Usbekistan ein Jahr unter Mirsijojew: Vom Saulus zum Paulus?

Von Shuhrat Kadirzhanov

Zusammenfassung
Das unter seinem ersten Präsidenten im Inneren jahrzehntelang bewusst »eingefrorene« und nach Außen isolierte Usbekistan scheint nach Islam Karimows Tod in Bewegung geraten zu sein. Seit nunmehr einem Jahr ist sein Nachfolger Schawkat Mirsijojew bemüht, mit vielerlei Initiativen und Verordnungen die Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik des Landes zu verändern. Ob dahinter eine tatsächliche Reformagenda steckt und ob der neue Präsident überhaupt die Macht und vor allem den Willen hat, wirkliche Veränderungen durchzusetzen, wird derzeit unter Beobachtern durchaus kontrovers diskutiert. Der Autor des folgenden Textes ist in beiden Punkten recht skeptisch. Er sieht eine Reihe von marginalen Verbesserungen für die Bevölkerung, aber keine grundsätzlichen und vor allem realen Schritte in die richtige Richtung. Diese sind nach seiner Ansicht sowohl aufgrund der Biographie Mirsijojews nicht zu erwarten, wie auch wegen des Widerstands der Machtinstitutionen der Karimow-Zeit und der oligarchischen Eliten nicht durchsetzbar.

Schawkat Mirsijojew (Jg. 1957) regiert Usbekistan inzwischen seit einem Jahr. 27 Jahre, mehr als die Hälfte seines erwachsenen Lebens, hat er unter dem verstorbenen Diktator Islam Karimow auf verschiedenen Posten in der Exekutive gedient und es gibt diverse Berichte, dass er sein gelehriger Schüler war. Dies deutet schon auf die Grundtendenz seiner jetzigen Politik hin: Statt von der Gesellschaft in Usbekistan sehnlichst erwartete Verbesserungen vor allem der wirtschaftlichen Lage einzuleiten, betreibt Mirsijojew eine populistische Politik, er nimmt einige äußerst unpopuläre Entscheidungen seines politischen Ziehvaters im Inneren wie im Äußeren zurück, geht aber keine grundlegenden Veränderungen an. Die Ergebnisse seiner Revision sind daher bis jetzt für die breite Masse der Bevölkerung recht mager ausgefallen. Grundsätzlich richtige Entscheidungen, z. B. die Liberalisierung des Devisenhandels oder die Öffnung der Grenzen, werden mit so vielen restriktiven Vorbehalten versehen, dass der erhoffte Effekt für die Mehrheit der Bevölkerung nicht spürbar wird – während die oligarchischen Elitegruppen ihre Pfründen wie bisher ungehindert sichern. Selbst die längst fällige und von allen Seiten begrüßte Normalisierung der Beziehungen mit den Nachbarstaaten, die wichtigste Leistung Mirsijojews seit seinem Amtsantritt, brachte der Bevölkerung vor allem einen starken Anstieg der Lebensmittelpreise, verursacht durch die nun erleichterte Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte ins nahe Ausland. Die vielfach geäußerte Hoffnung auf eine längerfristige Entwicklung des Landes – weg von einer verkrusteten und in einer ökonomischen Sackgasse steckenden »orientalischen Despotie« hin zu einem vor allem die Wirtschaft modernisierenden Autoritarismus wie im Südostasien der 80-90er Jahre des 20. Jhs. – erscheint unrealistisch.

Usbekistan gleicht heute einem Dampfkessel, in dem der Druck gefährlich stark angestiegen ist, dem aber Einrichtungen zum Druckausgleich fehlen. Mit dem Tod Karimows Anfang September 2016 ist diesem Kessel nämlich sein einzig wirksames »Ventil«, das seit mehr als 27 Jahren provisorisch hielt, abhandengekommen. Mirsijojew ist nun bestrebt, durch eine Scheinliberalisierung und eine minimale Abkehr von der Politik seines Vorgängers den Druck aus dem Kessel kontrolliert abzulassen, um so das bestehende oligarchische System zu stabilisieren. Gelingt ihm das, wird er zum neuen »Ventil«, d. h. »Schiedsrichter«, im oligarchischen System. Das wäre seine wichtigste Aufgabe im heutigen Usbekistan.

