Zwei Jahre russischer Angriffskrieg. Welche politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse lassen sich ziehen?

Von Mykola Bielieskov (Nationales Institut für Strategische Studien, Kyjiw)

Zusammenfassung
Der Beitrag bietet einen Überblick über die politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse, die sich in den letzten zwei Jahren im großen russisch-ukrainischen Krieg herauskristallisiert haben. Auf beiden Seiten reichten die Ressourcen bisher nicht aus, um die strategische Initiative auf dem Schlachtfeld herzustellen und die politischen Ziele zu erreichen. An Land führt diese Situation aktuell zu einem fast statischen Frontverlauf, der sich jedoch schnell wieder ändern könnte. In der Luft konnte die Ukraine Russlands enorme Lufthoheit fast neutralisieren. Und auf See gelang es der Ukraine sogar ohne nennenswerte eigene Marine die russische Schwarzmeerflotte zurückdrängen und auf Jahre erheblich zu schwächen. Für die Ukraine wird es in 2024 darum gehen, gute Voraussetzungen für eine erneute Offensive in 2025 zu legen.

1. Diskrepanz zwischen den politischen Zielen und den verfügbaren militärischen Ressourcen auf beiden Seiten

Der 2014 begonnene latente lokale Krieg zwischen Russland und der Ukraine, der sich zum größten regionalen Krieg in Europa seit 1945 entwickelt hat, ist beispiellos, und zwar nicht nur hinsichtlich der Dimensionen und der Intensität. Er ist auch in seiner politischen Dimension bemerkenswert: Beide Seiten tendieren dazu, ihre Positionen zu maximieren, während keine der beiden Seiten in der Lage war, kurzfristig überlegene Kräfte ins Feld zu führen, um diese Ziele schnell zu erreichen.

Für die Ukraine ist es immer noch ein Krieg, bei dem es um ihre Existenz geht, auch wenn es den eigenen Streitkräften gelang, über die Hälfte der nach dem 24. Februar 2022 verlorenen Gebiete wieder zu befreien; zudem wurden anschließend und bis heute praktisch sämtliche russischen Versuche unterbunden, zu Lande vorzurücken. Der Erhalt und die Entwicklung der Ukraine werden nicht nur davon abhängen, ob die Verbände der russischen Teilstreitkräfte besiegt werden können, die sich derzeit auf ukrainischem Territorium befinden. Es wird letztendlich auch auf eine interne Transformation Russlands im Sinne einer postimperialen Entwicklung ankommen.

Die politische Führung Russlands, die nicht in der Lage ist, ihre maximalistischen Ziele eines Regimewechsels in Kyjiw und einer Besatzung durch schnelle Vernichtungsstrategien zu erreichen, stellt den Krieg gegen die Ukraine als einen Kampf zur Rettung und Bewahrung Russlands dar, um breitere Bevölkerungsschichten zu mobilisieren. Die Ukraine wird als zentrales politisches Instrument des Westens dargestellt, mit der Russland eine »strategische Niederlage« beigefügt werden solle. Russische Politiker:innen erklären offen, dass eine lebensfähige und unabhängige Ukraine nicht mit den Sicherheitsinteressen Russlands vereinbar sei. Angesichts eines solchen Framings dürfte Russland seine Würgegriffstrategie gegenüber der Ukraine weiterverfolgen, da es seine Ziele nicht in einem großen Streich erreichen kann. Zu dieser Strategie gehört, Menschen, Technologien und Geld aus der Ukraine zu verschrecken. Durch den Krieg und die Luftschläge soll das Land in einen dysfunktionalen Staat verwandelt werden, um den Boden für einen weiteren Versuch eines Landraubs zu bereiten.

Keine der beiden Seiten verfügt über die notwendigen Ressourcen, um schnell die politischen Ziele zu erreichen. Beide Seiten haben aber gezeigt, dass sie neue Ressourcen erschließen konnten (durch externe wie interne Mobilisierung), um die Intensität der Kämpfe über zwei Jahre aufrechtzuerhalten. Gleichwohl bleibt offen, wie lang eine solche Dysbalance zwischen politischen Zielen und verfügbaren Mitteln andauern kann. Letztendlich werden diese beiden Ziele in ein Gleichgewicht kommen.

