein Geheimnis daraus gemacht, warum so viele Sprachen gelernt wurden. Angeblich liegen die Ursprünge des Phänomens in den unsicheren 1990er Jahren. Damals bevorzugten einige gebildete Turkmenen noch die Universitäten in Moskau und in den anderen GUS-Ländern. Etliche begannen sich jedoch bereits anderweitig umzutun.

Einige gingen nach Kairo. Die ägyptischen Universitäten waren bereit, jeden zu immatrikulieren, der sich bewarb, und sie erhoben nur sehr niedrige oder gar keine Studiengebühren. Die einzige Hürde bestand darin, das Immatrikulationsformular auf Arabisch auszufüllen. Unsere findigen Turkmenen fanden jedoch Helfer und, einmal immatrikuliert, begannen sie, die Sprache zu lernen.

Alternative »Erasmus-Räume«

So überraschend es klingen mag – dasselbe Prinzip liegt allen universitären Austauschprogrammen zugrunde. Die Besonderheit des turkmenischen Falls ist, dass die Lernerfahrungen auf private Initiative und nicht auf institutionelle Strukturen zurückgehen. Nicht alle Turkmenen entschieden sich für Ägypten – ein anderes Zentrum der Bildung war Teheran, wohin viele zukünftige Akademiker zum Studium gingen, um fließend Farsi sprechend und mit ausländischem Abschluss zurückzukommen. Ein weiteres wichtiges Ziel war und ist die Türkei. Turkmenische Staatsbürger brauchen zur Einreise dorthin kein Visum, Türkisch kann von Turkmenen einigermaßen verstanden werden (und umgekehrt) und beide Länder unterhalten stabile Beziehungen. So gibt es etwa täglich vier bis fünf Flüge zwischen Istanbul und Aschgabat, während es beispielsweise zwischen Aschgabat und der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe gar keinen gibt.

Türkisch hat einen besonderen Status in Turkmenistan – die »osmanische Sprache« zu sprechen gilt den turkmenischen Eliten als normal. Türkische Kanäle können in weiten Teilen Turkmenistans empfangen werden und sie ähneln den turkmenischen sowohl kulturell als auch sprachlich. Akteure aus dem öffentlichen wie dem privaten türkischen Sektor sind im Land aktiv, etwa die staatliche türkische Entwicklungsagentur TIKA und zahlreiche Baufirmen. Die erste große Shopping Mall Turkmenistans wurde übrigens von einer türkischen Firma gebaut und für die türkischen Einwohner Aschgabats gibt es dort eine eigene Etage mit einem großen Angebot an türkischen Speisen, das von türkischsprachigem Personal angeboten wird.

Wie es kommt, dass sie Russisch sprechen, habe ich Turkmenen nie gefragt. Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion klang mir die Frage zu naiv. Es stimmt, dass das Russische in vielen Bereichen des öffentlichen Raums schon lange abgeschafft ist; die wichtigste Zeitung des Landes hat allerdings noch immer eine russische Ausgabe (Nejtralnyj Turkmenistan). Zudem – und das gilt auch allgemein – ist ein Land mit begrenzten Ressourcen auf den Import zahlreicher Dinge angewiesen, über die man sich vorher informieren muss.

In Aschgabat gibt es etwa keine Pilotenschule. Turkmenistan braucht allerdings Piloten und diese werden meist in der Ukraine ausgebildet. Das ist nicht das einzige Beispiel dieser Art – viele Qualifikationen werden im Ausland erworben und dann nach Turkmenistan zurückgetragen. Häufig hängt das Erlernen einer Fremdsprache auch mit Freizeitaktivitäten zusammen – etwa das Russischlernen der Turkmenen. Die Menge der in Russland produzierten Raubkopien von Filmen kann Grund genug sein, um Russisch zu lernen – die meisten dieser Filme sind auf Turkmenisch nicht erhältlich und Russland ist ein Hauptproduzent von raubkopierten Filmen. In Turkmenistan kann Satellitenfernsehen empfangen werden und neben Türkisch ist Russisch noch immer die am weitesten verbreitete Sprache des Landes.