Mirsijojews Maßnahmen waren daher bislang meist auf marginale Probleme und theatralische Auftritte eines besorgten Landesvaters beschränkt. Seine von bloßer Rhetorik geprägten Reden, wie auch öffentliche Maßregelungen von »unfähigen« Ministern, »passiven« Parlamentsabgeordneten und korrupten Richtern haben letztlich wenig bewirkt. Zugegebenermaßen drehte Mirsijojew einige besonders unpopuläre Entscheidungen seines Vorgängers und politischen Ziehvaters Karimow zurück. Ungeachtet dessen wird die Historisierung und Popularisierung der Errungenschaften Karimows in der öffentlichen Erinnerungskultur vorangetrieben. Einige Erfolge kann Mirsijojew in der Außenpolitik vorweisen: Er fährt eine »Null Probleme mit den Nachbarn«-Politik, die zu einer gewissen Entspannung in der Region geführt hat. Ausgelöst von kleinsten Bewegungen des Präsidenten herrscht nun eine verhaltene Aufbruchsstimmung in der usbekischen Bevölkerung.

Was hat sich geändert?

Der neue Präsident ist bestrebt, sich der usbekischen wie globalen Öffentlichkeit als reformfreundlich zu präsentieren. Schon als Interimspräsident ergriff er im Herbst 2016 eine Reihe von Maßnahmen, die seine Popularität und sein Ansehen schnell wachsen ließen. Einige mit hoher Symbolkraft für Usbekistan seien hier beispielhaft genannt:

Es wurde ein virtuelles Empfangszimmer des Präsidenten, eine Art E-Government, eingerichtet, an das sich alle Bürger mit ihren Beschwerden, Anfragen oder Problemen wenden können. Nach offiziellen Angaben wurden bisher Gesuche von mehr als einer Million Bürgern positiv beschieden. Allerdings mehren sich inzwischen Hinweise, dass kritische Anfragen auf bürokratischem Wege »versenkt« und kritische Antragsteller und ihre Verwandten durch den Geheimdienst eingeschüchtert werden.In Taschkent wurden früher ausschließlich Präsidentenkonvois vorbehaltene Straßen und Plätze wieder für den allgemeinen Verkehr freigegeben – für die Bevölkerung eine erhebliche Erleichterung, weil Zeitersparnis.Die von Mirsijojew initiierten Razzien, unangemeldeten Prüfungen und Entlassungen in staatlichen Krankenhäusern sorgten für eine wenigstens vorübergehende Eindämmung der dort grassierenden Korruption, unter der die Bevölkerung besonders litt.Der Präsident verfügte auch, dass die Renten pünktlich – und sehr wichtig – in bar ausgezahlt werden. Unter Karimow wurde ein großer Teil der Rentenzahlungen auf Geldkarten der Bezugspersonen überwiesen, verbunden mit gleichzeitigen massiven Einschränkungen für Barabhebungen.Die neue Regierung hat die Mobilisierung von Lehrern, Ärzten und anderen Angestellten im Staatsdienst sowie Minderjährigen zur alljährlichen Baumwollernte offiziell verboten; allerdings wird dieses Verbot in der Praxis vor Ort durch von den lokalen Behörden erzwungene »freiwillige« Meldungen zur Baumwollfront außer Kraft gesetzt. Premierminister Aripow hat zwar vor einigen Tagen verfügt, dass vor allem Studenten und Mitarbeiter der staatlichen Bildungseinrichtungen und des staatlichen Gesundheitswesens von den Baumwollfeldern abberufen werden müssen. Aber schon jetzt gibt es Berichte, dass lokale Behörden von den Betroffenen hohe »Ablösezahlungen« verlangen, um damit Tagelöhner bezahlen zu können. Die Baumwollsklaverei bleibt auch unter Mirsijojew bestehen, denn die herrschenden Gruppen, die Baumwolle mit hohen Profiten im Ausland verkaufen, sind nicht gewillt, einen akzeptablen Preis an die Baumwollproduzenten zu zahlen.Mirsijojew erweckt den Anschein, ausufernder Bürokratie, Machtmissbrauch und Korruption Einhalt gebieten zu wollen. So unterschrieb er bereits als Interimspräsident am 16. September 2016 ein eiligst vorbereitetes Gesetz über »Die internen Organe«, welches als erster Schritt zur »Einhegung« des bis dahin weit über seine offiziellen Kompetenzen handelnden Innenministeriums betrachtet wird. Anfang Januar 2017 folgte das »Gesetz zur Korruptionsbekämpfung«.Die Regierung hat beschlossen, die obligatorischen Ausreisevisa ab 2019 abzuschaffen. Stattdessen sollen dann neben den bereits existierenden internen Pässen Reisepässe eingeführt werden. Für die Bürger hat das den Nachteil, dass die Beantragung beider Dokumente nicht nur mit hohen offiziellen Gebühren verbunden ist, sondern in der Regel zusätzlich noch höhere Dankbarkeitsbekundungen an die zuständigen Beamten zu zahlen sind. Die Bevölkerung wird also doppelt geschröpft.Die Massenmedien können für sie bislang nicht existente Probleme wie Korruption im Staatsapparat, bürokratische Willkür, massive Arbeitslosigkeit etc. behandeln. Zu den früher recht langweiligen TV-Talk-Shows kommen auch Minister und Parlamentsabgeordnete, was noch vor kurzem völlig undenkbar war. Um die Übertragung von Live-Sendungen wird derzeit hinter den Kulissen gerungen.Auf die Bühnen des Landes sind einige von Karimow persönlich verbannte Kulturschaffende zurückgekehrt, darunter die Sängerin Yulduz Usmonova, der Comedian Obid Asomov u. a.