2. Anhaltende Schieflagen zwischen unmittelbaren politischen Zielen, militärischen Fähigkeiten und den tatsächlichen Erfolgen auf dem Schlachtfeld

Der fortwährende Krieg gibt uns eine Reihe von Beispielen an die Hand, bei denen die Kriegsparteien nicht in der Lage sind, die unmittelbaren politischen Ziele, die militärischen Fähigkeiten und die tatsächlichen Kampfleistungen in ein Gleichgewicht zu bringen. Eine solche Balance wird schließlich als Voraussetzung für Erfolg auf dem Schlachtfeld betrachtet.

Mit diesem Problem hatten insbesondere die russischen Streitkräfte zu kämpfen. Im Grunde hat sich die oberste politische und militärische Führung Russlands als unfähig erwiesen, sich mit der Tatsache abzufinden, dass die russischen Streitkräfte nicht in der Lage sind, eine klassische tiefgreifende Offensive wie im Zweiten Weltkrieg durchzuführen, um die ukrainischen Truppenverbände zu besiegen und große Teile des Territoriums unter Kontrolle zu bringen. Die verkündeten politischen Ziele liegen bislang zumindest jenseits der Leistungen und der Fähigkeiten der russischen Streitkräfte.

Gleichzeitig konnte die Ukraine 2022 eine nahezu ideale Balance zwischen den unmittelbaren politischen Zielen, den militärischen Fähigkeiten und den Kampfleistungen finden. Sie setzte zunächst auf strategische Verteidigung und nutzte dann die erwähnten russischen Fehlkalkulationen, indem sie die russischen Truppen zermürbte und dann, als die russischen Truppen verwundbar waren, zur Gegenoffensive mit Geländegewinnen überging. Die zu diesem Zeitpunkt extreme militärische Schwäche Russlands wurde allerdings nicht voll genutzt: Wären die Waffen und die Munition, die der Ukraine nach Beginn der großangelegten Invasion versprochen und 2023 übergeben wurden, bereits früher geliefert worden, hätten die Ukrainischen Streitkräfte vermutlich fast alles, was nach dem 24. Februar 2022 besetzt wurde, wieder befreien können. Diese Chance wurde verpasst.

2023 war es dann die Ukraine, die nicht in der Lage war, die unmittelbaren politischen Ziele, die militärischen Fähigkeiten und ihre tatsächlichen Kampfleistungen in die richtige Balance zu bringen, als sie ihre Südoffensive plante und schließlich von Juni bis September 2023 unternahm. Die Ukraine hatte international unter Druck gestanden, die Gegenoffensive voranzutreiben, da sie sich sonst erneut dem Schreckgespenst eines Waffenstillstandsabkommens á la Minsk gegenübergesehen hätte. Die Versuche, militärisch gegen die gut ausgebauten russischen Verteidigungsstellungen vorzurücken und trotz der Barrieren in die Tiefe vorzustoßen, waren für die Ukrainischen Streitkräfte eine Herausforderung und zeitigten auf dem Schlachtfeld letztlich nur begrenzte Ergebnisse.

3. Die nukleare Dimension

Das Tabu eines Nuklearwaffeneinsatzes ist bislang – ungeachtet einer Reihe impliziter und expliziter russischer Statements – zwar nicht gebrochen worden, doch haben die Nuklearwaffen einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Krieges seit dem 24. Februar 2022 gehabt. Die Entwicklung ist allerdings vielschichtig.

Einerseits hat sich die russische Kalkulation, dass Drohungen mit einer nuklearen Eskalation den Westen von jedweder nennenswerten Intervention auf Seiten der Ukraine abhalten würden, als völlig haltlos erwiesen. Die Staaten der von den USA angeführten Ad-hoc-Koalition lieferten schrittweise immer mehr und immer modernere Waffensysteme an die Ukraine, angefangen von Panzerabwehrlenkraketen (ATGM) / Granatwerfern und tragbaren Luftabwehrsystemen (MANPADS) über 155-Millimeter-Haubitzen, Mehrfachraketenwerfer (MRLS) und diverse gepanzerte Fahrzeuge bis hin zu der Entscheidung, modernste Luft- und Raketenabwehrsysteme sowie Kampfjets der vierten Generation bereitzustellen, die 2024 geliefert werden sollen. Diese Menge an Waffen ermöglichte es, die ursprünglichen russischen Pläne zu durchkreuzen. Die Front konnte stabilisiert werden, wobei es zu beispiellosen russischen Verlusten kam. Allerdings zeigten die Ereignisse von 2023, dass es nicht für eine klassische Offensivoperation gegen gut vorbereitete Stellungen reichte.