Russisch ist nicht mehr offizielle Landessprache, es wird für offizielle Schilder und offizielle Kommunikation nicht mehr verwendet und auch das kyrillische Alphabet wurde vom lateinischen abgelöst (mit speziellen Schriftzeichen für turkmenische Laute). Es gibt jedoch keine Anzeichen dafür, dass der Übergang abgeschlossen ist. Neben turkmenischen Hinweisen wie »Frisch gestrichen« oder »Durchgang verboten«, etwa in Parks oder an Baustellen, stehen häufig inoffizielle russische Übersetzungen. Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass sie notwendig wurden, weil manche Turkmenen die Schilder wegen der Schreibweise mit dem neuen Alphabet nicht verstanden und daher eine russische Version notwendig wurde.

Außerdem geht die Beherrschung der russischen Sprache auch darauf zurück, dass zahlreiche Turkmenen in Einrichtungen ausgebildet werden, in denen auf Russisch unterrichtet wird, sei es in Russland, der Ukraine oder in anderen Zentren der ehemaligen Sowjetunion, wo Russisch als Unterrichtssprache weit verbreitet ist. Gelegenheiten und Herausforderungen brachten es allerdings mit sich, dass die Turkmenen Beziehungen auch in Länder etablierten, die nicht sowjetisch geprägt und für die politischen Entscheidungen Turkmenistans nicht ausschlaggebend sind.

Sprachenbasierte Diplomatie

Die offiziell hochgradig zentralisierte turkmenische Politik wird sehr stark von informellen und persönlichen Beziehungen beeinflusst. Wurde etwa der offizielle Übersetzer des turkmenischen Präsidenten im Iran, der Türkei oder Ägypten ausgebildet und hat dort einige Jahre verbracht, so kann er die entsprechenden kulturellen Konzepte übersetzen und ein differenziertes Verständnis für das Verhalten der ausländischen Diplomaten aufbringen. Außerdem kann er den Präsidenten an die Rolle erinnern, die das jeweilige Land für Turkmenistan und seine Eliten spielt – sollte sie ihm nicht bewusst sein. So werden die Beziehungen in ein positiveres Licht gerückt und möglicherweise können sich dadurch die wirtschaftlichen oder politischen Beziehungen verbessern. Der Präsident und seine engen Verbündeten sind mächtig. Die im Ausland ausgebildeten turkmenischen Eliten haben jedoch einen (wenn auch begrenzten) Einfluss auf die Träger der Macht und können auf die Entscheidungen des Landes einwirken.

Inwieweit, können wir nicht wissen. Von kritischen Theorien internationaler Beziehungen wird die Macht von persönlichen Beziehungen, Wahrnehmungen und anderen individuellen und subjektiven Elementen für politische Entscheidungen weithin anerkannt. Beziehungen zu anderen Ländern als Russland (und dem Westen) bringen es mit sich, dass die für Konsum, Technologien, Wissen, politische Ideen und wirtschaftliche Aktivitäten vorhandenen Modelle aus vielen verschiedenen Quellen gespeist, importiert und neu entworfen werden, um dann in die nationale Ideologie einzufließen. Seit seiner Unabhängigkeit hat Turkmenistan eine ganze Reihe von aus anderen Ländern stammenden oder inspirierten Mythen und Traditionen (wieder)entdeckt beziehungsweise neu erfunden.

Dazu zählen auch mündliche Überlieferungen – es gibt definitiv eine ganze Reihe von Mythen, Geschichten und Traditionen, die die Sowjetperiode überlebt haben. Zur Komplexität postmoderner Rituale gehören allerdings auch nationale Turbo-Popsongs. Außerdem wurden Traditionen teilweise auch importiert. Russland sollte nicht als der einzige Ort angesehen werden, von dem die turkmenischen Eliten beeinflusst sind. Eine Reihe anderer, in ihrer Bedeutung oft unterschätzter Länder haben nicht nur die Bildung der turkmenischen Eliten in ihrer heutigen Form beeinflusst. Genauso haben sie – möglicherweise indirekt – zur Entstehung des offiziellen Narrativs und der politischen Einstellungen Turkmenistans sowie zur Verortung des Landes in der internationalen politischen Arena beigetragen.

Aus dem Englischen von Sophie Hellgardt

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