Menschenrechte: Nur Marginalien

Zwar hat die Regierung gerade erst die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) zur Rückkehr nach Usbekistan aufgerufen und ihre Vertreter Anfang September 2017 in Taschkent persönlich begrüßt, gleichzeitig aber eine Reihe von Bedingungen formuliert, die für eine Menschenrechtsorganisation inakzeptabel sein sollten. Außenminister Abdulasis Kamilow forderte zum Beispiel, HRW möge die »Besonderheiten« des demokratischen Weges des Landes berücksichtigen, d. h. eklatante Menschenrechtsverletzungen unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung tolerieren.

Eine im Oktober 2016 beschlossene Amnestie fiel mit knapp 40.000 begnadigten Gefangenen im Vergleich zu einer vorangegangenen 2015 (ca. 55.000) bescheiden aus und betraf kaum politische Häftlinge – außer einigen in der Haft völlig zermürbten Gefängnisinsassen, die ihre Strafe fast vollständig abgesessen hatten: z. B. den 72jährigen ehemaligen Oppositionellen Samandar Kukanow (nach 23 Jahren in Haft), den 69jährigen Rustam Usmanow, Begründer der ersten kommerziellen Bank (nach 19 Jahren), den 61jährige Herausgeber der oppositionellen Zeitung »Erk«, Muhammad Bekdschan (nach 18 Jahren) und zuletzt den 50jährigen der Spionage bezichtigten Oberstleutnant Erkin Musajew (nach 11 Jahren). Die meisten politischen Gefangenen, vor allem einige Tausend muslimische Aktivisten, sind aber nach wie vor hinter Gittern. Allerdings signalisierte der neue Präsident eine Entspannung im religiösen Bereich indem er die Revision der sog. »Schwarzen Listen«, einer Art Register des Geheimdienstes mit den Namen der aus der Sicht des Regimes gefährlichen oppositionellen oder auch nur unabhängigen muslimischen Aktivisten bewirkte. Nach unbestätigten Angaben in den Medien sollen 16.000 Namen gestrichen worden sein – von insgesamt 17.000. Ob dieser Schritt zu einer Abschwächung staatlicher Repressalien gegen die islamische Opposition und den nicht staatlich kontrollieren Islam führt, bleibt abzuwarten.