Gleichzeitig zeigten die Überlegungen zum Eskalationsmanagement, das einen Eckpfeiler der Politik der westlichen Staaten in Bezug auf den russisch-ukrainischen Krieg darstellt, ihre Wirkung. Sie hatten Folgen für das Tempo, die Qualität und die Quantität der Hilfen an die Ukraine. Jede weitere Entscheidung, der Ukraine modernere Waffensysteme zu geben, wurde mit Blick auf eine mögliche nukleare Eskalation durch Russland abgewogen. In den meisten Fällen gab es für das jeweilige Waffensystem letzten Endes grünes Licht. Allerdings ging dabei wertvolle Zeit verloren, was entsprechende negative Folgen für die Entwicklung auf dem Schlachtfeld hatte. Leider waren die USA und einige ihrer Verbündeten, wie etwa Deutschland, zu zögerlich, um die erkennbare Diskrepanz zwischen Russland und China (Moskaus wichtigstem internationalen Rückhalt) auszunutzen: Schließlich hatten offizielle Stellungnahmen aus Beijing klargestellt, dass eine nichtkonventionelle Eskalation durch Russland von der chinesischen Führung nicht begrüßt werden würde.

Im September 2022 führten explizite russische Drohungen mit Nuklearwaffen dazu, dass Russland wertvolle Zeit gewann, um mobil zu machen, sich neu aufzustellen und sich darauf einzurichten, dass es einen Wechsel vom Bewegungskrieg hin zu einem Abnutzungskrieg gab. Die Ukraine war nicht in der Lage, im September und Oktober 2022 das Momentum extremer russischer Schwäche auszunutzen, weil die internationalen Hilfslieferungen anhand der Philosophie »Russlands Sieg verhindern, die Ukraine vor einer Niederlage bewahren« erfolgten und dabei Überlegungen zum Eskalationsmanagement eine Rolle spielten. Die Entscheidung, offensiv ausgerichtete ukrainische Verbände auszurüsten, wurde von den USA und ihren Partnern erst im Januar 2023 getroffen; aber da war es bereits zu spät.

Der Umstand, dass Russland eine der großen Atommächte ist, brachte auch andere für die Ukraine nachteilige Beschränkungen mit sich: Keiner der westlichen Partner ist bereit, tief ins Innere Russlands geführte Angriffe zu unterstützen, die die russische Wirtschaft oder seine Kriegsmaschinerie empfindlich treffen würden. Ein Beispiel hierfür ist die fehlende Bereitschaft des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz, grünes Licht für die Lieferung von luftgestützten Marschflugkörpern vom Typ Taurus an die Ukraine zu geben – sie könnten die strategisch wichtige Krimbrücke bei Kertsch angreifen.

Die Ukraine entwickelt auch ihre eigenen Angriffsfähigkeiten und nimmt kriegsrelevante Ziele ins Visier. Das ist jedoch nicht ausreichend, um das Kriegsgeschehen schnell zugunsten der Ukraine zu verändern. Gleichzeitig ist Russland in der Lage seine Wirtschaft am Laufen zu halten, sowie neue Truppen aufzustellen und ins Feld zu führen, und zwar einfacher, als dies der Fall für die Ukraine ist.

4. Fortgesetztes Ringen um strategische Initiative

In den letzten zwei Jahren hat es keine der beiden Seiten vermocht, eine sogenannte strategische Initiative herzustellen und umzusetzen sowie die politischen Ziele zu erreichen. Das sowjetische Konzept einer strategischen Initiative ist zum Verständnis der Kriegsdynamik allerdings hilfreicher als die Versuche, den Krieg in unterschiedliche Phasen zu unterteilen, wie das viele tun. Strategische Initiative meint eine quantitative und qualitative Überlegenheit, die es ermöglicht, dem Gegner die Kriegsparameter zu diktieren. Strategische Initiative wird durch eine günstige Abnutzungsrate (von beispielsweise einem ukrainischen Verlust an Personal gegenüber mindestens 10 russischen Verlusten) erreicht, kombiniert mit einer passenden Abfolge von Verteidigungs- bzw. Offensivoperationen und einer dem Gegner überlegenen Produktion. Dabei soll es aufgrund des Tempos der Operationen dem Feind unmöglich gemacht werden, sich neu aufzustellen und anzupassen. Im Kern sind Aktionen zur Gewinnung und Nutzung strategischer Initiative die Voraussetzung für einen letztendlichen Erfolg auf dem Schlachtfeld.