Wirtschaftspolitik: »Je mehr Gesetze, desto mehr Diebe.«

Nach jüngsten Angaben der russischen Migrationsbehörde sind insgesamt 1,9–2 Mio. Bürger Usbekistans d. h. jeder 16., in Russland als Gastarbeiter tätig. Vor den EU-Sanktionen waren es sogar über 3 Mio. Menschen, d. h. fast 10 % der Gesamtbevölkerung des Landes (31,5 Mio., 2016 geschätzt). 2016 haben sie 2,741 Mrd. US-Dollar nach Hause überwiesen. (Zum Vergleich: Der Staatshaushalt betrug im selben Jahr geschätzt ca. 13,8 Mrd. US-Dollar). Im Unterschied zu Karimow, der seine in Russland tätigen Landsleute als »Faulenzer« beschimpfte und die grassierende Armut zu Hause leugnete, scheint Mirsijojew zu diesem Problem nicht nur mit Worten zu stehen: Während seines ersten Russlandbesuches Anfang April 2017 wurde u. a. ein Abkommen über die geregelte Anwerbung usbekischer Bürger zur Ausübung einer zeitlich begrenzten Berufstätigkeit in Russland ausgehandelt.

Zur Bekämpfung der Armut in Usbekistan selbst hat Mirsijojew aber offenbar keine überzeugenden Rezepte, seine Empfehlung während einer Reise in die Autonome Republik Karakalpakstan Anfang Januar 2017 erscheint symptomatisch: Mirsijojew forderte damals, dass jede Familie auf dem Land 100 Hühner halten solle. Diese Hühner würden pro Tag mindestens 50 Eier legen, wenn zehn davon in der jeweiligen Familie verzehrt würden, könnte sie 40 Eier verkaufen und es würde keine armen Familien mehr geben, zeigte sich der Präsident überzeugt. Zwar hat Mirsijojew viele neue Wirtschaftsinitiativen gestartet, doch darf man Zweifel an ihrer Wirksamkeit haben. Schon die Wirtschaftsgesetze Karimows sind nicht annähernd in die Praxis umgesetzt worden. Nun werden neue Verordnungen eilig zusammengeschustert und den bereits bestehenden übergestülpt. Ergebnis ist ein Durcheinander, das mit einem Spruch des großen Lao-Tse zu erklären ist: »Je mehr Gesetze, desto mehr Diebe.« Mit den neuen Maßnahmen werden lediglich neue Futtertröge für die herrschenden Gruppen geschaffen.

Auch die Anfang September 2017 angekündigte Liberalisierung des Devisenhandels erweist sich für die Bürger bislang als Mogelpackung: Sie dürfen zwar den Sum gegen »harte« Devisen in den staatlichen Banken tauschen (private Wechselstuben sind nach wie vor tabu), der Betrag wird jedoch bislang nicht bar ausgezahlt, sondern kann nur auf Prepaid-Kreditkarten verbucht und ausschließlich im Ausland verwendet werden. Der Sum wurde gegenüber dem US-Dollar kräftig abgewertet (offizieller Kurs Ende August 2017 4.100 Sum : 1 US-Dollar, Anfang September 2017 8.100 Sum : 1 US-Dollar). Eine Freigabe des Wechselkurses ist für Oktober angekündigt. Ebenfalls ab Oktober soll angeblich der Umtausch ganz freigegeben werden.

Null Probleme mit den Nachbarn?

Usbekistan war unter Karimow zunehmend in eine politische und wirtschaftliche Isolation innerhalb Zentralasiens wie der internationalen Gemeinschaft geraten. Misstrauen und Feindseligkeit dominierten die Beziehungen mit allen Nachbarn. Mirsijojew ist nun offensichtlich bestrebt, durch eine »Null Probleme mit den Nachbarn«– Politik alte Probleme zu lösen und sein Regime aus der Isolation herauszuführen. Ende Dezember 2016 kam der kirgisische Präsident Almasbek Atambajew zu einem von den usbekischen Medien als »Durchbruch« in den Beziehungen beider Länder bewerteten Besuch nach Taschkent. Bei Mirsijojews Gegenbesuch in Bischkek Anfang September 2017 wurden mehr als ein Dutzend zwischenstaatlicher Abkommen in den Bereichen Kultur, Handel, Transport (inkl. Auto- und Eisenbahnlinie nach China), Terrorismusbekämpfung, Bewässerung unterzeichnet. Sein erster Auslandsbesuch führte Mirsijojew Anfang März 2017 nach Turkmenistan, wo es reichlich Freundschaftsbekundungen und noch mehr Regierungsabkommen über Kooperation im Energiebereich gab. Ende März begab sich der usbekische Präsident zu einem »historischen« Besuch nach Astana zu seinem kasachstanischen Amtskollegen Nursultan Nasarbajew, mit dem er sich, anders als sein Vorgänger, gut versteht. Mitte September 2017 folgte Nasarbajews Gegenbesuch in Taschkent, bei dem mehrere Abkommen über Kooperation im Grenz- und Energiebereich, Bewässerung, Austausch im militärischen Bereich, Bekämpfung des Schmuggels, Eisenbahnen und grenzüberschreitende Zusammenarbeit unterzeichnet wurden. Den ärgsten Widersacher seines Patrons, den tadschikischen Präsidenten Emomali Rachmon, traf Mirsijojew am Rande des US-islamischen Gipfels in der saudischen Hauptstadt Riad. Ein danach verbreitetes Foto zeigt beide Präsidenten lachend Hand in Hand nebeneinander auf einem Sofa sitzend. Ein Bild, das während der Zeit Karimows unvorstellbar war. Als konkrete Ergebnisse all dieser Treffen leistet Usbekistan eine Art Entwicklungshilfe im unruhigen Süden Kirgistans, beteiligt sich aktiv am sog. Businessforum in Duschanbe und die neue »Freundschaft« mit Turkmenistan soll neue regionale Energiegeschäfte und Infrastrukturprojekte ins Leben rufen.

Allerdings wurde Mirsijojew bisher zwei Mal von Geheimdienst und Innenministerium vorgeführt: Er musste seinen bereits veröffentlichten und allseits positiv aufgenommenen Erlass über die visafreie Einreise für die Bürger von 27 Staaten vom 2. Dezember 2016, der ab dem 1. April 2017 in Kraft treten sollte, »korrigieren« und auf den 1. Januar 2021 verschieben und die Wiederaufnahme der Flugverbindung zwischen Taschkent und Duschanbe nach 25-jähriger Zwangspause musste, angeblich aus technischen und logistischen Gründen, mehrfach verschoben werden, bevor im April die erste Maschine starten konnte. Treibende Kräfte hinter der Revision dieser für das Ansehen des Präsidenten wichtigen Entscheidungen waren der Geheimdienst (SNB) und das Innenministerium. Daran kann man ablesen, dass diese beiden mächtigen Institutionen den Fehdehandschuh gegen den Präsidenten, den sie nach dem Karimows Tod niedergelegt hatten, wieder aufgenommen haben. Es ist zu erwarten, dass sie auch in Zukunft die wichtigsten Widersacher des Präsidenten bleiben und sich bemühen werden, seine wirtschaftlichen und politischen Vorhaben zu torpedieren, wenn sie ihre Pfründen gefährdet sehen.

Hinwendung zu Russland?