Im ersten halben Jahr nach dem 24. Februar 2022 war es Russland, das über eine Art Initiative verfügte, die die Ukraine dazu zwang, sich den durch Russlands Vorteile diktierten Parametern zu unterwerfen. Die russischen Vorteile erodierten jedoch allmählich, da die Ukraine in der Lage war, die russische Front an den Rändern aus dem Gleichgewicht zu bringen und in den Gebieten Cherson und Charkiw erfolgreiche Offensiven zu unternehmen. In der Folge wurde dann die Fähigkeit der Ukraine, die russischen Fehler auszunutzen, mit der Erlangung von strategischer Initiative verwechselt. Diese Einschätzung erwies sich jedoch als falsch, da Russland eine neue Mobilmachung begann, sich neu aufstellte und sich anpassen konnte. Seither wechseln sich Russland und die Ukraine mit offensiven und Verteidigungsoperationen ab, ohne dass eine der beiden Seiten wirklich eine strategische Initiative erringen und durchsetzen konnte.

Das lässt sich durch eine Reihe einschränkender Bedingungen erklären. Die Waffensysteme (selbst die für die Infanterie) werden technologisch immer raffinierter, was es schwieriger macht, deren Produktion schnell zu erhöhen. Dadurch ist es für beide Seiten nicht so einfach, die Verluste zu ersetzen und den Gegner bei der Produktion zu übertrumpfen. Zudem ist es in demokratischen Staaten generell schwieriger, die Menschen nach Verlusten dazu zu bringen, die Reihen zu schließen (wie aktuell in der Ukraine) und umgehend einen größeren Teil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für einen Krieg aufzuwenden (was bei den NATO-Staaten erkennbar ist). Es muss intern wie extern ein Konsens erreicht werden, wodurch wertvolle Zeit verloren geht. Russland hingegen sieht sich dieser Art Einschränkung – oberflächlich betrachtet – nicht gegenüber, da es Menschen leichter mobilisieren und große Teile des BIP für den militärisch-industriellen Komplex (die Militärausgaben wurden auf 1/3 des Staatshaushalts gesteigert) umwidmen kann. Allerdings ist der Ausbildungsstand der Mobilisierten eher gering. Zudem macht es ein objektiv bestehender Mangel an erfahrenen Mannschaften, Ersatzteilen und Produktionskapazitäten für Russland schwierig, durch erhöhte Kriegsausgaben auch eine Produktionssteigerung zu erreichen.

5. Seekrieg

Im Bereich der Marine, wo Russland eigentlich eine große Dominanz hat, hat die Ukraine in den zwei Jahren die größten Erfolge erzielt. Das gilt umso mehr, wenn man die eher geringen Ressourcen berücksichtigt, über die die Ukraine verfügt. Die großangelegte Invasion begann mit einer kompletten Blockade der ukrainischen Häfen und einer drohenden Seelandeoperation bei Odesa durch die Russische Schwarzmeerflotte. Nachdem die Ukraine etwa 20 Prozent der Schwarzmeerflotte zerstörte und auch das Hauptquartier der Flotte in Sewastopol beschädigte, fürchten russische Kriegsschiffe einen ständigen Aufenthalt im Bereich der besetzten Krim und können die Seeblockade nicht mehr aufrechterhalten. Die Ukraine hat im Laufe des Jahres 2023 das westliche Schwarze Meer im Grunde in eine »No-Go-Zone« für russische Schiffe verwandelt. Die Krim, der jahrhundertealte Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte, ist durch gezielte ukrainische Angriffe für eine anhaltende russische Marinepräsenz nicht mehr haltbar.