Im Unterschied zu Karimow scheint Mirsijojew keine antirussischen Ressentiments zu hegen, er gilt im Gegenteil als ausgesprochen prorussisch. Nicht zuletzt auch dank der Tatsache, dass der im Hintergrund wirkende und nun noch mehr erstarkte Geheimdienstchef Rustam Inojatow mit Putin »kollegial« verbunden ist. Während seines Besuchs in Moskau Anfang April 2017 konnte Mirsijojew nach seinen Worten mit seinem russischen Amtskollegen in allen Fragen eine Einigung zu erzielen. Konkret bedeutete dies, dass zwischen Usbekistan und Russland 55 neue Abkommen mit einem Gesamtvolumen von 16 Mrd. US-Dollar unterschrieben wurden. Allein für 2017 verpflichtete sich Mirsijojew, das Handelsvolumen mit Russland von 4 auf 5 Mrd. US-Dollar zu erhöhen (ohne Angabe, wie das gelingen soll). Außerdem verfügte der neue Präsident Einfuhrzölle auf russische Produktion (Autos, Stahlproduktion, Lebensmittel, Baumaterial) entweder stark zu senken oder sogar abzuschaffen. Zum ersten Mal in der Geschichte des postsowjetischen Usbekistan erhalten russische Firmen Aufträge Industriebetriebe im Land schlüsselfertig zu bauen. Selbstverständlich wurde auch Gazprom bedacht: Der russische Energiegigant erhält einen direkten Zugang zu den größten Gasvorkommen in Karakalpakstan und wird dort erstmalig direkt an der Exploration und Förderung von Gas beteiligt.

Zukunft? Völlig offen

Bis jetzt kann Mirsijojew sich nicht auf eine eigene »Hausmacht« stützen. Er verfügt auch noch nicht über ein Team von Gleichgesinnten, das seiner Politik im Gleichschritt und bedingungslos folgen würden. Vielmehr regiert er von Inojatows Gnaden, des allmächtigen Chefs des omnipräsenten usbekischen Geheimdienstes. Noch unter Karimow zur grauen Eminenz neben dem Präsidenten geworden, kontrolliert Inojatow unverändert durch eine geschickte Personalpolitik alle Ebenen der Exekutive. Diese Seilschaft hat das Gepräge des gesamten wirtschaftlichen Lebens des Landes fest im Griff. Usbekistan gleicht in dieser strukturellen Hinsicht Russland unter Putin, wo die russischen Geheimdienste ebenfalls alle wesentlichen Schaltpunkte in der Politik und Wirtschaft des Landes unter ihre Kontrolle gebracht haben und diese geschickt ausüben.

Mirsijojew kämpft an verschiedenen Fronten um sein politisches Überleben und setzt auf unterschiedliche Konzepte der Verteidigung seiner Macht. Die Tatsache, dass er der Präsident ist, könnte ein Trumpf sein im Kampf gegen seine Widersacher, denn dadurch erhält er eine für seine Innenpolitik nicht zu unterschätzende internationale Anerkennung. Dieser kleine Unterschied könnte ausreichen, um Mirsijojew einen entscheidenden Vorteil gegenüber allen Konkurrenten zu verschaffen. Sein gefährlichster Widersacher ist und bleibt der Geheimdienst. Entweder gewinnt der Präsident und ein ihm loyaler Angehöriger des Dienstes übernimmt die Geschäfte des jetzigen, schwer zuckerkranken 73jährigen Geheimdienstchefs oder der Geheimdienst erlangt die Kontrolle über Mirsijojew, der zu einer Art Marionette degradiert würde. Dann wären der Restaurierung und Instrumentalisierung des gesamten Staatsapparates Tür und Tor geöffnet. Nicht gänzlich auszuschließen ist die radikalste Option: ein Umsturzversuch gegen den Präsidenten. Doch ist die Frage, ob Usbekistan, damit wirklich gedient wäre. Mirsijojew könnte sich auch vom Saulus zum Paulus wandeln, stünden hinter ihm in seiner eigenen Familie und im ganzen Machtapparat nicht so viele gierige Mäuler, die Usbekistan als ihr Hauptgericht betrachten.

Shuhrat Kadirzhanov ist ein Pseudonym. Der Name des Autors ist der Redaktion bekannt.

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