Es wird Jahre dauern, bis Russland die Verluste seiner Marine wettmachen kann. Erschwert wird dies durch die fehlende Möglichkeit, durch den Bosporus Ersatz ins Schwarze Meer zu schaffen, da der Vertrag von Montreux untersagt, dort in Kriegszeiten Kriegsschiffe passieren zu lassen. Gleichzeitig hat die russische Regierung größere Schiffe nach Noworossijsk und ins Asowsche Meer verlegt und erwägt, einen Marinestützpunkt in der vorübergehend besetzten Republik Abchasien zu errichten.

Der Krieg zur See erfolgte in drei Phasen. In der ersten Phase von Februar bis April 2022 konnte die Ukraine die Gefahr einer russischen Seelandeoperation auf ein Minimum reduzieren. Das wurde durch erfolgreiche Verteidigungsmaßnahmen an Land (im Gebiet Mykolajiw) und im Luftraum erreicht. Kombiniert wurde das mit Vorbereitungen zur Küstenverteidigung, mit Barrieren und einer Verstärkung durch mechanisierte Einheiten. Zweitens war die Ukraine von April bis Juni 2022 in der Lage, im nordwestlichen Schwarzen Meer eine operative Sperrzone (Anti-access/area denial, A2/AD) zu errichten, wobei das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte, der Raketenkreuzer »Moskwa«, erfolgreich versenkt und die russischen Einheiten von der strategisch wichtigen Schlangeninsel vertrieben wurden. Dies schuf die militärische Grundlage für das Getreideabkommen (Juli 2022 bis Juli 2023), da Russland keine klassische Blockade innerhalb einer 150-Kilometerzone vor der ukrainischen Küste errichten konnte. Als Russland das Getreideabkommen im Sommer 2023 einseitig aufkündigte, weil es seine Möglichkeiten, Kyjiw unter Druck zu setzen, überschätzte, konnte die Ukraine ein glaubwürdiges Drohpotenzial gegen russische Schiffe auf offener See aufbauen, so dass diese in Häfen auf der Krim fliehen mussten. Später wurden diese Schiffe mit Raketen vom Typ Storm Shadow bzw. SCALP-EG angegriffen.

Bei all diesen ukrainischen Erfolgen ist zu beachten, dass der Krieg nicht allein durch Kämpfe zur See entschieden wird, da die militärische Bedrohung durch Russland vorwiegend zu Land und aus der Luft besteht. Andererseits sind die ukrainischen Erfolge ein Beleg, dass auch kleinere Mächte in der Lage sind, mit passenden asymmetrischen Mitteln wie Überwasser-Kampfdrohnen und Langstreckenraketen in Küstengewässern erfolgreiche Operationen durchzuführen.

6. Luftkrieg

Der erste größere ukrainische Sieg wurde in der Luft errungen: Die ukrainische Luftwaffe war in der Lage, eine Abwehrstrategie zu verfolgen, durch die es für die bemannte russische Luftwaffe zu riskant wurde, tief in den ukrainischen Luftraum einzudringen. Die riesige Luftüberlegenheit Russlands wurde damit neutralisiert. Die ukrainischen Luftverteidigungssysteme waren kurz vor dem 24.02. vorsorglich verstreut und nach den ersten, meist erfolglosen russischen Angriffen, neu stationiert worden. So konnten sie russische Kampfjets abschießen, die sich in der Annahme, die ukrainischen Boden–Luft-Raketensysteme (SAM) seien zerstört, in die Ukraine wagten.

Nachdem Russland seit April 2022 zu Raketen- und Drohnenangriffen übergegangen war, die sich gegen die Logistik, Ölraffinerien und schließlich das Energienetz richteten, wurde es eine drängende Aufgabe, auf westliche Boden–Luft-Raketen zurückzugreifen. Die Vorräte an sowjetischen Systemen wurden spärlicher und man musste nach günstigen Lösungen suchen, um die iranischen Drohnen abzuwehren, die massenhaft an Russland geliefert wurden.

Die Ukraine erhielt eine Reihe modernster westlicher SAM-Systeme wie NASAMS, Iris-T und Patriot. Das größte Problem besteht hier in der Produktion der Rampen wie auch der entsprechenden Raketen. Dann begann die Ukraine, Piloten für die vierte Generation von Mehrzweckkampfjets vom Typ F-16 ausbilden zu lassen, die 2024 geliefert werden.

Die ukrainische Führung steht trotz dieser Erfolge vor dem Dilemma, den Bedarf an Luftverteidigung für das Land (die wichtigen urbanen Räume von wirtschaftlicher Bedeutung) mit der Luftverteidigung der Verbände an der Front auszubalancieren. Letztendlich wird der Erfolg der Ukraine auf einer kontinuierlichen Aufrechterhaltung der Luftabwehr-Strategie beruhen, was allerdings einen konstanten Nachschub aus den Ländern des Westens erfordert.

7. Bodenkrieg

Da sich die Luftwaffen beider Seiten gegenseitig neutralisieren, ist der Krieg zwischen Russland und der Ukraine zum größten Artillerieduell seit 1945 geworden. Besser gesagt geht es um einen Kampf, bei dem beide Seiten versuchen, resiliente Schrittfolgen von Angriffen (engl.: »kill chains«) zu entwickeln und einzusetzen, während gegnerische Schrittfolgen so weit wie möglich gestört werden sollen. Ersteres wird mit Hilfe von Drohnen und weniger mit Hilfe von Artillerieortungsradar in Kombination mit Geschütz- und Raketenartillerie bewerkstelligt. Für letzteres wird elektronische Kriegsführung und die Luftabwehr gegen feindliche Drohnen etc. eingesetzt.

Zunächst gelang es der Ukraine, sich auf die Präzision des Beschusses zu konzentrieren, um die Unterlegenheit bei der Anzahl der Artilleriegeschütze und der Munition wettzumachen. Dann schaffte es die Ukraine, den Vorstoß russischer Artillerie aufzuhalten, indem moderne westliche Mehrfachraketenwerfer (z. B. HIMARS) mit höchster Zielgenauigkeit und einer Reichweite von bis zu 85 Kilometern eingesetzt wurden. Zudem wurden russische Lagerstätten, Kommando- und Leitstellen im Hinterland angegriffen. Hierauf hat sich Russland mittlerweile eingestellt, indem größere Lager abgezogen und kleinere verstreut platziert wurden. Allerdings hat die Ukraine nicht genügend ballistische Raketen und Marschflugkörper geliefert bekommen, um den russischen rückwärtigen Raum erneut zu gefährden, wie das von Juni bis September 2022 der Fall war.

Jetzt, da die Vorkriegsvorräte an Artilleriemunition weitgehend aufgebraucht sind, verlegen sich beide Seiten aufs Improvisieren und setzen diverse Drohnen sowohl zur Aufklärung wie auch zu Angriffen ein. Drohnen sind jedoch kein Ersatz für klassische Artillerie, jedenfalls in Bezug auf Reichweite, Zuladungs- und Zerstörungskapazitäten. Hinzu kommt, dass es bei einer ausschließlichen Stützung auf Drohnen unmöglich ist, die Frontlinie geschlossen zu halten. Daher versuchen beide Seiten schnellstmöglich, sowohl die eigene Produktion zu erhöhen wie auch externe Quellen für Artilleriemunition zu erschließen. Ungeachtet des Niveaus der Kriegsführung zählen immer noch die Stückzahlen, und da ist Russland aktuell deutlich im Vorteil (siehe Grafik 2, S. 30).

Das Kriegsgeschehen zu Land hat eine Reihe von Dingen deutlich gemacht. Erstens dürften angesichts der neutralisierten Luftwaffe vier Komplexe von Fähigkeiten für den Erfolg auf dem Schlachtfeld bestimmend sein: Geschütz- und Raketenartillerie, Drohnen, elektronische Kriegführung/Aufklärung und Luftabwehr. Nur wenn diese Fähigkeiten richtig eingesetzt werden, können gepanzerte Verbände ohne ein Risiko hoher Verluste ins Feld geschickt werden. Zweitens ist eine »kontaktlose« Kriegsführung längst nicht mehr ein Privileg der Supermächte allein. Auch andere Länder sind in der Lage, dies kostengünstig und effizient zu bewerkstelligen. Drittens sind wegen des nun »transparenteren« (durch permanente Drohnenaufklärung) und »tödlicheren« Schlachtfeldes die Vorlagen aus der Kriegführung im Zweiten Weltkrieg nicht mehr relevant. Das bezieht sich auf ein Vorgehen, das auf Masse und taktische Überraschungen kombiniert mit Tempo setzt, um tiefgreifende Offensivoperationen zu unternehmen. Heute ist es so, dass jedwede Truppenkonzentration über Kompaniestärke hinaus mit dem Risiko behaftet ist, umgehend aufgespürt und zerstört zu werden. Auch hier muss sich die Kriegführung an neue Entwicklungen auf dem Schlachtfeld anpassen, sowohl in taktischer wie auch in operativer Hinsicht.

8. Vorübergehender Stillstand im Bodenkrieg

Wenn das Jahr 2022 durch einen Bewegungskrieg geprägt war, bei dem die Kontrolle über große Gebiete schnell wechselte, kann das Geschehen 2023 als Abnutzungskrieg zusammengefasst werden, bei dem die Positionskämpfe an den Ersten Weltkrieg erinnern. Das ist die Folge eines komplizierten Zusammenspiels von Technologien und Taktiken, die auf beiden Seiten vorhanden sind und eingesetzt werden.

Da sich die beiden Luftwaffen gegenseitig neutralisieren, hat sich der Krieg zu einem Wettstreit von Raketen plus Artillerie gewandelt, die von beiden Seiten zunehmend durch Drohnen verstärkt werden. Diese dienen der Nachrichtengewinnung und Aufklärung wie auch für Angriffsschläge. Die Verbreitung von Aufklärungs- und Angriffsdrohnen ermöglicht eine effiziente und kostengünstige »kontaktlose« Kriegführung. Das gilt wiederum für beide Seiten, wobei keine der beiden in der Lage war, bei Lagebeurteilung und Feuerkraft eine Dominanz herzustellen.

Der vor kurzem ausgewechselte ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschnyj hat diese Entwicklung in einem Interview mit dem »Economist« beschrieben. In einigen Fällen wirkt diese Entwicklung zugunsten der ukrainischen Streitkräfte, wie beim Kampf um Awdijiwka, das Russland nur unter sehr hohen Verlusten einnehmen konnte (vgl. Grafik 3, S. 30). In anderen Fällen – das hat die ukrainische Offensive im Süden gezeigt – wirkt diese Entwicklung gegen die Ukraine. Strategisch steht die Ukraine immer noch vor der Aufgabe, die besetzten Gebiete und die dort noch verbliebene Bevölkerung zu befreien. Daher muss sie neue Taktiken entwickeln, sich aneignen und einsetzen, um aus dem derzeitigen Stillstand herauszukommen.

Ausblick

Das gegenwärtige Gleichgewicht an der Front sollte nicht als fest gegebener Zustand betrachtet werden. Es ist vielmehr das Ergebnis einer vorübergehenden Kombination von Faktoren, die sich als Übergangsphänomene herausstellen könnten. Falls Russland es schafft, seine bemannte Luftwaffe frei einzusetzen, während gleichzeitig die ukrainischen Vorräte für die Luftabwehr zur Neige gehen, oder wenn Moskau bei den Drohnen und der Artillerie zu Land eine Überlegenheit herstellt, könnte sich der gegenwärtige Stillstand schnell zu einem für die Ukraine ungünstigen Bewegungskrieg kippen. Andererseits könnten mit Hilfe einer aktiven Verteidigungsstrategie für dieses Jahr sowie durch bessere Ausbildungsprogramme und erhöhte Munitionsproduktion und -lieferungen die Voraussetzungen für eine erneute Offensive der Ukraine im Jahr 2025 geschaffen werden.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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Analyse

Kein Ende des Ukrainekrieges?

Von Andreas Heinemann-Grüder
Die Ausgangslage der Ukraine zu Beginn des dritten Kriegsjahres seit Beginn der großangelegten russischen Invasion ist schwierig, aber nicht aussichtslos. Damit der Krieg sich nicht zu einer langwierigen dauerhaften Konfrontation entwickelt und ein ukrainischer Sieg ermöglicht wird, muss der Westen der Ukraine allerdings mehr strategische Ressourcen und Hochpräzisionswaffen liefern. So kann die Ukraine den russischen Nachschub, vor allem über die Krim, abschneiden, um aus dem bisherigen Artilleriekrieg auszubrechen, der für die Ukraine kaum zu gewinnen ist. Bei bröckelndem internationalen Rückhalt hingegen droht die Ukraine den Krieg zu verlieren, was in einen Verhandlungsfrieden um jeden Preis und erneuten Gebietsverlusten resultieren könnte – mit allen Konsequenzen.
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